Claudia am 10. April 2000 —

Drei Tage offline

Was für ein Gefühl, die Feder des Füllhalters über ein Papier zu führen und Spuren zu hinterlassen! Seltsam verkrüppelt die Schrift, aus der Übung die Hand, deren Zeigefinger nur noch den Mausklick kennt, deren Fingerkuppen viel lieber gegen harte Tasten hacken, anstatt den eleganten Lamy in diskziplinierten Schwüngen durch ein Nichts zu manövrieren.

Papier, mein Gott, echtes Papier, das einmal beschrieben unveränderbar bleibt und dadurch seine Unvollkommenheit zeigt. Allenfalls vernichtbar, verbrennbar, unübersehbar vergänglich. Ihre Hand fühlt sich steif an, es ist so kalt, daß sie schon nach einer Viertelstunde kapituliert. Trotz des wolkenlosen Tages, der grellen Morgensonne, den optimistisch zwitschernden Vögeln und der ganzen Idylle, die ein Mecklenburger Herrenhaus-Park vermitteln kann, ist es unter freiem Himmel nicht mehr auszuhalten. Widerstrebend steht sie vom Gartentisch auf, kippt den Rest des kalt gewordenen Kaffees auf die Wiese, drückt die Zigarette in das ökologisch korrekte Kippensammelglas und steigt durch das ebenerdig gelegene Küchenfenster ins Haus. Es ist nicht zu umgehen, dem Gerät – zumindest räumlich – wieder näher zu treten.

Im Zimmer angekommen, wählt sie den zweiten Tisch, der gewöhnlich nur als Ablage für unabweisbare Papiere dient: Rechnungen, Behördenschreiben und ein paar Arbeitsunterlagen, mit höherer Macht per Post oder Fax in ihre Welt getreten, die sie doch gegen Papiereingänge so weit als möglich abgeschottet hat. Papier ist Körperverletzung, es häuft sich an und dominiert binnen weniger Tage jede freie Stelle, wenn man ihm nicht in aller Entschlossenheit entgegentritt und es ohne Zögern ins Recycling weiterleitet. Es okkupiert den Geist, denn es müssen Angaben zum Verbleib gespeichert und Ordnungssysteme regelmäßig aktualisiert werden. Bei alledem verstaubt es schnell, so daß jede Suchaktion schon bald den Geruchssinn beleidigt, die Augen tränen läßt und Putz- und Abstaubarbeiten nahelegt – ein Elend gebiert das Andere…

Da ihre Papiervermeidungsstragtegien erfolgreich sind, blockiert nur noch ein kleiner Stapel den zweiten Tisch, der schnell beiseite geschoben ist. Platz genug, um die antiquierte Position des Handschreibers einzunehmen. Sie tut es und genießt unverhofft den freien Platz vor sich. Es fehlt das Gegenüber, das alle Blicke auf sich zieht, denn das Gerät steht jetzt über Eck, nur von der Seite zu sehen. Dunkel der Monitor, eine auffällige Stille füllt das Zimmer ohne das tiefe Brummen und Blasen, das normalerweise von früh bis spät das sanfte Zischen der Heizung und den noch leiseren Ton der nicht ausschaltbaren Lüftung im Bad übertönt.

Es ist der dritte Tag fern vom Gerät, und die Welt beginnt, sich aus der Enge des Nadelöhrs zu lösen, durch das sie sich gewöhnlich in ihre Wahrnehmung quetscht. Es könnte der Beginn von etwas ganz Anderem sein, doch sie weiß, daß es gleichzeitig der letzte Tag ist. Sie kann die Leine in die Länge ziehen, jedoch nicht durchtrennen. Welch‘ lächerliche Geste, mit der Hand auf richtigem Papier den Widerstand zu proben, ganz wie ein Kind sich die Augen zuhält, um vom Monster nicht gesehen zu werden!

Monster? Widerstand? Mit Verwunderung beobachtet sie die eigentümliche Stimmung, die von ihr Besitz ergreift, je länger sie sich dem Einschaltknopf verweigert. Immerhin ist es die Machtmaschine, um die es hier geht. Sie kennt das Gefühl des Amputiertseins, wenn sie fehlt, den mangelnden Zugriff auf einen großen Teils des Gedächtnisses und das Fehlen fast aller Aktionsmöglichkeiten. Sie kennt die Befriedigung, wenn das Gerät hochfährt, die Netzwerkverbindung hergestellt ist, wenn die Welt der Möglichkeiten ihr zu Füßen liegt und vermeintlich geduldig auf ihre „Eingaben“ wartet.

Eingaben? Waren nicht „Eingaben“ das einzige Mittel, dem Staatsratsvorsitzenden der ehemaligen DDR mit einem Anliegen zu kommen? Mein Gott, was für ketzerische Gedanken! Sie schaudert. Was hier auf einmal als eine neue Stimmung an die Oberfläche tritt, betrifft die Grundpfeiler ihrer Existenz, die Symbiose mit dem Alles-ist-möglich-Gerät. Es ist ihr Tor zur Welt, zur Arbeit, zum Spiel, zu unzähligen Menschen, die – voreinander geschützt durch das Interface zwischen den Gesichtern – zusammenwirken, um das Mögliche wirklich zu machen. Nicht zuletzt ist es der Goldesel, Produktionsmittel für ihr bequemes Leben, das sie in ein entlegenes Schloß in Mecklenburg versetzt hat. Wo ihr Blick ungehindert über Wiesen und Bäume streifen kann, hinaus ins leere Land, in dem nur noch ein paar Übrig-gebliebene ihre großen Landmaschinen auf- und abfahren, Gülle verspritzen und nach Subventionen verlangen, anstatt zivilisiert in die Monitore zu schauen.

Sie beschließt, mit dem Ich-Sagen aufzuhören. Wie wäre denn ernsthaft ein ‚Ich‘ zu behaupten, angeschlossen ans Netz der Möglichkeiten, doch ohne die eine, auf die es ankäme: den hereinkommenden Anweisungen und Vorschlägen zu entkommen? Wählen, ja, wählen geht, wählen ist Pflicht, ist hochbezahlte Kunst. Sie wählt, welche Mail sie beantwortet, welcher Idee sie Entfaltung gönnt, zu wem sie „ja“ oder „nein“ oder „später mehr“ sagt. Sie kann die Programme wählen, mit denen sie die Texte und Bilder entstehen läßt, die an Stelle der Welt getreten sind. Sie ist ein kundiges und erfahrenes interaktives Element, immer bereit, die Zeit zwischen zwei Mausklicks zu verkürzen, noch ein paar Entscheidungen mehr in den Tag zu pressen, noch ein paar neue Möglichkeiten wahrzunehmen und wirklich werden zu lassen, indem sie in den Netzen neue Knoten knüpft. Was gäbe es auch sonst zu tun?

Während nun schon etwas flüssiger der Federhalter über das Papier gleitet, denkt sie daran, wie sie schon bald diesen Text in die Tasten tippen wird. Tippen muß, denn was soll ein Text auf Papier? Papier ist „draußen“ und alles Draußen ist Vorstufe, Stoff, Material, allenfalls Ideengeber für das Digi-Tal, in dem die Dinge zum eigentlichen SEIN gelangen: unendlich kopierbar, allseits benutzbar, weder wachsend noch verstaubend, potentiell unvergänglich.

Sie spürt ihre Traurigkeit und versucht, weder davor zurückzuschrecken, noch ein Aufhebens darum zu machen. Gefühle sind vergänglich. Draußen tschilpt ein Vogel, drei kurze Töne hintereinander. Hat nicht gestern ihr Lebensgefährte zwei CDs mit Vogelstimmen gekauft? Ob sie mal eben das Gerät einschaltet, um nachzusehen, welcher Vogel da singt?

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