Claudia am 03. April 2000 —

Auf dem Affenfelsen

Sonntagmorgen in der Sauna. „Karibik-Insel“ heißt der wunderbare Ort, der mich für einen Spottpreis von 18 Mark binnen einer halben Stunde in eine andere Daseinsweise katapultiert. Mehrere Saunen, ein Dampfbad, ein Hotwirl-Pool, in der Mitte ein Schwimmbecken. Der große Raum auf mehreren Ebenen bietet freien Blick nach draußen, ja, ich kann – eingehüllt in nicht mehr als ein Handtuch – draußen herumlaufen, die frische Luft genießen und mich wundern, daß ich nicht friere. Schon nach dem ersten Saunagang und dem Abtauchen ins eiskalte Tauchbecken kommt ein Wohlgefühl auf, daß so viel stärker ist, als alles, was mir im computerisierten Alltag zustoßen kann, daß es mir zu denken gibt.

Denken? Später! Es ist gerade das Angenehme an den hart kontrastierten Sinneswahrnehmungen, daß sie vom Denken entlasten. Der Urlaub findet im Kopf statt, allerdings kann es der Kopf alleine dahin nicht bringen. Ich wage mich in den Schneeraum mit seinen -18 Grad, lasse mich im Pool auf der Wasserorberfläche treiben, dann wieder die 75-Grad-Sauna, zusammen mit etwa 15 Männern und Frauen: das Glück des Affenfelsens. Völlig entspannt sitzen dicke und dünne, trainierte und schwabblige, alte und junge Menschen auf den warmen Bänken, wollen nichts und fürchten nichts, nicht einmal die Blicke des Anderen.

Wieder einmal wird mir klar: es gibt kein Glück jenseits des Körpers. Kein Erfolg, kein Kontostand, kein „Funktionieren“, und am allerwenigsten „Ruhm & Ehre“ bringen auch nur ein Fitzelchen des Wohlgefühls, daß mir der Affenfelsen schenkt. Wie oft muß ich das eigentlich noch feststellen, bevor ich endlich daraus Konsequenzen ziehe? Warum reibe ich mich immer noch und immer wieder derart auf? Warum arbeite ich, bis mir die Augen tränen und der Rücken vom vielen Sitzen schmerzt? Bin ich wahnsinnig?

Offenbar ja. Genauso wahnsinnig, wie all die Menschen, die mit aller Kraft die Welt „voran“ treiben, die den Fortschritt in Szene setzen, von dem sie dann aufgefressen werden. Die „Pflicht“, die Projekte, die Ziele, die Erwartungen, die Zukunft – alles Abstrakta, die man nicht anfassen kann, die uns aber nichtsdestotrotz durchs Leben hetzen, als wäre eine Goldmedaille zu gewinnen. Was aber kann man mit einer Medaille schon anfangen, selbst wenn es eine gäbe?

Wir haben lange schon den Punkt überschritten, wo ein materielles „Mehr“ sinnlos wird. Denn materielle Freuden sind sinnliche Freuden, die mittels eines „Mehr“ ab einem bestimmten Punkt nicht mehr gesteigert werden können. Im Gegenteil, sie schlagen in Leiden und Überdruß um. Mann kann nicht immer mehr essen, eine noch heißere Sauna aufsuchen oder sich länger massieren lassen. Das „Mehr“ der sinnlichen Freuden ist nicht mittels Steigerung des Inputs zu haben, sondern allein durch Sensibilisierung, durch ein Subtiler-werden der Sinne. Und diesen Punkt haben wir verpasst, verpassen ihn täglich neu. Anstatt das, was vorhanden ist, was oft sogar billig oder ganz kostenlos ist, durch Bewußtheit und Beschränkung intensiver genießen zu lernen, wenden wir uns den Abstrakta zu, dem unendlichen „Mehr“ und strampeln uns ab im Rattenrennen ums goldene Kalb.

Die Bemühung, auch noch den Sonntag zum normalen Arbeitstag zu machen, ist nur vordergründig wirtschaftlich begründbar. Auf’s Ganze gesehen ist es ein wichtiger Schritt in die Vollendung der Bewußtlosigkeit: Bloß keine Insel mehr in der Zeit, keine Lücke im Getriebe, durch die man erkennen könnte: Es geht auch anders. Ich brauche ja gar nicht MEHR.

—– Es sind Leserbriefe gekommen, herzlichen Dank! Ich werde sie in den nächsten Tagen bringen, jetzt ruft mich die Arbeit… :-)

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