Claudia am 25. April 2000 —

Glück allein

Im Beitrag Vom Plaudern der Bilder hatte ich gegen die Texte angeführt, daß selbst Gespräche von Angesicht zu Angesicht oft darauf hinauslaufen, zwanghaft Begriffe zu definieren, um eine Gemeinsamkeit im Verstehen herzustellen, die doch nie erreichbar ist. Wie zur Bestätigung kam ein – übrigens wunderschön formulierter – Leserbrief von Iris, indem sie zum Wort „Selbstausdruck“ schreibt:

„…führt der ausdruck des selbst als einem singulären ereignis in seiner zwanghaftigkeit ein solches zu sein nicht wieder zur einer inszenierung, etwas stilisiertem – zu etwas das am wirklichen vorbeigeht? ist ein innerer drang in uns, zu inszenieren, zu stilisieren? ich kenne den drang, wenn ich mit klopfendem herzen und zitternden fingern mich hinsetze und irgendetwas schreiben muss, das handelt aber nur bedingt von mir, ich drücke mich nicht aus, etwas drückt sich aus durch mich, ich bin nur ein instrument, durch das es hindurchfliesst.“

Offensichtlich WIDERSPRICHT Iris jemandem – sei es mir, bzw. meinem Text vom 21.4., oder dem Zitat von Govinda. Dabei sehe ich keinen Widerspruch: Das Selbst ist gerade NICHT das Ich, das nach Inszenierungen lechzt, um sich – immer erfolglos – seiner selbst zu vergewissern. Selbstausdruck ist ein hingegebenes Hören auf das, was „von selbst“ kommt und sich schreiben will, genau DAS, was auch Iris bechreibt und Govinda sagt.

Ohne Zweifel ist die nicht-literarische Textwelt vollständig vom DISKURS verseucht: Rede und Gegenrede, Spruch und Widerspruch, These, Antithese, Synthese – usw. usf.. Selbst dort, wo gar kein Gegensatz ist, muß einer hineininterpretiert werden, um die ‚Lizenz zum Schreiben‘ zu verspüren. Einem Bild dagegen kann man nicht widersprechen, genauso wenig übrigens, wie den Programmen – vielleicht ist das der Grund für ihre aktuelle Dominanz?

Schon sehr lange bin ich der Diskurse müde, aller Diskussionen überdrüssig. „Andere Meinungen“ nehme ich absichtlich nur noch als fremden Blick in die Welt wahr, nicht als etwas, das es zu widerlegen gilt im Ringen um die WAHRHEIT. Was ist denn schon Wahrheit? „Heute scheint die Sonne“ – würde das der Maulwurf auch so sagen? Oder die Flechte auf dem Grund der Tiefsee? Ich brauche keine Wahrheit zu bemühen, um einen Standpunkt im Kampf aller gegen alle zu rechtfertigen. Alles was lebt, lebt vom Sterben, zumindest von der Unterdrückung anderer und je mehr Menschen den Planeten bevölkern, desto schlimmer wird es. Über DIESE Wahrheit brauche ich schon garnicht streiten, denn kein Argument wird sie mir nehmen können, leider!

An den vier freien Tagen über Ostern war ich ungewöhnlich viel mit anderen Menschen zusammen und gerade deshalb genieße ich es jetzt wieder sehr, mit dem Monitor „für mich“ zu sein. Mein Gott, wenn ich immer wieder diese Soziologen, Psychologen, Philosophen oder andere Meinungsmacher lese, die sich darüber ereifern, daß der Mensch vor dem Computer sozial vereinsamt, denke ich: Man sollte ihnen mal das Gerät für ein paar Wochen entziehen, die Flucht in die Texte verunmöglichen, mal sehen, was sie dann sagen!

Nichts gegen die konkreten Mitmenschen, ich treffe normalerweise nur Leute, die ich mag! Was mich stresst, ist das Verhalten in Gruppen, praktisch jede Gruppe nervt, weil alle beteiligten Individuen heftig um den Platz an der Sonne, um Aufmerksamkeit, Macht und Einfluß, Ruhm und Ehre streiten, mehr oder weniger brachial. Ich kenne nur zwei Ausnahmen: Arbeitsgruppen, wenn die aktuelle Aufgabe die Leute an ihre Grenzen führt und über sie hinaus – dann tritt gelegentlich ein luzides und sensibles miteinander-Umgehen auf, für Konkurrenzkämpfe ist keine Zeit und keine Kraft mehr vorhanden, alle agieren wie Tänzer in einem vollkommen Ensemble, jeder gibt sein Bestes für die Sache. Das „Dritte“ befreit für kurze Zeit vom Psychismus, ein Geschäft, das in therapeutisch ausgerichteten Gruppen vom Therapeuten verrichtet wird. Hier versetzt der Rahmen – oft auch „schützender Raum“ genannt – die Teilnehmer in die Lage, die Rüstung ablegen, das Visier herunterklappen zu können. Zuvorderst mit der Regel: Kritisieren und Argumentieren verboten, jeder spricht von sich.

Im SPIEGEL konnte ich gerade lesen, bald werde uns die Wissenschaft mit erheblicher Lebensverlängerung beglücken, ja, eine Vervierfachung auf 360 Jahre sei im Blick! HAAAAA, wenn ich mir das mal vorstelle: 360 Jahre Spiegel-Headlines! 360 Jahre Hauen & Stechen, 360 Jahre Skandale und Entlarvungen, 360 Jahre RTL2….

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