Claudia am 09. Januar 2000 —

Mail & Geschlecht

In den letzten 14 Tagen bin ich (fast) täglich meinen Impulsen gefolgt. Keine Brotarbeit, kein eigenes Projekt-Engagement – nichts von allem, was dem Fortkommen (wohin denn nur?) dient. Ein Glück, daß das möglich war, denn ohne solche Zeiten würde ich zur Mensch-Maschine, die nur noch Pflichten abarbeitet. Und ohne Bezug zum „Dasein ohne Ziel“ ist zielgerichtetes Handeln die reine Maloche und letztlich gar nicht möglich.

Die Zeit zwischen dem 24.12. und dem 6. Januar war früher mal als „die zwölf heiligen Nächte“ im Bewußtsein der Allgemeinheit. Zwar ist jetzt schon der 9., aber ich überziehe halt gern. Außerdem hat mir der Papierkram Unterbrechungen der Auszeit beschert, künftig lege ich das Steuerthema bestimmt in einen anderen Monat!

Seit ein paar Tagen bin ich in ein (u.a. auch) philosophisches Gespräch geraten – per Mail mit einer Berlinerin. Es hat sich einfach so aus einer sachlichen Anfrage ergeben, ist jedoch schnell zu vielen berührenden Themen vorgedrungen, Themen, die mich als reine Abstrakta schon lange nicht mehr bewegen, wie z.B. Ethik, Gleichberechtigung, Freiheit.

Natürlich bekomme ich ab und zu mal „philosophische Mails“, angeregt durch die weit verteilten Seiten meiner jahrelang gewachsenen Weblandschaft. Doch ergibt sich daraus meist nichts weiteres, da sie in der Regel einen Punkt aufgreifen und einen Begriff abstrakt vertiefen wollen. Eine Tüte Argumente pro-Dies und kontra-Das, die mir nichts weiter sagt, als daß das Gegenüber „diskursfähig“ ist.

Diskurse reichen nicht

Diskurs ist aber nicht mein Interesse. Es ist eine Täuschung, zu glauben, man könne durch Diskurs etwas klären. Zum einen gibt es den „reinen Diskurs“ (=voraussetzungslose Auseinandersetzung zum Zwecke „reiner“ Erkenntnis unter Berücksichtigung argumentativer Logik) nicht, außer vielleicht in der Mathematik und der naturwissenschaftlichen Forschung. Es stehen sich immer Individuuen mit konkreten, außerhalb der Wahrheitssuche gelagerten Interessen gegenüber. Andrerseits läßt sich alles argumentativ begründen – wie auch das gerade Gegenteil. Es kommt auf den Standpunkt an, wie es in ganzer Plattheit und Wahrheit im Volksmund heißt.

Wo eine/r steht, kann ich jedoch nur sehen, wenn ich mehr mitbekomme, als blosse Argumente, mehr als abstrakte logische Abwägungen. Erst wenn ich die Lebenswirklichkeit in den Blick nehme, kann ich mir zusammenreimen, was eine/r meint, wenn sie dies oder er jenes sagt, bzw. WARUM sie wohl so denken. Nicht umsonst gerate ich hier in den Versuch einer Geschlecht-bemerkenden Schreibe, denn die Dialoge mit Männern und Frauen sind unterschiedlich. Von Männern bekomme ich eher die abstrakte Sicht, die Philosophie, das Argument. Von Frauen das Leben, das tatsächlich-konkrete So-Sein. In diesem Sinne sind rein „männliche Mails“ ‚ (die auch von Frauen kommen können) öde, weil ihnen alles Fleisch und Blut fehlt. „Weibliche Mails“ (seltener von Männern, doch es gibt sie!) langweilen dagegen durch ihr häufiges Versacken im Konkreten, mensch vermißt hier gerade DIE Distanz, die bei den „männlichen Mails“ nervt.

Glücklicherweise sind diese „Reinformen“ nicht das einzige. Es gibt Grenzgängerinnen und Gränzgänger, Mischwesen, deren physisches Primärgeschlecht nur noch einen Anhaltspunkt unter mehreren bietet. Ich hoffe, daß das so bleibt, daß es mehr werden, daß nicht der an der Oberfläche feststellbare gesellschaftliche Rollback in Rollenschemata von „männlich“ und „weiblich“ diese Individuuen wieder verunmöglicht. Eine Gesellschaft, in der DIE MEHRHEIT die „Selbstfindung als Mann, bzw. als Frau“ und die „Entdeckung des inneren Manns, bzw. der inneren Frau“ endlich einmal hinter sich hat, vielleicht wär das mal was Neues?

Immer, wenn man anfängt, persönliches Erleben, eigene Vorlieben und Vorbehalte auf „die Gesellschaft“ zu beziehen, tun sich Abgründe auf! So auch jetzt, denn mir fällt ein: es wird ja schon bald so sein! Faktisch herrschen heute schon DIE ALTEN – im aktuellen Wortsinn also die jenseits der 35, 40 oder 50. Und morgen werden womöglich die „richtig Alten“ das Sagen haben, alles Leute, die weit fitter geblieben sind, als die Generation zuvor, immerhin Menschen, die schon aus Altersgründen die Dominanz ihrer Geschlechtlichkeit hinter sich haben. Ich mag mir jetzt nicht ausmalen, ob das eher gut oder furchtbar wird – brauch ich auch nicht, denn ich werde ja dabei sein.

Sofern mir nicht morgen der Himmel auf den Kopf fällt. Ich schreibe so vor mich hin und merke erst spät, wie weit ich mich in bloße Gedanken entferne. Morgen schon kann es mich erwischen und schon bin ich aus dem Spiel! Gut also, die Freude am Spiel nicht zu verlieren zugunsten von Vorstellungen über die eigene oder gar die „gesellschaftliche“ Zukunft.

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