Claudia am 07. Oktober 2009 —

Morgenlektüre – Morgengefühle

Kurz nach dem Aufstehen rubble ich mit so einem kratzigen Massagehandschuh über den ganzen Körper: das macht mich wach, fühlt sich gut an, lässt mich spüren, dass ich lebe, dass ich hier und jetzt nicht bloß reiner Gedanke, sondern wirklich DA bin.

Sitze ich dann wenig später mit dem frischen Kaffee vor dem Monitor, rufe ich den Browser auf und setze mich einer ähnlichen Massage aus – nur diesmal psychisch statt physisch. Auch die Gefühle wollen erwachen, es soll mich etwas erregen, innerlich bewegen, mich ärgern oder beglücken, mich fühlen lassen, dass ich Teil eines größeren Ganzen bin und nicht bloß frei schwebende Monade, die zufrieden ihren Kaffee schlürft.

So schaue ich also auf Rivva, wo die meist-verlinkten und getwitterten Artikel der letzten zwei Tage versammelt sind. Der kritische Abgesang auf Googles neue eierlegende Wollmilchsau „Wave“ auf SPIEGEL ONLINE (Das Netz hängt seine Nutzer ab) spricht mir spontan aus dem Herzen: Noch mehr und nun auch „in Echtzeit“ zu verfolgende, auf einem einzigen Bildschirm zusammen gefasste Kommunikationsströme könnte ich nicht verkraften! Auch noch zusehen, was die anderen eintippen (!), dazu die gesamte Vergangenheit der jeweiligen Kommunikation als nachlesbare History – wirklich toll, was da alles MÖGLICH ist, aber mir ist ja schon alles, was JETZT geht, viel zu viel. Und weil ich mich vom Tenor des Artikels in diesem Überfordertsein so schön bestätig fühle, lese ich auch noch drei Seiten Kommentare und ein auf den Artikel reagierendes Blogposting, das die deutsche „Innovationsphobie“ beklagt und den Nutzen gemeinsamer Bearbeitung derselben Dokumente hervor hebt. Mit Schrecken erinnere ich mich an die vielfältigen Versuche, das „kollaborative Schreiben“ zu etablieren und mache eine kulturpessimistische Anmerkung – und weiter gehts, zum nächsten Thema mit Erregungspotenzial.

Dämpfer für Gabriel und Nahles: SPD verpatzt den Neustart – Himmel nochmal, dieses „Niederschreiben“ der in der jetzigen Situation ganz normalen, ja sogar ANGESAGTEN Uneinigkeiten in der SPD kotzt mich richtig an! Wünscht sich SPON etwa jetzt Einigkeit und sozialistisch geschlossene 98%-Ergebnisse bei Abstimmungen? Das wäre doch geradezu gruslig. Hach‘ und dass unser „Wowi“ auf der Funktionärsebene der Partei nicht so richtig ankommt, macht ihn doch eher sympathisch – mir jedenfalls.

Als Nächstes beglückt mich eine echte „Balsam-für-die-Seele“-Info: BRIGITTE, die Mutter aller deutschen Frauenmagazine, verzichtet in Zukunft auf Hungerharken als Models!! Die „Frauenzeitschriftenrevolution“ war lange fällig, ich bin begeistert und beschließe, sie sofort zu abonnieren – obwohl ich schon Jahrzehnte keine Frauenmagazine mehr lese. Die erschütternden Details der bisherigen Praxis lese ich auf Media.de: Die Mode-Labels (Gucci, Prada Co.) lieferten den Redaktionen immer nur derart winzige Klamotten-Muster, dass niemand anders als die Größe-Null-Hungerharken da ‚rein passten. Jetzt kommen normale Frauen aufs Bild, denen man nicht erst die durch die Haut sichtbaren Knochen wegretouchieren muss (!) – und die Designer müssen Muster in Größe 38, 40 und – man glaubt es kaum – 42 liefern!

Nach weiteren fünf bis fünfzehn Themen, die ich noch kurz überfliege, nimmt das Gefühl sinnloser Zerstreuung überhand: Hey, was mache ich da eigentlich? Hat all das irgend etwas mit MIR zu tun bzw. mit dem Sinn, den ich diesem Mittwoch vielleicht geben könnte? Wenn solche Gedanken kommen, halte ich kurz inne und schaue, ob sich irgend eine innere Stimme meldet, die zu etwas Bestimmtem drängt. Und wenn nicht, gehe ich auf die Suche nach Anderen, die dieser Stimme gerne lauschen – heute ist es das Einschau-Blog meines Kreuzberger Nachbarn Götz.

Sein Beitrag „Entwirrung durch Arbeit“ beschreibt die Erfahrung der inneren Sammlung, wenn eine Tätigkeit uns ganz fordert: keine Zeit mehr für Hintergrundmonologe, kein Abschweifen und Grübeln – statt dessen der Flow und das gute Gefühl, über sich selbst hinaus zu wachsen, wenn man sich zu etwas überwindet, das einem nicht leicht fällt.

Was mir mal wieder zeigt, dass ich grade auf dem falschen Dampfer bin: nichts ist leichter als das Erregungs-Zapping solcher Morgenlektüre, sie bringt nicht Stärkung, sondern schwächt. Zum Glück muss ich nicht dauernd stark sein, kann mir das also ohne innere Verurteilung gönnen – aber wenns genug ist, ist’s genug. Danke Götz!

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Diskussion

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3 Kommentare zu „Morgenlektüre – Morgengefühle“.

  1. Danke auch Dir, Claudia! Was Du da beschreibst, ist die ständige Schwächung durch Ablenkung, der man solange nicht entgehen kann, wie man sich ihrer nicht bewusst ist. Die allermeisten merken es gar nicht – und doch ist sie womöglich DER Mechanismus, durch den die Menschheit sich versklavt.

    Dagegen anzukämpfen bringt aber auch nichts. Einfach beobachten und registrieren.

    Grüße,

    Götz

  2. Naja, Versklavung ist für so etwas ein etwas harscher Begriff – schließlich haben wir immer die Möglichkeit, uns dieser oder jener Ablenkung hinzugeben oder damit Schluss zu machen. Und ich genieße meine Morgenlektüre ja doch, TROTZ der zerstreuenden Wirkung. Danach braucht es eben eine Pause, eine Bemühung um die innere Sammlung, um irgend etwas zu beginnen – und meist gelingt das dann ja auch. :-)

  3. Mag sein. Vielleicht klingt „versklavt“ zu hart in den Ohren vieler. Man kann den Begriff auch einfach durch „aufs Abstellgleis begibt“ ersetzen. Das trifft es genauso.

    Interessant ist übrigens, dass derartige Beschäftigungen in dem, der ihnen folgt, die Illusion erwecken, „am Ball“ bzw. „am Puls der Zeit“ zu sein. Dabei ist das Gegenteil der Fall.

    Grüße!