Claudia am 19. September 1999 —

Konsum, Kommerz, Community

Durch die wenigen, für Erwachsene noch erträglichen Medien weht die Klage darüber, daß das Leben, die Gesellschaft, ja die ganze Welt in den 90gern auf unerträgliche Weise durchkommerzialisiert wurde. Alles, aber auch alles wird zur Ware, zur Dienstleistung. Geld allein zählt, Konzerne rotten sich zusammen, Individuen RUCKEN, so gut sie eben können oder verfallen in den Stupor der Totalverweigerung.

Man könnte meinen, eine Seuche habe die Welt erfaßt, gegen die es keine Impfung gibt. Viele leiden lautstark unter dem zur Normalität werdenden Kampf aller gegen alle und erwarten Schutz und Sicherheit von den Regierenden. (Diese wiederum halten so gut es geht den SCHEIN für ihre Wähler aufrecht, sie könnten in diesen Dingen allerhand ausrichten. Und immer wieder möchte man ihnen GLAUBEN.)

Im täglichen Leben aber, jenseits der letzten besinnlichen Minuten, die dem einen oder anderen noch bleiben mögen, ist der Tunnelblick auf den eigenen Nutzen zum einzigen Blick geworden. Das ICH in all seiner im Grunde tief langweiligen Gespreiztheit geht durch die Welt und scannt sie auf Beute: Verwertbare Ideen, Schnäppchen, schnell verfügbare Informationen, sofortige Problemlösungen. Und es giert nach Resonanz, Applaus, nach bemerkt-werden, möchte als je ganz Besonderes wahrgenommen werden.

Marketingleute kennen ihre Pappenheimer. Nichts ist weniger besonders als der Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Und so schütten sie uns zu mit „individualisierten“ Produkten, „MyYahoo“ und MEINE Kaffee-Mischung – ist doch heute kein Problem mehr.

Und für die Resonanz, für ein bißchen Heimatgefühl und Stallgeruch ist die COMMUNITY gut, auch das haben sie schnell gelernt. So werden also Leute dafür bezahlt, um auf Webboards zu posten, in Chats anwesend zu sein, jeden freundlich zu begrüßen und schon bald zu fragen: Hast du schon das neue Buch von X? Die CD von Y? Die Software von Z?

Doch es gibt sie noch, die ECHTEN Communities, die Szenen und Themen-Gruppen, die sich eigendynamisch zusammenfinden, sich selber verwalten, ihre „Umgebung“ selbst gestalten. Seit 1996 bin ich in solchen Communities und sie waren und sind für mich das Beste, das das Netz zu bieten hat.

Allerdings: Das Rauschen nimmt zu. Immer weniger Menschen scheinen einen Gedanken darauf zu verwenden, ob ihr Beitrag der Allgemeinheit oder auch nur einer kleinen Minderheit einer solchen Community nutzt. ‚Nutzen‘ ist hier mal als Sinngebung gemeint – oder, mit Flusser: als Ein-bilden, als Schaffen von In-Formationen aus Daten zu zwischenmenschlicher Bedeutung, Komplexität, Negenthropie.

Fast automatisch wird in die Tasten gehackt und was als meist Tippfehler-durchsetzter Text in der „Gemeinschaft“ landet, ist in 50% der Fälle ein Kommentar zur Kommunikations-TECHNIK, nicht etwa zum Inhalt. („Du sollst keine HTML-Mails verschicken…“, „die URL funktioniert nicht“, „dein Footer ist zu lang“,…).

Weitere 35% des Mailaufkommens sind blöde Sprüche, 1-Satz-Reaktionen auf aus dem Zusammenhang gerissene Sätze. Ihre Funktion ist allein das Signalisieren: „Mich gibt’s noch! Und ich bin WITZIG!“
10% Text sind dann tatsächlich echte Infos: „Schaut mal meine Seite XX an…“. Das ist immerhin am Thema, der Mensch zeigt etwas, das ihm wichtig ist – doch nur selten erfahren solche Mails Resonanz. Allenfalls in der Art: ja, und meine Seite ist auch nett, guck mal hin!

Nur 5% der Beiträge einer Mailingliste oder Webcommunity (wahrscheinlich noch weniger) bringen das herüber, warum COMMUNITY überhaupt existiert. Es wäre eine für jetzt zu umfangreiche Aufgabe, das zu definieren – vielleicht geht das auch gerade NICHT. Mir würde es genügen, wenn sich mehr Leute beim Verfassen einer Mail darauf besinnen könnten, sie noch einmal zu lesen. Und sich zu fragen: Braucht das die Welt? Ist es die Lebenszeit wert, die die Leser darauf verwenden müssen?

Wenn wir nicht selber veranstalten, was wir wünschen, dann werden wir morgen dafür zahlen, daß es uns jemand anrichtet. Aber es wird nicht ganz dasselbe sein.

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