Claudia am 08. Oktober 1999 —

Spielzeit und Herbstwinde

Freie Zeit! Mir kommt es vor, als wäre es Jahre her, daß ich das zum letzten Mal hatte – wie jetzt. Zwar liegen noch Nacharbeiten zum aktuellen Auftrag an, aber der Druck ist raus. Und ganz langsam merken die einzelnen Bestandteile, aus denen sich ein Mensch zusammensetzt, daß es jetzt wieder lockerer zugeht – komisch, daß das bis zu zwei, vielleicht drei Tagen dauert.

Endlich kann ich wieder in meiner Lieblingsliste Netzliteratur mailen, habe Zeit, um mit unserem Freund und Vermieter Wolfgang die Website für Schloß Gottesgabe zu planen und verbringe Stunden damit, endlich Dreamweaver zu lernen (der einzig wahre WYSIWYG-Editor, der eine alte Code-Hackerin nicht beleidigt!).

Auch, daß es ein DRAUSSEN gibt, nehme ich mit neuer Freude wahr. Selbst jetzt, im hereinbrechenden Herbst, ist das Land ein berührendes Erlebnis: heftige Windböen, rauschende Bäume, spektakuläre Wolkenformationen, Sonnenlicht, das plötzlich durch einen verhangenen Himmel auf Felder im Frühnebel durchscheint. Und wenn es regnet, prasselt es auf das durchsichtige Hartplastikdach des Lichthofs in meiner Diele, worüber ich mich jedesmal freue wie ein Kind. Es ist, als wäre man im Zelt – nur ohne die damit einhergehende Unbequemlichkeit und Beengtheit.

Und die Luft! Der Geruch von Erde und Wasser, diese belebende Frische, auf die ich jahrzehntelang zugunsten der dreckigen, verbrauchten und allermeist auch stinkenden Stadtluft verzichtete! Das kann ich mir jetzt gar nicht mehr vorstellen. Als ich das letzte Mal nach Berlin fuhr, hatte ich zwei Stunden Kopfschmerzen. Dann erst war ich ‚eingewöhnt‘ und merkte nicht mehr, was für einen Smog man dort atmet.

Die Wildgänse ziehen jetzt los und fliegen in römisch anmutender Pfeilspitzen-Formation in die Ferne – und für mich beginnt die lange herbeigesehnte „Spielzeit“: endlich kann ich gegenüber der Welt wieder aktiv werden, neue (eigene!) Projekte spinnen, Vorhaben realisieren, Kontakte erneuern bzw. anknüpfen. Ich fühle mich, als wäre ich etliche Kilo leichter, ja, die eigene Initiative, das Aufbrechen zu Neuem, ist für mich DER erotische Aspekt der Welt, auf den ich nur ungern und nur kurzzeitig verzichten mag. Die Herbststürme haben etwas Wildes und sind eine schöne Begleitmusik.

Später dann, im November, Dezember, wird alles sehr still – aussen und innen. In der tiefsten Nacht, am 23.Dezember, wollen wir ein großes Feuer anzünden. Ich liebe Feuer!

Es stehen hier übrigens bald drei Wohnungen zur Vermietung – wär‘ gar nicht schlecht, wenn andere Netz-Werker hierher kämen. Leute, die in ihrer Arbeit an den konkreten Raum gebunden sind, fluktuieren in diesen ‚flexiblen‘ Zeiten doch sehr starkt. Befristete Arbeit heisst oft auch befristetes Wohnen – ich hätte es gern etwas weniger dynamisch in diesem schönen Schloß.

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