Claudia am 14. Juni 2002 —

Gifte und andere Sünden

Seit ein paar Tagen kämpft der arme Osterkaktus, der gerade noch einen starken Wachstumsschub hatte, ums Überleben. Etwa ein Drittel seiner Segmente hat er bereits abgeworfen. Sie faulen von innen heraus, werden schlaff und fallen ab.

Fast bin ich mir sicher, dass er vergiftet wurde. Das ayurvedische Chakra-Räucherstäbchen aus der Reihe der „Holy Smokes“, das ich leichtsinnig zwischen seine Wurzeln steckte, hat er offensichtlich nicht vertragen. Ob es eigentlich gut für Menschen ist, so etwas einzuatmen? „Von Kindern und Tieren fernhalten“, steht auf der Rückseite der Packung. Aber damit meinen sie doch hoffentlich die Brandgefahr – oder was ?

„NITROPHEN !“, stirnrunzelnd zeigt mein Lebensgefährte am Frühstückstisch auf das Stück Putenfleisch, das ich mir gerade aufs Brötchen legen will.
„Keine Sorge,“ sag‘ ich beruhigend, „ist ja nicht öko!“.

Wir müssen lachen, als uns das Absurde dieses Dialogs bewußt wird, aber so richtig lustig ist uns nicht zumute. Und ich fühle mich sogar ein bißchen schuldig: Selbstverständlich würde ich auch nitrophenbelastetes Putenfleisch verzehren, um den ökologischen Landbau zu unterstützen! Nicht wegen mir kauf‘ ich schließlich Freiland-Eier, sondern wegen der Hühner, die nicht in diesen Käfigen stehen sollen. Dass jetzt jedes Mal ein Bild von Körner-pickenden Hühnern gezeigt wird, wenn es um den Nitrophenskandal geht, ist sowieso eine Gemeinheit, eine Beleidigung dieser freundlichen Tiere, die nun wegen „menschlichem Versagen“ wieder zu zehntausenden geschlachtet werden müssen. Dass das so einfach möglich ist, zeigt, dass es keinen Unterschied macht, ob Tierschutz nun im Grundgesetz steht oder nicht. Man hätte doch mal abwarten können, ob sich nach zwei Wochen mit sauberem Futter die Belastung nicht von selbst erledigt (ich schmeiß den Kaktus ja auch nicht gleich in den Müll). Aber nein, in diesem Megasystem Landwirtschaft – ob öko oder nicht – gibt es kein menschliches Verhalten, keinen mittleren Weg, es ist und bleibt ein Elend!

Essen nach Datenlage

Was soll man tun? Gibt es das „gute Essen“, das gesunde, artgerechte, schadstoffarme tägliche Brot? Kann man es schaffen, sich „ökologisch korrekt“ zu ernähren, und dadurch mit dem eigenen Verhalten an der Gestaltung der Welt mitwirken? So als machtbewußter Verbraucher, wie ihn die „Agrarwende“ braucht?

Ich wünschte mir, man könnte! Wenn ich aber von mir ausgehe, klappt so ein „Essen nach Datenlage“ immer nur für kurze Zeit. Aus einem aktuellen Skandal leiten sich ja recht einfache Regeln ab, die man leicht ein paar Tage, Wochen oder Monate berücksichtigen kann. Im täglichen Normalfall aber herrschen Zielkonflikte und Unsicherheit. Zum Beispiel ist es unter Bio-Freunden offensichtlich zunehmend anerkannt, Gemüse und Obst aus Südamerika einzufliegen – Hauptsache biologischer Landbau! Unter „regional“ versteht man nicht mehr Brandenburg, wenn man in Berlin lebt, sondern Deutschland, wenn nicht gleich die EU. Klar, wir sehen ein: die Biobauern und Vermarkter wollen auch leben, die Zeit der idealistischen Selbstausbeutung ist vorbei. Zwanzig Prozent Bio braucht Mega-Strukturen und selber wollen wir endlich auch im Winter beim Gemüse die freie Auswahl haben, oder? Ach, aber dann tobt gleich wieder Prinz Charles durch die TV-Kanäle, dem auf allen Stationen seines Besuchs ein Essen einzig aus Nahrungsmitteln aus 30 Kilometern Umkreis gereicht werden muss. Etwas anderes ißt er einfach nicht. Ist es das, wofür man Monarchen braucht? Der König bleibt sauber, während das Volk in Sünde lebt?

Sünde? Ist es nicht eine viel größere Sünde, wie sich Europas Agrar-Mafia gegen die Erzeugnisse der Dritten Welt abschottet? Ist es nicht menschenverachtend, auf den besten Äckern der ärmsten Länder Futtermittel für hiesige Schlachtrinder anzupflanzen, anstatt unsere Märkte für dort produzierte Getreide, Gemüse und Obst zu öffnen? Leicht gesagt, wem es völlig egal ist, was aus den heimischen Bauern wird, hat damit sicher keine Probleme…

Genug. Schon dieser eine Aspekt ist einfach nicht widerspruchsfrei zu lösen, ganz zu schweigen von all den anderen Blickwinkeln, die in Sachen Ernährung berücksichtigt werden können, sollten, müßten…. und täglich ÄNDERT sich zudem die Datenlage. Nitrophen wurde nun auch in konventionellen Erzeugnissen festgestellt. Eigentlich sollte es mich grausen, aber DIESE Nachricht hör‘ ich mit Erleichterung. Wie abartig!

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