Claudia am 21. April 2000 —

Vom Plaudern der Bilder

Warum noch schreiben? Darüber denke ich oft nach, wenn ich den Impuls spüre, irgend etwas über einen Text ausdrücken zu wollen. Meist ist dieser Impuls ein Gefühl, ein diffuser Eindruck, eine Gemütsregung, die erst durch die Überlegung „Wie schreib ich das jetzt?“ eine klare Gestalt bekommt. Aber ist das Beschriebene überhaupt noch das, was ich eigentlich mittteilen wollte? Ja, wenn es sich um blosse Tatsachen handelt: heute morgen hat es geregnet. Ja, wenn es um Meinungen geht: Ich finde Merkel besser als Kohl. Wie interessant!

Was will ich, wenn ich jenseits von Zwecken den Schreibimpuls spüre? Ich möchte mein Inneres, mein „für-mich-sein“ mit anderen teilen, auch wenn das, wie der Verstand leicht ermittelt, niemals ganz möglich ist. Allenfalls eine Anmutung erreicht den anderen, man setzt einen Reiz, doch die Reaktion ist nicht zu „programmieren“, jeder versteht die Texte von den eigenen Denk- und Gefühlsschubladen her. Wer hat nicht schon Diskussionen erlebt, die immer wieder darauf hinauslaufen, daß man letztlich Begriffe definiert – im sinnlosen Bemühen, eine verläßliche Gemeinsamkeit festzuklopfen, indem man Sprache so scharf zu machen versucht wie die Mathematik.

Doch es funktioniert nicht. Man braucht nur an die „großen Worte“ denken: Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit, Gleichheit. Nie werden Menschen hier einen Konsens erreichen. Die Tatsache, daß wir uns leicht darüber einigen, was ein Tisch und was ein Monitor ist, läßt das leicht vergessen. Doch das Reden & Schreiben über Geräte, über Fakten und Pläne, das heute für viele den Alltag in der Info-Gesellschaft ausmacht, berührt uns eigentlich nicht. Wie sollen wir also noch kommunizieren, was uns berührt, wenn die Texte bei aller Geschwätzigkeit verstummen?

Literatur? Ja. Im Prinzip funktioniert es hier noch. Von einem literarischen Text kann man verschlungen werden, ein Gedicht kann berühren. Gerade, weil hier nicht das Kalkül auf die Vereinahmung des Lesers zugunsten eines vermeintlich „objektiven Allgemeinen“ versucht wird, sondern der Selbstausdruck des Autors im Mittelpunkt steht. Ein guter Autor hat sich vom Gedanken verabschiedet, er könne die Reaktionen des Lesers „programmieren“, er schreibt, weil er muß.

Unsere wahre Natur

Der vollkommenste individuelle Selbstausdruck ist die objektivste Beschreibung der Welt. Der größte Künstler ist derjenige, der auszudrücken vermag, was von jedem Menschen empfunden wird. Und wie bringt er dies zustande? Dadurch, daß der SUBJEKTIVER ist als andere. Je getreuer er sich SELBST zum Ausdruck bringt, desto näher kommt er den anderen, denn unsere wahre Natur ist nicht unser eingebildetes beschränktes „Ich“. Unsere wahre Natur ist so weit und allumfassend und zugleich so unfaßbar wie der Weltenraum. Sie ist sunyata – Leere – im tiefsten Sinn.

– Lama Anagarika Govinda

Im Web kann heute jeder literarische Texte veröffentlichen und es geschieht auch massenhaft. Überall stehen sie herum, gute und schlechte, die Linklisten zur „Literatur im Netz“ sind lange schon unübersichtlich geworden und nutzen Datenbanken. Aber: Wer liest das alles? Wenn ich mal von mir ausgehe, dann sind es nur wenige. Zwar bin ich bereit, längere Texte über Dinge zu lesen, die ich brauche – aber Literatur? Da schieben sich komischerweise schon nach einer halben Minute die laufenden Telefongebühren ins Gedächtnis, an die ich bei der ARBEIT gar nicht mehr denke. Woran liegt das? Gönne ich es mir nicht? Oder liegt es am Text als solchem, der ein anderes Sich-Einlassen erfordert, als – ja was? – Bilder?

Als ich 1996 meine ersten Webseiten baute, hatte ich vor, kurze Texte collage-artig mit Bildern zu verbinden. Natürlich sollte das Bild mit dem Text mehr zu tun haben, als bloß optische Auflockerung zu bieten. Ich merkte schnell, daß das ungeheuer aufwendig ist und meine Ideen mein Können bei weitem überschritten – trotz der vielen Features in den Bildbearbeitungsprogrammen. Also wurde ich nolens volens eine „textlastige“ Webberin, wenn ich auch immer darauf achte, daß die Umgebung, das Design, zumindest eine gewisse Stimmung vermittelt.

So geht es offenbar den meisten: wir sind in die Gutenberg-Galaxis konditioniert und stehen den Bildern hilflos gegenüber. Eine Hilflosigkeit, die zum Beispiel das Medium Fernsehen weidlich ausnutzt, indem es den Betrachter mit schnellen Schnitten und heftigsten optischen Reizen zuschüttet, so daß man sich emotional regelrecht ausgesaugt fühlt, ohne recht zu wissen, was eigentlich geschieht.

Die allseits zunehmende Text-Müdigkeit in den Netzen könnte die Chance bieten, eine Grammatik und Semantik der Bilder zu erlernen. Es wird nämlich noch einige Zeit vergehen, bevor die Bandbreiten das „richtige“ Web-TV ermöglichen, Zeit, die genutzt weden kann, um eine Webkultur der Bilder zu entwickeln. Schon jetzt ist es ja z.B. nicht mehr möglich, den Web-Surfer zum passiven Betrachter zu machen und „an die Hand zu nehmen“, ihm die Macht der WAHL per Mausklick wieder zu entziehen. Anbieter, die darauf spekulieren und sich mit Guided Tours durch allerlei Commerce-Seiten als „innovativer StartUp“ gerieren, leben nur von der netzfernen Ahnungslosigkeit ihrer Geldgeber.

Wir könnten lernen, in Bildern zu kommunizieren, zu philosophieren, Bedeutung in Pixel zu gießen, um uns gegenseitig zu berühren, wie es mit reinen Texten kaum mehr geht. Und sicher ist dabei der erste Schritt, die Texte nicht gleich aufzugeben, sondern einzubeziehen. Bilder, die mit Texten plaudern – und umgekehrt. Wie etwa in Mein Schreibtisch, das Schneefeld – von Dietmar Kamper, grafisch in Szene gesetzt von Gagarin2 und Matzenbacher, den ambitionierten Grafikern des CyberZines Digitab.

Diesem Blog per E-Mail folgen…