Claudia am 30. Mai 2000 —

Vom Sterben und Töten

Das Orkantief Ginger hat im Schloßwald eine riesige Buche mit weit über einem Meter Stammumfang zum Einsturz gebracht: der Baum hatte sich kurz über dem Boden in zwei gleich dicke Stämme geteilt, eine Stelle, die der Fäulnis, den Insekten und allerlei Pilzen und Schmarotzerpflanzen optimale Ansatzpunkte bot. Trotzdem wurde der Baum groß und alt – bis Ginger kam und einen der beiden Stämme abbrechen ließ. Es macht mich traurig, vor allem, wenn ich mir vorzustellen versuche, wie sich die andere Hälfte jetzt „fühlt“.

Abgebrochener Baum

Was tun mit dem Baum? Bestes Buchenholz, vielleicht ein paar tausend Mark wert – aber wie sollte man dieses Ungetüm bewegen? Auch führt kein gerader Weg aus dem Wäldchen, auf dem entlang man den Stamm ziehen könnte. So wird wohl alles bleiben, wie es ist und der Urwaldeindruck sich verstärken.

Das kranke Huhn ist ebenfalls tot. Mein Lebensgefährte hat es am Samstag getötet, nachdem es sich tagelang kaum mehr vom Fleck gerührt hatte. Es war der Outlaw der Hühnergemeinde, das letzte in der Hackordnung. Wer glaubt, Hühner seien nette harmlose Tiere, der irrt.

Als der Hühnerstall kürzlich fertig war, überlegten hier alle, was für Hühner es denn sein sollten: Nur Eier-Leger oder solche, die auch als „Fleischhühner“ in Frage kommen? Die Frage entschied sich von selbst, da wir zehn Legehühner mit Hahn geschenkt bekamen. Die legen wie die Weltmeister – doch jetzt brütet eine extra zusätzlich angeschaffte Brüterin auf 15 Eiern. Die Kinder sollen das mal erleben, die kleinen Küken! Natürlich werden nicht alle 15 hier lange leben können, zumindest die Hähne nicht. Jemand wird sie töten müssen, denn Hähne vertragen sich nicht miteinander.

Ein warmblütiges Tier töten ist eine furchtbare Sache. Wenn es krank ist und man sieht, wie es leidet, ist es vielleicht etwas leichter, als wenn es nur zuviel ist oder man es essen will. Doch die Rechtfertigungen sind das eine – die Situation ist etwas ganz anderes. Du stehst vor diesem lebendigen Wesen und willst es vom Leben zum Tod bringen, es vom Mitwesen zur ‚Sache‘ machen, ihm eigenhändig das antun, wovor du am meisten Angst hast…

Ich habe mal zwei junge Katzen umgebracht, ein paar Tage alt. Sie waren „zuviel“ – doch hätte ich das nicht unbedingt zu meinem Problem machen müssen, das ist Tatsache. Ich wollte wissen, wie das Töten ist und ergriff die Gelegenheit (um sowas reißt sich ja niemand). Katzen mag ich von allen Tieren am liebsten. (Noch heute gruselt es mich vor der eigenen Tat!)

Als die Katzenmutter nicht da war, betrat ich den Stall und wählte zwei der vier Jungen aus. Ich spürte, daß meine Psyche und mein Körper sich anschickten, völlig unkontrollierbare und erschreckende Empfindungen zu produzieren – ich durfte nicht zögern, sondern mußte es SCHNELL tun, wenn ich es überhaupt packen wollte. Mit einem Knüppel betäubte ich sie, drehte ihnen dann mit den Händen den Hals um und brach ihnen so das Genick.

Das schreibt sich so locker hin. Ich bin sonst der Worte ganz gut mächtig, aber mir fallen keine ein, um die Gefühle zu beschreiben, die mich dabei überkamen. Als ich den ersten Schlag mit dem Knüppel geführt hatte, betrat ich einen anderen Seinszustand – einerseits agierte ich, andererseits stand ich neben mir, jenseits jeder Artikulationsfähigkeit, jenseits aller Gedanken. Die Katze war tatsächlich auf „Anhieb“ betäubt – doch als ich ihr den Hals umdrehte, wehrte sich zu meinem Entsetzen der kleine Körper. Ich hatte nicht geahnt, dass es „ein Leben jenseits des Bewußtseins“ gibt, das sich mit aller Kraft gegen den Tod zur Wehr setzt. Und ich durfte dem Entsetzen KEINE SEKUNDE NACHGEBEN sondern mußte es ohne jedes Innehalten augenblicklich zu Ende bringen.

Zum Glück hab‘ ich das hinbekommen – aber es war, als würde ich selbst dabei sterben. Noch jetzt wird mir ganz anders, wenn ich mich erinnere. Mein Körper hatte offenbar die maximal mögliche Adrenalindosis ausgeschüttet – ich war in Schweiß gebadet, innerlich völlig „leer“, unfähig, mich noch zu rühren, ein Gefühl, als wäre die Welt stehengeblieben. War sie ja auch, für die Katzen.

Seither weiß ich, was das „sterben lernen“ in verschiedenen Übungswegen, z.B. im Yoga, eigentlich meint: zu Lebzeiten nicht nur den psychischen Verlust von allem, woran man als Mensch hängt, vorweg zu nehmen (zu „üben“) – sondern auch den physischen Körper dazu zu bringen, sich dem anzuschließen, um in völliger Einheit von Psyche, Körper und Geist in Hingabe und Gelassenheit abtreten zu können, wenn es soweit ist.

Ich fände es richtig, wenn jeder, der ein Steak genießt, einmal im Leben eine Kuh schlachten müßte. Wahrscheinlich würde ich darauf verzichten – aber nach einigen fleischlosen Monaten würde ich ein Huhn töten.

Zwei Tage später hat übrigens ein Hund die anderen beiden Katzenjungen gefressen. Meine Einmischung, vorgeblich zur Wahrung des ökologischen Gleichgewichts, war völlig überflüssig gewesen.

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