Claudia Klinger: Digital Diary - Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück
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Zwei Augen schauen dich an
30. Juni, 2003

Sieben mal sieben: Geburtstag feiern?

Geburtstage habe ich lange gehasst, später ignoriert. Ich war ein schüchternes Kind und konnte es nicht leiden, wenn mich auf einmal Menschen, mit denen ich sonst nicht so intim war, zum Gratulieren abknutschten. Feuchte Lippen, Parfüm-, Rasierwasser- und Zigarettengerüche - komisch, dass Erwachsene offenbar meinen, Kinder wollten von jedem "geknuddelt" werden. Später verschärfte sich das Problem noch: mein Geburtstag lag im jährlichen Familienurlaub in Italien und mein Vater nutzte den Termin, um ein großes Fest mit Münchner Bier und Bockwürsten zu geben - extra zu diesem Zweck und zusätzlich zum vielen Gepäck mitgeführt. Da strömten dann die Massen, alle befreundeten italienischen Familien mit Anhang - und in Italien gehört es zum Gratulier-Ritus, mehrmals an den Ohren gezogen zu werden! Meine glühten an einem solchen Tag, es war einfach furchtbar, ich verdrückte mich von der Feier so früh wie möglich.

Als ich mit 19 auszog, hakte ich das Kapitel "Geburtstag" gleich mit ab. Ich verstand auch den Sinn nicht: Warum ein Aufhebens darum machen, dass man wieder ein Jahr mehr auf der Welt ist? Dafür muss ja nichts geleistet werden, zudem hat doch JEDER einen Geburtstag - was also wär da zu feiern??? Alle höflichen Gepflogenheiten, wie Geburtstagskarten versenden, der Frau Feuer geben, Besuchern etwas zu trinken anzubieten, waren in den lockeren 70gern sowieso in Verruf: bürgerliches Establishment-Gebaren, konnte alles zusammen mit dem "Muff von 1000 Jahren" ersatzlos gestrichen werden. "Da hinten steht der Kühlschrank. Bedien dich!", war schon hart an der Grenze zur unziemlichen Gäste-Betüttelung.

Der Geburtstag blieb zu meinem Erstaunen bei vielen meiner Freunde erhalten, ich vermutete, wegen der Geschenke, vor allem der Geldgeschenke wohlmeinender Eltern und Verwandter. Auch ich hatte eine Großtante, von der es immer einen Schein gab - bei ihr rechtzeitig zum Termin abzuholen, ob ich nun selber feierte oder nicht. Man musste mit ihr Tee trinken, Karlsbader Oblaten essen, ein Kleidungsstück anprobieren, das gottlob nicht passte, und sich anhören, dass alle nur wegen dem Geld zu ihr kämen. Dann bekam man den Schein aufgedrängt und konnte gehen - Weihnachten dann wieder.

Die Geburtstagsfeste meiner Freundinnen und Freunde waren mir ein Graus - aber nicht allen konnte ich mich entziehen. Man stand herum, stocherte im Nudelsalat, es herrschte ein ungemütliches Kommen und Gehen, zwar gab es eine "Tanzfläche", aber keiner tanzte, allenfalls sehr spät, wenn der Alkoholpegel es ermöglichte, so etwas Unintellektuelles zu tun. Und dann die Geschenkfrage! Was schenkt jemand, der das rituelle Schenken eigentlich ablehnt? Ein schier unlösbares Problem, das immer irgendwie KREATIV gelöst werden musste. So mit ein bisschen "Ironie" im Geschenk - damals gab es Läden, die sich speziell auf diesen Bedarf einrichteten, zum Beispiel mit einem massiven Schmuckkästchen, in das man nichts hinein legen konnte, mit der Aufschrift "Für den, der alles hat". Ich kaufte dann doch lieber eine Flasche des aktuellen In-Getränks, Batida de Coco, süßer Sherry, oder was es halt gerade war. Und verdrückte mich baldmöglichst, zumindest, wenn ich nicht gerade in einen der Anwesenden verliebt war.

Runde Geburtstage? 30, 40? Hat mich alles nicht berührt. Im Lauf der Jahre verlor sich dann auch noch meine Missbilligung der Geburtstagsgewohnheiten anderer: Sollen sie doch, wenn sie meinen, dass es ihnen etwas gibt! Ich war in dieser Sache dermaßen ignorant geworden, dass ich sogar fast mein ganzes 46. Jahr dachte, ich sei schon 47. Und zwar, weil ich die Gewohnheit angenommen hatte, bereits nach einem halben Jahr das nächsthöhere Alter anzugeben: ich wollte dem allgemeinen Bemühen, sich jünger zu machen, entgegen wirken und machte mich "älter", rundete auf statt ab. Immerhin wäre es ja JETZT nicht mehr ganz stimmig, wenn ich sagte, ich sei 48, wo ich doch am 23. Juli 49 werde. Also setzte ich die Zäsur zum Jahreswechsel - und im 45. Jahr vergaß ich dann, dass und warum ich das getan hatte. Behauptete im ersten Halbjahr, ich sei 46 und zählte dann meinen Geburtstag im Juli als den siebenundvierzigsten! Das ist mir dann fast ein ganzes Jahr nicht aufgefallen, erst als ich mal wieder zurück rechnete, merkte ich plötzlich: Ich bin ja tatsächlich EIN JAHR JÜNGER als ich die ganze Zeit geglaubt habe! (War schon ein bisschen komisch...)

Das 49. Jahr

Und heute? Bald bin ich 49, also sieben mal sieben Jahre auf der Welt. In meinem Leben hat sich in diesem Jahr viel verändert und verändert sich noch. Zum ersten Mal lebe ich allein UND fühle mich damit glücklich. Das WUNDER des Daseins ist wesentlich spürbarer, wenn man nicht in ständiger Interaktion mit anderen ist. Das "Sein mit Anderen" errichtet eine Welt - zwar mit jedem eine etwas andere, aber doch immer eine gemeinsame, an der man nicht genau erkennen kann, was der eigene Beitrag und was der des Anderen ist. Das ist nun nicht mehr mein "Normalzustand" im Alltag, sondern ich erlebe meine EIGENE Welt, erfahre das, was ich hinein denke, interpretiere, erwarte als hauptsächliche Realität. Auf einmal kann ich das bemerken und genießen, damit experimentieren und spielen. Zum Beispiel hab ich festgestellt, dass ich mich - unabhängig von meinem Kontostand - wie die hinterletzte verarmte Sozialhilfeempfängerin fühlen kann und wenige Stunden später als Teil einer Elite der Besserverdienenden. Kommt ganz darauf an, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte, welche Aspekte und Elemente meines Daseins ich gerade in den Blick nehme und auf mich wirken lasse.

Ich glaube, hier liegt der Grund, warum sich viele, und insbesondere Jüngere, alleine unwohl und einsam fühlen: es braucht ein gelassenes Selbstvertrauen (Weltvertrauen, Gottvertrauen - wie man es eben nennen will), diese Herausforderung anzunehmen: das eigene Dasein und Sosein SELBST zu verantworten. Kein Festhalten mehr an einem "man", keine absoluten Autoritäten, nach denen man sich richten kann, auch kein "Sich-richten" mehr in Bezug auf nahe Stehende: ich richte mich nach dem, was aus mir kommt, was in mir ist, und was insofern immer "stimmig" ist. Auch dann, wenn es anderen nicht gefällt, selbst dann, wenn ich es mir selber anders wünschen würde. Es kommt einfach nichts Gutes dabei heraus, wenn ich versuche, anders zu sein als ich (in diesem Augenblick!) bin. Und ENDLICH kann ich das lassen! Endlich bin ich mein eigener oberster Wert, meine größte Autorität in allem, was MICH betrifft.

Ist das nicht ein Grund zum feiern??? Da es sich gerade zu meinem 49. Geburtstag so ins Bewusstsein bringt, gebe ich diesem Tag ausnahmsweise Bedeutung: Sieben mal Sieben zeigt eine "Vervollständigung" an. Was wird hier vollendet? Ich denke, es ist die Sphäre des Persönlichen, die ganz ureigene Historie auf der psychischen Ebene: das Sich-Selbst-ein-Problem-Sein, in dieser oder jener Weise, das Hoffen auf Lösungen, allermeist Er-Lösungen von außen, das innere Dialogisieren über Richtig und Falsch, das Schuld-Verteilen und Ursachen-Suchen - alles weg!

Und erst. seit es weg ist, kann ich Andere wirklich anders sein lassen, ohne mich ständig angegriffen und kritisiert zu fühlen. Werde ich tatsächlich angegriffen und kritisiert, bleibe ich emotional meist ruhig und unberührt, fühle mich nicht wirklich "persönlich gemeint". Weiß ich doch, dass der Andere mir allerlei Mäntelchen überwirft, die nicht die meinen sind, sondern seine Projektionen. Ich kann also auf den sachlichen Gehalt schauen: Ist die Kritik auch aus meiner Sicht berechtigt, ändere ich etwas, sonst nicht. Und das war es auch schon, weiter muss ich da innerlich nicht mehr drum kreisen und grübeln.

Aber keine Sorge, nobody is perfect. Es gibt Momente des Rückfalls in alte Seinsweisen, gottlob immer seltener. Neulich hat mich jemand aus heiterem Himmel aufs Übelste beschimpft, weil ich wagte, in einer lobenden Mail auch einen kleinen Verbesserungsvorschlag bezüglich seiner Webseiten zu machen. Da ich eigentlich Freundlichkeit erwartet, ja gewünscht hatte, erwischte mich die kalte Dusche unverhofft heftig! Mir kamen die Tränen, so verletzt fühlte ich mich - und später dann kam auch die Wut. Zum Glück hab ich mich nicht auch noch zum Zurückschlagen hinreißen lassen - das kostet nämlich mich selbst am meisten, nicht den "Gegner", der ja bereits in Feindseligkeit badet. Ich dagegen werde den Teufel tun und mich an solche Gefühle binden, indem ich sie durch eigene Kampfmaßnahmen (die gewiss wieder entsprechende Reaktionen erzeugen) in die Zukunft mitnehme. Meine Emails will ich in Frieden in die Mailbox rieseln sehen, und nicht in adrenalinschub-bereiter Hab-Acht-Haltung!

Meinen Geburtstag werde ich nun also diesmal feiern - nicht als Party, sondern als festlichen Tag mit mir selbst. Vielleicht einen Fotospaziergang machen: die Welt, wie ich sie mit 49 sehe. Oder etwas besonderes Schreiben, mal sehen, was mir dazu noch einfällt, die Idee ist ja erst ganz frisch.

Claudia Klinger, 11.07.2003

Zwei Augen schauen dich an

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