Claudia am 19. März 2000 —

Putenfleisch

Eine Pute. Als ich klein war, war das noch ein Ereignis! Ein Riesenvogel, der kaum in den Backofen passte, zwei Monate vor Weihnachten beim Bauern bestellt, mit Spannung erwartet, misstrauisch beäugt, in mehreren Stunden gebraten und dann die „7 Sorten Fleisch“ im Rahmen eines großen Familiengelages verspeist. Die Reste reichten für den nächsten Tag und wir sonnten uns im Gefühl, etwas Besonderes zu sein: andere Familys waren schließlich noch bei der gemeinen Weihnachtsgans, ha!

Aus damit! Pute ist seit Jahren „im Kommen“, verdrängt zunehmend das fettere Schweinefleisch, wird von Ernährungswissenschaftlern und Köchen gleichermaßen in den Himmel gelobt und ist sehr, sehr billig geworden. Folgerichtig gibt es jetzt Putenwurst in vielen Zubereitungen bis hin zur gewöhnlichen Brühwurst, Bockwurst, Wiener oder Knacker, ja sogar das unmögliche Billigfrühstücksfleisch in Dosen vom Discounter gibt’s in der Variante „Truthahn“ und gerät damit wieder in den Bereich „mal probieren“.

Ich mag Putenfleisch und es hätte mir nichts ausgemacht, dafür auch weiterhin 10 bis 14 Mark pro Kilo zu zahlen. Es war schon nicht mehr Delikatesse, aber auch nicht Alltag und hatte einen besseren Ruf als die „Gummiadler“. Genau das Richtige, wenn man sich den Aufwand des selber Kochens mal leisten und dabei ein bisschen Mühe geben wollte.

Und jetzt? Dass Putenfleisch haufenweise herumliegt und preislich mit dem Schwein konkurriert, ist mir lange schon aufgefallen. Klar, dass das für die Pute nichts Gutes bedeuten konnte, doch SO genau wollte ich darüber nicht nachdenken. Immerhin hatte ich vom Huhn unter anderem Abstand genommen, um die miese Batteriehaltung nicht weiter zu unterstützen, was – jenseits ehrenwerter Bedenken – nach dem Urteil aller Gourmets auch auf den Geschmack geschlagen hatte. Ein gutes Huhn, schrieb Siebek schon vor einer Ewigkeit, muß mindestens 10 Quadratmeter für sich haben. Nicht im Ofen, sondern zu Lebenszeit.

Nun lebe ich auf dem Land, hinter der Schlosswiese steht der neue Hühnerstall, in dem jedes der zehn Hühner seine 10 m² Auslauf hat. Aber natürlich sind die nur für die Eier und zum Angucken, kein Schlachtvieh! Lieber esse ich gar kein Huhn, als eines zu schlachten, bzw. ein paar Mal im Jahr greif‘ ich zum Gummiadler und fühle mich dabei eben ein bisschen sündig . Normalerweise esse ich Pute….

Aus damit. Der Markt hat nicht geruht, sondern das Angebot erhöht, die Zucht und vor allem die Mast „effizienter gemacht“, kurz gesagt die übliche quälerische „Massenproduktion“ ins Werk gesetzt, die schon über die Rinder, die Schweine und die Hühner gekommen ist. Dabei ist es recht egal, dass die Puten korrekt auf dem Boden stehen und nicht in stapelbaren Käfigen wie die Hühner. Sie stehen dort nämlich Flügel an Flügel wie im dichtgedrängten Aufzug, mit abgeschnittenen Schnäbeln, damit sie sich nicht vor Verzweiflung gegenseitig angreifen, mit Knochen, die die Fleischmassen kaum mehr aufrecht halten können und mit Brüsten, die so überdimensioniert gezüchtet sind, dass die Vögel dazu neigen, vornüber in den Dreck zu fallen. Ihr Pech: das Fleisch schmeckt immer noch gut und ist nach wie vor „gesünder“ – für uns, versteht sich.

Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie wütend mich das macht, es fehlt das Talent, gute Haß- und Schmähreden zu schreiben und außerdem: wenn ich die Wut länger betrachte, so ist sie nur ein Bollwerk gegen die Traurigkeit und Verachtung, die hinter ihr lauern: Traurigkeit, dass solch eine widerliche Tierquälerei stattfinden muß, um so etwas zivilisatorisch Banales wie das Essen auf den Teller zu bringen. Verachtung, weil alle das wissen und es trotzdem geschieht. Weil wir alle weiterhin Schwein und Rind und Pute essen, immer mehr und immer billiger und dabei eben nicht an das grauenhafte Leben denken, dass die armen Viecher erleiden müssen.

Andrerseits weiß ich, dass das niemand gewollt hat! Nicht ich, nicht du. Keiner von uns würde auf die Idee kommen, Vögel derart einzuknasten und zu malträtieren, nur damit uns das „Geschnetzelte“ nicht abhanden kommt. Ich glaube, unsereiner ist zwar bereit, einen Feind aus der Arena zu mobben und allerlei Ausraster im Beziehungsleben hinzulegen, aber einem Pick-Vogel den Schnabel abschneiden? Das würden wir eher sein lassen, solange es nicht ans Verhungern geht.

Trotzdem haben wir jetzt die Putenknäste! Und bei jedem neuen Tier, das in den Verdacht kommt, gut zu schmecken, wird es genauso verlaufen. (In Brandenburg hat man begonnen, Strause zu züchten, hier und da taucht Strausensteak auf, noch ist es eine Delikatesse….). Alle kaufen und genießen das in Mode geratene Fleisch, bis die Medien das ganze Elend oft genug vorgeführt haben und „artgerechte Putenhaltung“ zum Thema wird. Ein wachsender, aber insgesamt unbedeutender Teil des Marktes wird „öko“ und verschafft denen, die dreimal so viel zahlen können und wollen, ein gutes Gewissen. Der Rest frisst die lebenslänglich kranke Knastpute und denkt nicht drüber nach.

Die „Öko-Schiene“ sehe ich nicht als Lösung. Ich will im normalen Supermarkt einkaufen können und kein Aufhebens um meine Ernährung machen müssen. Zudem nützt es den Knastputen nichts, wenn es daneben noch ein paar Öko-Puten für Besser-Verdienende und Öko-Hardliner gibt. Mich regt auf, dass die Mitte fehlt: hier der Gummi-Adler, dort das 10-Quadratmeter-Huhn, sonst nichts. Eine Welt, die nur noch Auswüchse produziert, widert mich an.

Und ich bin unentrinnbar Teil davon. Kann nicht mehr „unschuldig“ essen, trinken, Kleider kaufen und fühle mich doch nur sehr vermittelt als „Täterin“ all dieser Schandtaten. Kann aber auch niemand anderen sagen: Du bist schuld! Ich weiß, dass die Bauern wirtschaftlich produzieren müssen und nicht selber bestimmen, WAS im einzelnen dazu nötig ist. Aber sie führen es aus, genau wie ich all dieses wissend immer wieder Pute esse. Und würde ich das nicht tun, wäre mein Gefühl nicht viel besser. Denn Teil einer kleinen Minderheit zu sein, mag ein gutes Gefühl der Besonderheit geben. Am ganzen Elend ändert es nichts.

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