Claudia am 10. Dezember 1999 —

Multiple Ichs

Seit es das Netz gibt, spricht man viel von den verschiedenen „virtuellen Existenzen“, den Pseudos und Masken, dem Spiel mit dem Zweit-Ich und Dritt-Ich. Für mich ist es eine Illusion, zu glauben, man könne da ganz bewußt „spielen“, immer schon sind wir „viele“ und die große Anstrengung ist, eine integrierte Persönlichkeit aus alledem zu formen. Die naive Herangehensweise, alles, was gestern und vorgestern und vor einem Jahr oder Jahrzehnt erlebt, gesagt und getan wurde, als eine Geschichte des „Fortschritts“ darzustellen, hab‘ ich schon lange aufgegeben – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Wär‘ ja schön, wenn das Leben so überschaubar und vernünftig wäre!
Ist es aber nicht, vor allem: ICH bin es nicht. Meine Versuche, Gefühle und Stimmungen auf bestimmte Ursachen zurückzuführen, sind ja nichts weiter als Vermutungen des Verstandes – und morgen, mit ein wenig mehr Erfahrung, könnte ich schon wieder umdenken müssen! Hier in diesem Diary zeige ich eine recht klare, vernünftige, dem Auf und Ab des Lebens heiter-distanziert gegenüber stehende Claudia. Natürlich ist das nicht ALLES, nicht alle seltsamen Figuren, aus denen ich mich zusammensetze, schreiben hier mit, außer manchmal, zwischen den Zeilen.

Das ist mir völlig bewußt, ich will es nicht anders, denn das Schreiben IST für mich der Versuch, eben diese heiter-gelassene Distanz immer neu zu GEWINNEN. Wollte ich hier klagen und jammern, schimpfen und lästern, meine Selbstzweifel und Leiden (an mir und der Welt) ausbreiten, wär‘ es ein anderes Diary. Es wäre reiner AUSDRUCK, nicht der Versuch, die Eindrücke zu verwinden, die von außen und innen täglich kommen.

Freunde wissen all das sowieso, denn sie sind gelegentlich auch den anderen, weniger gelassenen Aspekten meiner selbst ausgesetzt. Es ist mir ein Bedürfnis, das auch mal hier zu schreiben, damit niemand denkt, so ein Webdiary sei ein Abbild des Ganzen. Nicht umsonst gehören Tagebücher – auch die Netz-Diarys – zum Reich der Literatur. Und Literatur ist der Versuch, sich von dem zu distanzieren, was der Fall ist!

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