Claudia am 05. August 1999 —

Gottesgabe, Tag 22: Ausholzen, laute Mähdrescher, kein Heimweh

Wenn mir die Dinge über den Kopf wachsen, ich wütend und agressiv werde, ist aufräumen immer schon das beste Gegenmittel – und hier hab‘ ich dazu noch das „Bäume ausreißen“ entdeckt. In Kombination mit einer kalten Dusche angewendet, vertreibt das jegliche Mißstimmung!

Täglich eine halbe Stunde auf Puls 130, das mache binnen ein paar Wochen körperlich fit, hat mir ein Freund geraten, der es wissen muß. Kaum länger stehe ich das Ausholzen durch: mit einer mittleren Säge bewaffnet, trete ich gegen tote Äste am Rande des Schloß-Wäldchens an. Da gibt es wunderschöne alte Bäume, doch hat sich der Wald in den letzten Jahrzehnten eigendynamisch zur Wiese hin erweitert. Schiefe, teils abgestorbene Baumteile bilden einen Verhau, durch den kaum ein Durchkommen ist – bzw. war! Jetzt türmen sich die abgetrennten Äste auf der Wiese, sie auch noch klein zu sägen ist völlig undenkbar, schließlich hat die Menschheit die Motorsäge erfunden. Wir werden uns eine leihen müssen.

Den ganzen Tag dröhnen die Mähdrescher. Wie riesige Wesen aus einer anderen Welt fahren sie in erstaunlicher Geschwindigkeit über die Felder, gewaltige Staubfahnen hinter sich herziehend. Den Anblick „Mähdrescher vor untergehender Sonne“ würde ich gerne festhalten, doch komischerweise ist mein Drang, der Welt mit einer Kamera zu begegnen, nicht besonders groß.

Noch immer kein Heimweh nach Berlin. Im Gegenteil, ich bedauere fast, dort so lange Jahre ausgehalten zu haben. Es macht mich glücklich und dankbar, drei Schritte nach draußen treten zu können und auf der Wiese zu stehen, noch ein paar Schritte weiter in den Wald zu gehen, oder 100 Meter aus dem Dorf hinaus in die „unendliche Weite“ blicken zu können. Der Kontrast zur Flachheit des Monitors und zu den Gründerzeitfassaden, die ich 20 Jahre im Blick hatte, könnte kaum größer sein.

Was die Arbeit angeht, werde ich andere Seiten aufziehen müssen. Bisher hatte ich immer alles im Kopf, was getan werden mußte: kein Terminkalender, kein Arbeitsplan, was am Dringendsten war, wurde eben bearbeitet. Doch den Kopf will ich jetzt entlasten, das ständige „Du mußt aber noch…“, und „vergiß nicht, zu…“ geht mir auf die Nerven. Ich vermisse sowas wie ECHTE FREIZEIT, das Gefühl, ein „Tagwerk“ vollbracht zu haben und danach mit allem Recht im Garten bosseln zu können!

Also bleibt nichts übrig, als mir einen Plan zu machen, einen richtigen Zeitplan über alle anstehenden Arbeiten, so daß ich weiß, wann ich an einem Tag FERTIG bin. Bisher fühle ich mich wie in einem stetig fordernden Arbeitsfluß und wenn ich etwas anderes mache, schleicht sich das schlechte Gewissen ein. In der Stadt, wo ich kaum noch Grund sah, den PC zu verlassen und fast alle Freizeit mit PC- und Online-Aktivitäten zubrachte, ist mir das nicht so aufgefallen. Ich war zufrieden mit dieser „Einheit von Leben und Arbeiten“, ein hoher Wert für viele aus meiner Generation.

Jetzt zieht mich das Leben nach draußen und die alte Form muß durch eine andere ersetzt werden. Tja, ich werde noch richtig spießig, wie es aussieht. Schließlich hab‘ ich diejenigen immer belächelt, die um Schlag 5 die Arbeit niederlegten, um sich Hobby & Freizeit zuzuwenden! Für mich gab es sowieso nichts Angenehmeres, als meine Projekte voranzutreiben – und soweit es mal nicht angenehm war, arbeitete ich verbissen vor mich hin, als gäbe es eine Chance, MIT ALLEM FERTIG zu werden. Genau das ist aber nichts als verrückte Illusion: Als Freiberufler „fertig“ zu werden, heißt, diesen „Job“ schon bald an den Nagel zu hängen. Wenn der Nachschub an Aufträgen von alleine kommt, ist das gerade richtig – und es liegt an mir, die Arbeit so zu organisieren, daß es keine Last ist.

Das war nun leider wieder mal ein Tagebuch-Eintrag ganz ohne „philosophische Schleife“. Muß denn sowas im Web stehen? Eigentlich nicht. Doch die ruhige Stunde Schreiben am Morgen ist eine gute Art, den Tag zu beginnen, es klärt und strukturiert das Denken, selbst wenn es nicht von Grund-stürzendem und Welt-bewegendem handelt. Und meinen Freunden erzähle ich so, wie es mir geht – individuell, jedem eine Privatmail, wär das im Moment garnicht zu leisten.

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