Claudia am 27. Mai 2000 —

Der dunkle Anzug

Meine kleine Hetzrede von gestern hat so manchen bewegt: Die „Herren mit den grauen Seelen in den grauen Anzügen“ provozierten Widerspruch: Nicht etwa wegen der Seelen, sondern wegen des Anzugs. Wie ich nur so pauschal urteilen könne, es gebe doch immerhin Männer, die ihr Arbeitsleben nachweislich in Jeans & Jogging-Anzug verbrächten! Und schließlich hätten heute zumindest bei einigen Internet-StartUps Frauen das Sagen, die im „kleinen Schwarzen“ herumlaufen. Ob das besser sei? Weiß ich nicht, müßte ich sehen. Jede „Uniform“ finde ich seltsam, vor allem, wenn sie sich so lange hält, wie der typische dunkle Anzug des Businessman.

Dieser Anzug geht auf den berühmten Dandy „Beau Brummel“ zurück, der Anfang des 19. Jahrhunderts in den Londoner Clubs mit der neuen SCHLICHTEN dunklen Kluft Furore machte. Vorher hatten sich Männer nämlich als bunte Paradiesvögel gekleidet, mit schillernden Stoffen, Kniehosen, Troddeln und anderen auffälligen Verzierungen – inklusive Perücke und Schönheitspflästerchen! Brummel hat die Revolution der männlichen Kleiderordnung angeführt: SCHLICHT und EINFARBIG war jetzt angesagt.

Beau Brummel

George „Beau“ Brummel, one-time friend of the Prince Regent (called „Prinny“ for short, but not to his face), did more than anyone to change men’s fashions. His taste was considered to be exquisite. He snubbed his nose at the coloured silks and elaborate trimmings of the 18th century and made dark coats and cleanliness de rigueur. (Quelle: www.regencygent.com)

Als kleinen Trost über soviel Verlust an Sinnlichkeit hat er gleich die Krawatte mit erfunden, allerdings nicht in heutiger Form, sondern in Gestalt eines täglich anders und besonders SCHWIERIG zu bindenden Halstuches – die halbe Welt versuchte, ihn zu kopieren – aber er war einfach BESSER. Und die Upper Class konnte in der neuen Kluft dem aufkommenden Industriezeitalter beruhigt ins kalte Auge sehen.

Das ist nun schon ein paar Tage her. Nix gegen Brummel, zu seiner Zeit war er gewiß ein Bringer. Aber daß im Jahr 2000 noch immer das gut geschneiderte, aber optisch karge „Gentleman-Outfit“ eines Joschka Fischer als das Non-Plus-Ultra verantwortlicher Männlichkeit angesehen wird, ist doch komisch! Wir sind doch mitten im „Infozeitalter“, RIESIGE UMWÄLZUNGEN allüberall, das frei wählende, sich selbst als Projekt kreierende INDIVIDUUM ist die Vorgabe, von der mensch heutzutage ausgehen soll – oder doch nicht? Man schaue nur in eine Bank, eine Vorstandsitzung, eine Tagung des Unternehmerverbands: grau in grau und schwarz hocken sie nebeneinander und erinnern an die „Zeitdiebe“ aus Michael Endes „Momo“!

Was bedeutet das? Das, was Uniformen schon immer bedeutet haben: Unterwerfung des Individuums unter eine Sache bzw. Funktion, eine symbolische, aber auch körperlich fühlbare Einschränkung, die von außen kommt. Der Mann soll zielgerichtet seine hochwichtigen Aufgaben im Auge behalten und weder Geist noch Emotionen an seine Klamotten verschwenden. Meist hat er das so intus, daß es auch beibehalten wird, wenn er aus den „Aufgaben“ herausfällt – dann droht die vollständige ästhetisch-sinnliche Verwahrlosung im Jogging-Anzug oder ähnlichen No-Outfits.

Und die Jungen? Die Mens-Health- und Fit-for-fun-Generation? Ja, da ist Fortschritt, da gibt es Banker, die zum dunklen Anzug den Ohrring oder das Piercing in der Augenbraue tragen, geil! Leider begreifen jüngere Männer den eigenen Körper für mein Empfinden oft zu sehr als Projekt und builden sich einen Body, der evtl. gar nicht zu ihnen paßt. Wieder ist es nicht die individuelle Lust, die Freude am Styling, sich-verwandeln, spielerisch inszenieren – sondern mit aller Power werden Muskeln aufgebaut und „definiert“ – das ergibt dieses typische Orang-Utan-Übergewicht am Oberkörper, von dem Männer offenbar seit Batman & Superman träumen. Und wenn’s die Arbeit gebietet, wird das natürlich in den dunklen Anzug gezwängt….

Was ist mit den Frauen? Auch ihnen wird verstärkt vorgeschrieben, wie eine Büro-kompatible Kluft auszusehen hat, wenn sie aufsteigen wollen. Doch nie gerät das zur Männer-typischen Eintönigkeit – warum nicht? Ich vermute, weil Frauen in verantwortlicher Arbeit von vornherein sach-orientierter sind, rationaler und konsequenter, es bedarf keiner „symbolischen Unterwerfung“ durch die Kleiderordnung. Allerdings NUR, wenn sie selbst sich mit der Aufgabe identifizieren, sie zur „eigenen Sache“ machen können – wo das nicht funktioniert, hilft auch keine Uniform. Frauen fühlen sehr viel weniger den inneren Zwang, den Normen irgend einer PeerGroup zu entsprechen und entziehen sich gnadenlos, wenn ihr inneres Engagement erlischt.

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