Claudia am 06. Januar 2000 —

Weise Worte

Des öfteren bekomme ich E-Mail von Menschen, die es sicher gut mit mir meinen. Sie weisen mich darauf hin, daß ich mich hier im falschen Film bewege: alle Texte zu Themen wie „Wer bin ich?“, alle Fragen nach dem „Woher-wohin-wozu?“, nach „Sinn“ oder nach übergreifenden Zielen seien obsolet. Nur das EGO stelle solche Fragen. Ein Beispiel:

„Die Frage war wichtig. Die Erkenntnis, daß eigentlich das Ego gefragt hat in Verbindung mit der Erfahrung, daß es die transpersonale Liebe gibt, geben soviel Energie und Sicherheit, daß eine Antwort nebensächlich geworden ist. Das ist freilich eine Erfahrung, die mit Worten (mithin auch im Web) nicht mehr darzustellen ist. Doch gibt es Literatur, die anregen kann: „Die Rückkehr des friedvollen Kriegers“ und „Die Erkenntnisse von Celestine“. Romanhaft aufbereitet werden die Wahrheiten aus Bibel, Buddhismus, Psychologie, … dem westlichen Menschen verdaulich dargeboten.“

Wie schön für den westlichen Menschen! Und richtig: es gibt Erfahrungen, die sich im Web NICHT darstellen lassen, eine ganze Menge sogar. Außer in eben dieser abstrahierten Form, die der Schreiber praktiziert und die niemandem nützt. Ganze Bibliotheken widmen sich dem Unsagbaren, der Buchmarkt der letzten 20 Jahre quoll über von Versuchen, sich dem zu nähern, bzw. auch, damit Kasse zu machen. Manchmal mit den ulkigsten Mitteln und Methoden, manchmal mit Geschichten für das einfache Gemüt, die dennoch große Strahlkraft entfalten können (z.B. die unsägliche Fabel „Johannes“).

Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen, meinte dereinst Wittgenstein. Ein Verhalten, das den „westlichen Menschen“ in der Regel überfordert, „Kommunikation ist alles“, so wird uns ja täglich ins Hirn gehämmert. Doch wohin führen solche Themen? Was bringen Predigten per E-Mail, Webseiten über das „Klatschen der einen Hand“, oder gar „Diskussionen“ über das Spirituelle in Mailinglisten und Newsgroups? Nichts außer jede Menge Streit über die „richtige Lehre“ oder den Austausch von harmonischen Plattitüden. Am schlimmsten streiten die fundamentalistischen Christen in den USA, in DE dominiert das tolerant-ignorante „anything goes“ des ausgehenden New-Age.

Seit aber das gesamte Leben als Folge der Computerisierung und Vernetzung für jeden spürbar umstrukturiert wird, verliert der spirituelle Marktplatz Kunden, Selbstverwirklichung und Sinnsuche treten zurück hinter Weiterbildungskurse und Selbstbehauptungstrainings. (Pech, wer da sein Ego vorzeitig entsorgt hat…. :-) „Wer bin ich“ wird vertagt bis zur neuen Antwort auf die Frage „Wie werde ich MORGEN Geld verdienen?“.

Ich finde das gut, auch wenn es mich selbst immer mitbetrifft. Es bewegt sich wieder was, die Mehrheit ist aus dem energetischen Vakuum rundum gesicherter Verhältnisse herausgefallen, es gibt wieder Dinge, über die zu reden ist, ja, geredet werden muß. Und vor allem: Wer existenziell gefordert ist, der wird durch seine Taten sichtbar, konkrete Handlungen sagen mehr als 1000 weise Worte!

Und hier liegen die Chancen der Kommunikation im Netz: vom realen Leben kann berichtet werden, über handfeste Fragen lohnt der Austausch, aktuelle Probleme können gemeinsam oft besser und schneller gelöst werden. Man hilft und bekommt Hilfe, man lernt, arbeitet, hat Erfolg und scheitert, lernt dabei sich selbst, den Anderen und die Welt kennen. Das Bewußtsein wendet sich wieder den Gegenständen zu, die uns entgegenstehen – wenn es auch heute keine Gegenstände mehr sind. Und: wenn gemeinsam etwas Drittes angesehen wird, werden wahre Kontakte, menschliche Begegnungen jenseits ökonomischer oder psychologischer Bedingtheiten sehr viel wahrscheinlicher. Toll!

Ich will also nicht wissen, welche Bücher ich lesen soll, welchen Guru ich nicht verpassen darf, welche Lehre oder LEERE all meine Fragen überflüssig macht – ich möchte etwas von DIR wissen, vom konkreten Anderen. Was bringt dir deine persönliche Metaphysik im Alltag? Bist du in „transpersonaler Liebe“, wenn der Chef dich kündigt oder dein Konkurrent den wichtigsten Auftrag wegschnappt, wenn die Freundin dich verläßt oder die Kinder dich zur Weißglut treiben? Und wie gehst Du damit um, daß du es nicht bist? Gelassen die Vergänglichkeit hinnehmen, den Augenblick genießen? – ja warum rennst du dauernd ins Fitnesstudio? Warum nimmst du den Verfall Deiner Zähne nicht gelassen hin, sondern investierst einen mittleren Gebrauchtwagen in „Zahnhalteapparat“ und Zahnersatz?

Fragen über Fragen, Dinge, von denen man erzählen kann. Der Rest ist Schweigen.

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