Claudia am 23. September 1999 —

Wir können nicht dienen?

Mit empört hochgezogenen Augenbrauen wird der Vorwurf von Besser-VER-dienenden unters verstockte Volk gebracht, um die Bereitschaft zu stärken, für ein Taschengeld dreckige und langweilige Jobs anzunehmen.

Doch der Vorwurf geht fehl: Wir sind ein Volk von Dienern, ja, Sklaven! Und vorne weg die sogenannte Info-Elite, die gerade dabei ist, zum Mainstream rundum vernetzter Gerätebediener zu mutieren.

Wir sind willenlose Sklaven unserer Geräte und Programme. Wir pflegen sie besser als unsere Körper, geben mehr Geld für sie aus als für geliebte Menschen, verbringen die meiste Lebenszeit im „Dialog“ mit ihnen oder im Entziffern ihres kryptischen Begleitmaterials. Wir kümmern uns mütterlich um ihre Fehlfunktionen, ihre Zipperlein und Eigenheiten bestimmen unsere Gespräche – hör doch mal, was die Leute an den anderen Kneipentischen reden: Geräte, Geräte, Geräte….. Und wir fühlen uns meist noch gut dabei. Informiert, „State of the art“, erfolgreich! Ist ja auch toll, wenn eine Installation mal problemlos klappt – oder wenn man nach eineinhalb Tagen Schuften, Infos einholen, Mailinglisten abfragen, Tips mit Freunden austauschen, herumprobieren, löschen und neu installieren endlich etwas ZUM LAUFEN GEBRACHT hat. HEUREKA!!!

Wozu wir selber noch Beine haben, wissen wir nicht mehr so recht, die Geräte und Programme machen sie mehr und mehr überflüssig. Mit einem entwickelten E-commerce braucht man doch garnicht mehr raus gehen, alles wird hergefahren, ausgepackt und installiert – nur die Verpackungen, wohin damit?

Man darf es nicht wagen, die wertvolle Umverpackung unseres wichtigsten Geräts, des Computers und seiner Nebengeräte, einfach wegzuwerfen. Bewahre! Es könnte ja was dran sein und dann braucht man die wieder! Die Kartons, die sich im Lauf der Zeit sammeln, belegen mehr Platz als unsere Klamotten – und es werden MEHR, wenn bald sämtliche Haushaltsgeräte GEUPDATET werden, damit sie sich untereinander verständigen können. Ist doch klar, so ein armes einsames isoliertes Gerät – welch ein Unglück!

Jedes neue Gerät, jedes „innovative“ Programm, dem wir bereitwillig den roten Teppich auslegen, frißt nicht nur Geld und Energie: es frißt unser wichtigstes: Lebenszeit und Aufmerksamkeit.

Kennt jemand noch ein Gerät oder Programm, das einfach NÜTZLICH ist: einstecken/installieren, anwenden, fertig? Da muß man erstmal grübeln, …vielleicht ein elektrischer Flaschenöffner? Oder hat der auch schon eine CD-ROM dabei, auf der sich „irgendwo“ eine Anleitung versteckt – in einem Format, für das man erst ein anderes Programm braucht? Und eine eigene Website, auf der man sich registrieren lassen muß, weil sonst die „Supportberechtigung“ verloren geht? Oder eine „Hot-Line“, bei der man sich für 2,40/Minute in lautstarkem Call-Center-Charme sagen lassen kann, wie das Ding funktioniert? Oder alles auf einmal? Nicht zu vergessen die hilfreichen Fan-Seiten im Web, die zu jedem Gerät und Programm DAS NEUESTE, die Updates, die Bugs, die Treiber, die Tips & Tricks bereitstellen, die der Hersteller vermissen läßt!

Ich stehe mit einem lieben Freund auf der Wiese. Gerade hab‘ ich meine neue Digitalkamera erklärt und er macht erste Fotos. Da klingelt sein Handy, das in einem Halfter am Gürtel in Bereitschaft hängt. Kein Problem, eine Hand ist ja noch frei! Ein Gerät am Auge, ein Gerät am Ohr – manche träumen vom Gerät im Hirn, weil sie sich erhoffen, dann von allem Ballast befreit zu sein.

Frei? Es ist Zeichen des Sklaven, unfrei und willenlos fremden Befehlen zu gehorchen. Wir glauben, wir seien frei, weil wir zwischen verschiedenen Geräten wählen können. Doch dieses WÄHLEN vertieft nur die Sklaverei, denn: um sich zu informieren, was verschiedene Geräte unterscheidet, welches das günstigste Preis/Leistungsverhältnis hat, welches für unsere „Bedürfnisse“ das genau passende ist, VERBRAUCHEN wir noch viel MEHR Lebenszeit, verstricken uns tiefer in das Feature-Denken, versinken noch stärker im Tech-Talk und häufen Prospekte und Fachzeitschriten in großen Stapeln, die uns immer mehr RAUM wegnehmen: realen und geistigen Raum.

Ich sehe nicht nach, welches gerade der billigste Telefondienstleister ist. Noch immer ist mein Komfort-ISDN ohne Anrufbeantworter, weil ich die Gebrauchanleitung nicht studiere. Info-E-Mails zu Geräten und Programmen lösche ich ungelesen, Prospekte kommen in den Müll. Und meinen Strom werde ich bei DEM Unternehmen bezahlen, das mir immer schon die Rechnung schickt.

Alles „kleine Fluchten“, Verweigerungen „als ob“. Unsere Welt heißt jetzt „Wissensgesellschaft“, so hört man überall – es ist das „Wissen vom Gerät“, von Methoden, Abläufen und Programmen, von denen wir glauben, mit ihnen die Welt IM GRIFF zu haben. Dabei ist es umgekehrt. Und wir wüßten ja auch garnicht mehr, nach was wir greifen sollten – außer nach dem nächsten Gerät.

Diesem Blog per E-Mail folgen…