Claudia am 15. November 2003 —

Mein Nachlass im PC

Dieser Text entstand im Rahmen eines von mir im November 2003 veranstalteten Online-Schreibkurses – da er sehr persönlich ist, übernehme ich ihn hier ins Digital Diary. Er basiert auf dem Gedankenspiel, dass ich plötzlich verstorben bin und nun jemand meinen PC sichtet. Weit in der Zukunft natürlich, was man beim Lesen bemerken wird.

„Der Tunnelblick verengt sich“ – der Dateiname im Ordner „Verschiedenes_sortieren“ springt mir ins Auge. Oh, wie wäre ich dankbar für eine gewisse Verengung, für mehr Konzentration, für irgend einen roten Faden, der mich durch dieses Chaos leitet. Claudia, was hast du uns da angetan! Ich fange beim Lesen immer mit dem „Vermischten“ an, deshalb jetzt auch der Blick ins „Verschiedene“ – aber verdammt noch mal, so wie der riesige Rest aussieht, ist das alles VERSCHIEDENES. Liebe Verschiedene, erscheine mir bitte im Traum und sag mir, was ich machen soll!

AnTKwegenVerlust.doc – hm, wer ist TK? Ah ja, die „technische Krankenkasse“ – das muss noch aus Zeiten stammen, als es noch das alte soziale Netz gab – kann man löschen, bin ja kein Historiker. Und was ist das alles? Das_Einfache_ist_nicht_einfach.doc, aus_bequemlichekeit_ins_nichts, die_sehnsucht_nach_dem_affenfelsen, die_büroklammer_aus_winword_kratzt_sich_am_kopf – was für Titel! Mir scheint, dass sind die Urschriften zu ihren Tagebuchartikeln, so ca. 2001/2002. Damals hab ich sie entdeckt: zufällig auf ihrer verzweigten Webwelt gelandet, mich festgelesen und dran geblieben. Nach zwei Jahren hab’ ich ihr dann einfach mal eine Mail geschickt, dass ich nach Berlin komme und ob wir uns nicht treffen könnten. Sie war amüsiert, sagte zu, hat mich aber vorgewarnt: in „real“ sei sie weit weniger geist- und druckreif als in ihren Texten. Es war der Beginn einer langen Freundschaft – und jetzt wühl ich in ihrem Nachlass, ich glaub es noch immer nicht recht!

Wie sie abgetreten ist, passte irgendwie zu ihr. Ihre letzten Texte handelten vom Immer-Gleichen, davon, dass es unter der Sonne letztlich nie etwas Neues gäbe, das sie ein viertes Mal Schlaghosen+Plateau-Sohlen-Mode nicht mehr sehen wolle, und dass sie manchmal Lust verspüre, ganz aus der Gattung Mensch auszutreten, angesichts dessen, was auf dem Planeten so los ist. Und dann – ich nehme mal an, es war aus einer Laune heraus, November-Stimmung oder so – hat sie das Angebot der BAFSA (Berliner Agentur fürs sozialverträgliche Ableben) angenommen! Ein schöner Zug, dass sie an mich gedacht und mir die 5000 World-Dollar Prämie hinterlassen hat – ist ja auch ganz schön Arbeit, die mir hier blüht. Und ich sehe noch lange keine Land!

„Das interaktive Altenheim“ – was ist denn das? Ach: sieben Seiten Projektskizze, wie ein Altenheim ans Netz anzuschließen wäre und die Bewohner so wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könnten. Gut gemeint, nie verwirklicht, vielleicht hat sie keine Finanzierung gefunden. Schade eigentlich. Aber so ging es mit den meisten ihrer Ideen: eingefallen, ein bisschen ausgesponnen, mit zwei drei Leuten darüber geredet – dann hörte man nichts mehr davon. Und einen Monat später kam sie mit der nächsten Idee, wieder genauso fasziniert wie von der letzten.

Das_Web_und_das_ich, die_Niedermacher, das_Netzlexikon – ach ja, das war ihr erstes Buch – und für lange Zeit ihr einziges. Über die Printmedien hat sie bestimmt zehn Jahre nur gelästert, wollte keine Schubladen mehr bedienen, schon gar nicht für so eine miese Bezahlung. Und dann erschien auf einmal „Was nicht im Diary stand – Geschichten und Mailgespräche aus den Schattenwelten“. Damit hat sie richtig Schotter gemacht, geschickt, geschickt! Und gleich noch den angesehenen Erotic-Story-Award der Orion-Stiftung abgesahnt, dotiert mit 15.000 Euro. Vorher fast nie ein Wort zum Thema Sex, allenfalls völlig jugendfreie Reden zur „Rehabilitation des Männlichen“ und ähnlicher Hirnstoff. Wie waren wir alle neugierig… und haben das Buch gekauft!

Hmmmm, irgendwo müssen eigentlich auch DIESE Originaltexte sein, fällt mir da ein! Vielleicht find ich ja was noch nicht Veröffentlichtes…. „Literat“ – ein Uralt-Ordner von 1993, blaublum.doc – hey, sie hat sogar gedichtet! Und was für ein Zeug – man höre sich das an:

Die blaue Blume

Die blaue Blume hol‘ ich dir gern,
den Drachen besieg‘ ich mit links.
Sterne vom Himmel so viele du magst,
ich lös‘ auch das Rätsel der Sphinx

Berge versetz‘ ich Dir jeden Tag drei,
auch Wunder sind kein Problem.
Medusa servier ich Dir auf dem Tablett
und Luftschlösser bau‘ ich aus Lehm.

Den heiligen Gral, den schaff ich dir her:
da kannst du dann Whisky draus trinken –
für mich will ich nichts als ab und zu
in Deinen Armen versinken.

Hm – irgendwie kommt mir dieses Gedicht nicht besonders weiblich vor! Wie ICH es wohl gefunden hätte, wenn mir eine Freundin sowas schickt? Na, Claudia war eben eine Macherin, konnte sich immer mal wieder darüber erregen, dass die Leute dazu neigen, im Jammern und Klagen stecken zu bleiben, anstatt die Ärmel aufzukrempeln. Von daher passt es zu ihr. Und was haben wir hier? 2malDEPRI.DOC:

2 mal depressiv

1.
Alleinstehend
hing sie total durch
setzte sich von allen ab
voller Angst, reingelegt zu werden.

2.
Von hier nach dort bewegt
aufgerafft und wieder hingelegt
Noch einmal gestanden
voller Elan – alles getan.
Schon bald nach der letzten Ermattung
kam die Feuerbestattung.

Naja, als Dichterin wird sie auch posthum nicht zu Ruhm gelangen! Ich glaub, diese Schublade mach ich besser wieder zu. Wie wär es denn mit „Schriftverkehr“ – hört sich irgendwie zweideutig an! Schau’n wir mal: KundenBriefeAngebote, org_docks, Steuer, Rechnungen – nein, wie langweilig. Damit sollen sich ihre Schwestern herum schlagen, ich hasse Behördenkram. Was gibt es denn sonst noch so? Schreibimpulse – KursA, KursC, Kurs D – ja, ich erinnere mich! 2003 hat sie angefangen, Schreibkurse zu geben. Erst ganz harmlos und allgemein angelegt: Persönliches Schreiben, Beruf und Berufung, der Kurs für Jahresendzeitmuffel, usw.. Aber bald hat sie sich mehr getraut: „Altern, Krankheit, Tod – wir schreiben es auf“, „Lass dich kaufen – Wege aus der Kultur des Kostenlosen, ein Workshop um Liebe, Arbeit und Geld“. Und dann ihr legendärer Kurs „Abgründe, von innen betrachtet – ein Schreib-Event für Süchtige und Sehnsüchtige“.- da war ich dabei, es war toll. Den Kurs hat sie dann jedes Jahr abgehalten, und jedes Mal war es anders, je nachdem, was für Leute kamen. Sie hatte halt so ein Faible für „Communities“ und hat die seltsamsten Typen miteinander „vernetzt“. Als Kind hatte sie dagegen Angst vor Gruppen, hat sie mir mal in einer stillen Stunde erzählt. Sich lieber mit 40 Fieber ins Bett gelegt, anstatt vor der versammelten Elternschaft im Weihnachtsmärchen aufzutreten. Und noch aufs mündliche Abi dankend verzichtet, obwohl sie sich da nur hätte verbessern können.

„Daten – Bilder“ – da schau ich doch gleich mal rein. Ihre Computergrafiken, Stimmungsfotos und Bild-Collagen hat sie so ab 2010 in einem Webshop auf ihrem Diary verkauft – lief gar nicht mal schlecht! Ah ja, das ist die „Serie Mecklenburg“ und hier die unzähligen Berlin-Bilder: Sonycenter, Friedrichshain, Mitte, Charlottenburg, Prenzlauer Berg – und „Diverse“ – was mag DA wohl drin sein? Wow! Ich glaub, die hat sie NICHT veröffentlicht. Waren wohl eher für private Zwecke – aber gut sah sie aus, auch noch um die 50. Bisschen gefotoshopt, na ja, wer macht das nicht… schade eigentlich, dass wir immer nur platonische Freunde waren!

„Das_schaerfste“ – Himmel, was für ein Ordnername. Und was ist DAS??? Nur EINE DATEI: An_den_Nachlassbereiniger.doc – ich glaub, ich spinne!

„Lieber Freund,

ich wusste, du würdest diesen Brief finden. Erstmal danke ich dir, dass du dir ernsthaft die Mühe machen willst, dieses Chaos zu ordnen. Selbst bin ich immer wieder an diesem Vorhaben gescheitert, vielleicht gelingt es dir ja besser. Falls du aber genauso ratlos bist wie ich, lösch doch einfach alles weg, was bloß organisatorisch-bürokratischer Krempel ist. Dann ordne den Rest in „Texte“ und „Bilder“ und stell es ins Netz. Alles! Schreib dazu, dass ich alle Rechte daran aufgebe und jeder sich nehmen kann, was er mag. Jeder darf kopieren, weiter geben, vermarkten, verändern, als eigenes Werk ausgeben – ich erkläre meine Werke zu „Freeware“. Schließlich hat mich das Netz seit 1996 ernährt, nun schenke ich alles zurück.
Begrenze den Zeitraum dieses Angebots, drei Monate sollten reichen. Was binnen dieser Zeit nicht „abgeholt“ wurde, ist es nicht wert, erhalten zu werden. Und dann lösche alles wieder – auch meine Domain claudia-klinger.de.

Machs gut! Sag allen einen schönen Gruß: Das Leben ist schön. Ich hatte alles, was ich je wollte – und deshalb hat es dann auch gereicht.

So far – Claudia Klinger”

Mein Gott, jetzt brauch ich aber doch ein Taschentuch….

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Ein Kommentar zu „Mein Nachlass im PC“.

  1. > Machs gut! Sag allen einen schönen Gruß: Das Leben ist schön. Ich hatte alles, was ich je wollte – und deshalb hat es dann auch gereicht.

    so ist das. obwohl ich natürlich meine blogs nicht gelöscht sehen möchte, die ja – siehe vorwort von montaigne – weniger darauf ausgerichtet sind, dem netz was zu erzählen als auch nach meinem ableben mit meinen kids sprechen zu können. oder frau wang (1) ;)