Claudia am 22. Januar 2001 —

Vom öffentlichen Gespräch, Politik & Moral

Das öffentliche Gespräch, die Debatte, die offene Auseinandersetzung um gesellschaftliche Angelegenheiten gilt zu Recht als unverzichtbar in einer Demokratie. Die Macht der Medien rührt von daher und hat sie zur fast übermächtigen 4.Gewalt gemacht. Als Bürger soll man sich informieren und engagieren – und nicht völlig im Privaten versacken, auf daß „die da oben“ es irgendwie richten mögen. Eigentlich alles klar, aber die Praxis verhält sich zur Lehre wie verdorbener Junk-Food zu einem Gourmet-Menü.

Die Top-Talk-Show der Republik „Sabine Christiansen“ greift Sonntag für Sonntag stellvertretend für’s Volk Themen auf, die zumindest die Medienwelt aufs Heftigste bewegen. Normalerweise schau ich das nicht an, Christiansen macht mich ärgerlich, schon wenn sie den ersten Satz sagt. Sie wirkt wie eine Art Lara Croft der alten Medienwelt: keine erkennbare Persönlichkeit, sondern eine Eliza der Fernseh-Moderation, dazu noch schlecht programmiert, redet sie doch immer an den falschen Stellen dazwischen.

Gestern hat es mich aber erwischt: Fahrlässig die Glotze nach dem Krimi laufen lassen, in die Küche gegangen und bei der Rückkehr gerate ich mitten in die Diskussion um „Joschka Fischer, Politk, Moral, Gewalt, 68er…“. Tja, das hab‘ ich mir dann bis zum bittren Ende ‚reingezogen, selber schuld! Es diskutierten Wolfgang Gerhardt (FDP), Antje Vollmer (Grüne), Michael Buback (Sohn des 1977 ermordeten Generalbundesanwaltes), Peter Struck (SPD), Heiner Geissler (CDU), und ein Professor Wolfsohn von der Bundeswehrhochschule. Ob Fischer zurücktreten solle oder nicht, wieviel Moral und Vorbildcharakter man von einem Politiker erwarten könne, ob einer, der mal eine falsche Einstellung hatte (=Fischer vor ’77) und sich mit Polizisten geprügelt hat, noch Außenminister werden dürfe, usw. usf. Die Rollen waren halbwegs klar verteilt: Struck und Vollmer verteidigten Fischer, Gerhard griff ihn an, Buback und Geissler vertraten mittlere Auffassungen und den Rechtsaussen gab ganz fundamentalistisch dieser Wolfsohn, der allen Ernstes von jedem Politiker einen moralisch einwandfreien Lebenslauf von der Wiege bis zur Bahre verlangte. (Wie, fragt man sich, sollte der denn Politiker werden? Und welchen Grund könnte er haben, so ungebrochen durchs Leben schreitend?).

Noch das kleinste Übel dieser Talk-Show, doch zum Erreichen der Ekelschwelle schon fast ausreichend, ist das gleichzeitige lautstarke und minutenlang andauernde Aufeinander-einreden dieser Spitzen der Gesellschaft. Eine beliebige Grundschulklasse ist dagegen ein Muster an Disziplin und Höflichkeit. Fehlt diesen Top-Leuten denn jede Kommunikationskompetenz? Nein, natürlich nicht, wer in einer solchen Runde höflich schweigt und den Anderen ausreden läßt, wird einfach ignoriert und kommt nicht mehr zu Wort. Also ist Non-Stop-Talking angesagt, so laut und lang wie möglich, dabei immer druckreif, versteht sich, man hat ja sein Geschäft gelernt!

In dieser Manier verhandelten sie also zum Beispiel das Thema Gewalt und Gewaltlosigkeit. Wolfsohn verglich Fischer mit den Rechtsradikalen: Auch diese könnten jetzt denken, sie müßten nur eines Tages „Entschuldigung!“ sagen, und könnten dann gemütlich Minister werden. Breiter Widerspruch, immerhin. Buback brachte ein Argument, das recht genau in Richtung meiner Zweifel am öffentlichen Gespräch schlechthin geht: Er glaube Fischer, der nachweislich seit 1977 zusammen mit Daniel Cohn-Bendit gegen den Weg der Gewalt eingetreten ist, daß er seinen vorherigen Irrtum heute bedauere. Allerdings MÜSSE sich ein Außenminister so äußern, und das relativiere die Bedeutung einer solchen Aussage und jeder Entschuldigung.

Und ich ergänze: Auch alle, die da um den Tisch saßen, MÜSSEN – jeder für sich und alle gemeinsam – Gewalt in jeder Form ablehnen, genauso, wie sie aufeinander einschreien „müssen“. Denn, das wurde auch explizit erwähnt, Gewaltverzicht zugunsten staatlicher Gewalt ist die Grundlage unseres Zusammenlebens. Kein Politiker kann sich heute erlauben, das in Frage zu stellen. Geissler, der nichts mehr zu verlieren hat, konnte gerade noch eine unterschiedliche Bewertung der gleichwohl abgelehnten Gewalt retten: Es sei schon etwas anderes, in Rudeln Obdachlose tot zu treten als sich am Rande einer Hausbesetzerdemo mit Polizisten zu prügeln. Zustimmung, Applaus – noch!

Im Rollback

Was mich so aufregt, ist diese bereitwillig vorgezeigte Moral an der Oberfläche. Vermeintlich handelt es sich um ein offenes Gespräch nach den Regeln intellektueller Redlichkeit. Tatsächlich aber reden alle das, was sie glauben, qua Amt sagen zu müssen bzw. zu dürfen, weil sie ansonsten schlicht fertig gemacht werden. Medial „geschlachtet“ von Leuten, die keineswegs im Herzen oder gar im realen Leben moralischer sind, sondern die „die öffentliche Meinung“ im Sinne ihrer Interessen einsetzen, koste es, was es wolle. (Es wurde gesagt, gerade seien Journalisten mit sehr viel Geld in der Tasche unterwegs, um weiteres Material gegen Fischer zu „finden“.)

Es war nicht immer so in diesem Land. Es gab z.B. mal tiefschürfende Diskussionen über Gewalt statt reiner Verlautbarungen des Wünschenswerten:

  • Ist Gewalt gegen Sachen genauso zu verurteilen, wie Gewalt gegen Personen?
  • Soll passiver Widerstand, z.B. sich auf Straßen oder Schienen setzen, genauso behandelt werden wie ein tätlicher Angriff mit Steinen und Molotow-Cocktails?
  • Ist ziviler Ungehorsam legitim, wenn alles Reden und Schreiben vergeblich bleibt?
  • Was ist mit „struktureller Gewalt“? Die Mieter ganzer Stadtviertel ‚rauszukündigen, weil man da großflächig Abriß & Neubau haben will, wie es für die Beton-SPD der 70ger und beginnenden 80ger typisch war: Ist das keine Gewalt? Was tut denn der Gerichtsvollzieher, wenn die Mieter einfach bleiben?

Heute herrscht eine Atmosphäre, in der etwa die Grünen, die sich um diese Diskussion verdient gemacht haben, dies nach dem Wunsch konservativer Meinungsführer als „Sünde“ empfinden sollen. Als wäre dieser Staat immer schon so liberal und locker-leger wie heute gewesen! Als hätte nicht jedes einzelne Recht, vom Kündigungsschutz für Wohnungen über die Gleichberechtigung der Geschlechter, den Schutz von Minderheiten, die Pressefreiheit, den Arbeitsschutz und letzlich das gesamte soziale Netz GEGEN die jeweils Herrschenden erkämpft werden müssen – und LEIDER ging das nicht immer nur mit friedlichen Mitteln. Veränderung ist manchmal wichtiger als Gewaltlosigkeit, wenn man die Werte Freiheit und (Chancen-)Gleichheit nicht gänzlich aufgeben will.

Zu anstrengend?

Vielleicht wollen wir das ja? Einen Grund für die aktuelle konservative Kulturrevolution (Bush hat’s geschafft und fängt jetzt mit dem gesellschaftlichen Rückbau an, die unsrigen üben noch…) sehe ich in der Sehnsucht nach Einfachheit und Übersichtlichkeit in der immer komplexer werdenden Welt. Schon dieser Diary-Beitrag ist sicher für manche eine Zumutung: Politisch, also langweilig. Wer mag sich schon in irgend einer Sache soweit kundig machen, um wirklich mitzureden? Und dann auch noch gleich kämpfen müssen, sich Anfeindungen aussetzen und streiten für irgend eine „allgemein wichtige“ Frage? Wer sowas kann, bzw. könnte, kann sehr wahrscheinlich mit sehr viel weniger Aufwand eine individuelle Lösung finden. Und damit entfällt meist auch die persönliche Betroffenheit als Grund des Engagements.

So verkrümeln sich die einen als glückliche Ignoranten in ihre Nischen und Individual-Lösungen, die anderen, die den beschleunigten Verhältnissen schutzlos ausgeliefert sind, leben zunehmend „aus dem Bauch“ und werden von einschlägigen Medien bis zum Anschlag mit Unterhaltung zugeschüttet: Sofortige Triebabfuhr, zumindest per Glotze. Wenn die Schraube sich dann weiter dreht, werden mehr Gefängnisse gebaut: Allein Kaliforniern hat mehr Knastplätze als ganz Deutschland, las ich neulich.

Man sieht, ungezügelter TV-Konsum zieht ganz schön herunter! Ich hör‘ jetzt besser auf und verabschiede mich bis Sonntag in meine aktuelle Daseins-Nische: Ein selbst organisierter PHP-Workshop, es wird bestimmt toll! Sich zusammen mit netten Menschen technischen Fragen zu widmen, ist ja so angenehm: da gibt es für jedes Problem eine Lösung. Erfolgserlebnisse sind garantiert – ganz anders, als im Leben.