Claudia am 02. August 2012 —

Wohlstand – Fluch oder Segen?

„Wohlstand fördert Faulheit und Dummheit“ schrieb ein Leser in den Kommentaren zum letzten Artikel, der die Frage stellte, wofür es Religion braucht. Erst wenn es den Leuten wieder richtig schlecht gehe, werde Religion wieder Konjunktur haben. Andere Mitschreiber fanden das Thema ganz für sich genommen reizvoll. Mich ärgert diese Fragestellung eher, was natürlich auch eine Art Reiz ist. Jedenfalls genug, um darüber zu schreiben.

Was würde ich tun, wenn ich ans Geld verdienen gar nicht mehr denken müsste? Für mich ist das sonnenklar: ich würde keine Web-Auftragsarbeiten mehr machen, sondern die so gewonnene Zeit den Themen und Politikfeldern widmen, die mir am Herzen liegen. Wäre ich richtig wohlhabend, würde ich nach und nach alles, was ich nicht zum Leben & Arbeiten brauche, ebenfalls in Projekte und Kampagnen investieren, die diesen Zielen dienen.

Wohlstand wäre also ein Segen, der mich freier macht, zu tun, was sinnvoll ist, ohne dabei auf kommerziellen Erfolg schauen zu müssen. Dass ich nicht wohlhabend bin, verdankt sich andrerseits der Tatsache, dass ich immer schon ein „Tun, das sinnvoll ist“ dem Streben nach Geld, Status, Sicherheit und Konsum vorzog.

Wie die Made im Speck?

Aber halt: Bin ich nicht doch wohlhabend? Lebe ich im bundesrepublikanischen Sozialstaat nicht wie die Made im Speck – verglichen mit Menschen in anderen Weltteilen, die unter weitaus ungemütlicheren Bedingungen ihr Leben fristen müssen? Gegen einen Afrikaner, der sich mit Unterstützung seines ganzen Clans aus seinem perspektivlosen Chaos-Land aufmacht, um den extrem gefährlichen Trip ins gelobte Europa zu wagen, bin ich doch nur eine faule, Risiko-scheue Sau, träge, satt und bequem!

Nach dem 2. Weltkrieg war in Deutschland niemand übergewichtig und alle hatten sehr viel zu tun. Not machte erfinderisch und flexibel, die Schrecknisse und Verbrechen der Nazi-Zeit wollte man vergessen und widmete sich mit ganzer Kraft dem Wiederaufbau. Das Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf und dessen Kinder hatten es dann auch wirklich besser – viel besser! Ich konnte mit 19 von zuhause ausziehen, kostenlos studieren und BAFöG in einer Höhe beziehen, die zum Leben reichte. In den ersten Jahren als Zuschuss, später – der Sozialabbau begann recht früh – als Darlehen.

War ich später mal arbeitslos, bezog ich Arbeitslosenhilfe in Höhe von 65% des letzten Einkommens – unbegrenzt! Voraussetzung war, mal sechs Monate angestellt gewesen zu sein, was ich mittels eines öffentlich geförderten Stadtteilvereins auch punktgenau schaffte. Dort leistete ich mehrere Jahre politische und soziale Arbeit in einem Umfang, der geschätzt 1,5 bis 2 Normalstellen entsprach. Ich hatte ja keine anderen Freizeitinteressen, es war Freude, Spannung, Sinn-Gebung, Abenteuer. Es gab Anerkennung und Erfolge in der Sache – und da diese dem Gemeinwohl zu Gute kamen, hatte ich niemals ein schlechtes Gewissen wegen des zeitweisen Bezugs von „AlHi“.

Schluss mir Wohlstand für alle

Träge und dumm hat mich dieser „Wohlstand“ der alten BRD also nicht gemacht. Dass sich in den 90gern die Welt dann drastisch veränderte und in der Wirtschaft der „Shareholder-Value“ zum obersten Wert wurde, sehe ich als Niedergang und Elend an. Die Einkommen stiegen nurmehr „oben“ und AGENDA 2010 exekutierte hierzulande, was die globalen Eliten den Massen verordneten: Zeitarbeit, Mini-Jobs, extreme „Flexibilität“, Arbeitsverdichtung, Hetze – und extreme Angst vor dem Arbeitsplatzverlust für alle, die noch einen solchen haben.

Dass die Bereitschaft zum neuen flexiblen Arbeiten zu Hungerlöhnen Grenzen hat, ist aus der Sicht dieser Eliten ein Ärgernis. Wir sollen den „Arbeitsplatz“ als höchsten Wert ansehen, Freunde und Familie der Flexibilität opfern, uns fortwährend optimal selbst vermarkten und rund um die Uhr erreichbar sein. Der Elan junger Menschen wird über Jahre in ganz oder fast Honorar-freien Praktika verheizt, wofür sie gefälligst dankbar sein sollen. (Immerhin können sie ja so von sich sagen „ich mach was mit Medien“!) Bei den Steuern spart man auch mit allen Mitteln, doch darf der Staat gerne die fehlenden Einkommen „aufstocken“ und ohne Ende Banken retten. Auf Pump, klar – daran wird dann nochmal kräftig verdient. Je mehr Zinsen auf Staatsanleihen, desto besser!

Wer sich dem Rattenrennen ganz oder teilweise entzieht, muss selbstredend als Sozialschmarotzer diskriminiert werden. Das Volk soll genau drauf schauen, ob sich auch der Nachbar ordentlich krumm legt – nicht auf die immer reicher werdenden Reichen, die nicht mehr wissen wohin mit ihrem „Not leidenden Kapital“, das immer mehr leistungsloses Einkommen abwirft.

Dass die Arbeit insgesamt immer weniger wird, bzw. früher notwendige menschliche Arbeit zunehmend durch Software ersetzt wird, könnte unter anderen Vorzeichen ein befreiender Prozess sein. Ist es aber nicht, denn unser „System“ verhindert, dass die Einsparungen allen zu Gute kommen, alle weniger arbeiten und mit weniger Arbeit MEHR verdienen.

WER in diesem ganzen Umtrieb lebt nun im wahren „Wohlstand“? Und WER wird deshalb faul und dumm?

Diskussion

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8 Kommentare zu „Wohlstand – Fluch oder Segen?“.

  1. Der Wohlstand im Moment ist eher ein generierter Scheinwohlstand. Das darf man nicht vergessen, kommt erschwerend zu den Problemen mit der Umverteilung hinzu.

    Auto, Industriezucker und andere Gifte machen uns dick, Computer und TV reduzieren die Verbrennung genauso.

    Fernsehen und Videos anschauen macht dumm und träge, unabhängig vom Device. Deswegen macht es Sinn sich zu bewegen und zu denken.

    In Österreich ist die ‚Arbeitslose‘ (Unterstützung) und war immer limitiert im Regelfall auf 3 bis 6 Monate und erst viel viel später nach 25 Jahren Versicherungszeit 12. Aber das war es. Und das ist an sich auch ok so.

    Im Moment durchleben wir eine ‚Creative Destruction‘. Das sind Zeiten des Aufbruchs oder Umbruchs. Letzte war Mitte der 80er bis 90er.

    Materialismus = Fürs Denken wurde noch keiner bezahlt, deswegen wird fern gesehen.

    Mir kommt vor, dass in .de im Gegensatz zum Rest Europas die Politik der Kombination Staat + Wirtschaft anmaßt die Gesellschaft zu sein – etwas blumig formuliert. Über das sollten wir weit hinauswachsen in Mitteleuropa.

    Zu viele Dinge zu haben respektive zu horten macht träge. Besitz und Eigentum machen tendenziell dumm und faul.

    Wer in der Softwareentwicklung oder im Berufsleben zu viele fertige Teile kombiniert wird denkfaul. Ein puristischer Zugang mit limitierten Ressource führt oft zu passenderen Lösungen – egal was man macht. Dem entgegen wirkt aber der zunehmende Grad an Scheininnovation und dessen Wahrnehmung als wertvolle Ergänzung gesteuert durch Werbung in Form von manipulativem Marketing . Wir stehen wirklich kurz davor im Eck Konsum zuviel zu haben von allem.

    Ich fiele in die oben genannte Kategorie auch wenn ich ‚Danistakrat‘ ob Konsumverweigerung und freier Miete wäre – aber Nachdenken über sinnstiftende Dinge muss man sich selbst finanzieren – sprich BGE über Zinsen. Das ist zwar absurd aber ist so. So 30 Stunden schafft man locker … und mehr braucht der Mensch nicht mehr arbeiten.

    Die Industriegesellschaft kommt nicht weg von den 40 Stunden, denn die ordnen die Gesellschaft der Wirtschaft unter, das ist in Sozialistischen Staaten – Deutschland = Russland wie wir es aus den Zeiten des Stalinismus kennen vom Fernsehen, besser gesagt viel schlimmer. Der Entzug von Licht usw… das hat Methode … man verliert den Tag.

    Die Begründung für die 40 Stunden Woche konnte mir noch keiner geben. Ich schaffe was andere in der Woche schaffen in 12 Stunden konzentrierter Arbeit oder weniger. Aber ein Unselbstständiger muss sich da plagen mit Scheinarbeit.

    Denn die Jobs die jetzt noch etwas bringen, müssten definitiv in der staatsunabhängigen Realwirtschaft entstehen – selbst Fresenius und seine Mitarbeiter werden über Steuern bezahlt, Pharma, große Teile des Baus, Teile von Siemens, Beamte, Leher, öffentliche Betriebe, ausgegliederte Betriebe mit Staatsnähe – die Arbeiten zwar, werden aber von immer weniger mitfinanziert. Arbeiten tun alle… so ist es nicht. Aber das bringt nix, zahlen tut der Kunde nicht der Unternehmer – deswegen ist es wichtig wo der Mehrwert entsteht.

    Alle deren Gehalt/Einkommen durch Abgaben finanziert wird letztendlich oder der Umsatz des Arbeitgebers – fallen den verbleibenden 40% zur Last bezüglich des Erwirtschaftens des Mehrwerts.

    Nun kommt aber eine andere Sicht zu tragen, das ganze funktioniert allein über Produktivitätszuwachs … höherer Grad der Automatisierung … klar. Warum jetzt dem Menschen mehr zahlen, wenn er immer unwesentlicher wird?

    Die Betrachtung geht nicht mehr lange gut, das ist amtlich.

    Wir geben ja 70% des Lohns wieder ab … d.h. es bleiben max 30% für das Individuum über. Es sind sogar etwas mehr als 70%.

    Meine Lösung wäre sich auf der Stelle in Richtung schlüssige Lösung für die Gesellschaft zu stürzen, auch wenn das Gros der Bevölkerung noch immer geblendet ist vom der materialistischen Propaganda. Sie suchen schon, der Groschen ist schon ein Weilchen gefallen.

    Ich denke immer mit anderen Zusammenarbeiten, das stärkt die Position. Einer Gruppe kann niemand so leicht an. Lebe wie ein Häschen und jage wie die Hyänen und Hierarchien sind machtlos.

  2. Ich schaffe das oft nicht in 40 Stunden, was andere in 20 Stunden schaffen. Das liegt aber nicht an der Zeit, sondern mehr an der Qualität. Behaupte ich mal zumindest.

    Danke, @Claudia, dass du das Thema aufgegriffen hast. Ich bin erst später darauf gekommen, dass es eigentlich:
    „Wohlstand – Fluch UND Segen“ heißen müsste.

    Ich befinde mich noch sehr oft in der „Oder“-Falle. Das eine „oder“ das andere. Aber im Wohlstand ist wohl beides. Der Segen als Glück – UND – der Fluch als Gefahr.

    So habe ich das bei Dirk und bei Relax-Senf verstanden und würde dem so zustimmen.

    Das Glück, meine ich, brauchen wir nicht analysieren. Das kann ich in Dankbarkeit aufnehmen, Dazu gehört aber auch, dass ich mir das explizit bewusst mache. Dazu gehört auch, dass ich das Punkt für Punkt aufzähle. Ansonsten ist es nur Wischi-Waschi.

    Das Glück im Wohlstand ist definitiv für mich der Friede, die Sicherheit des Existenzminimums.
    Als erste Nachkriegsgeneration ist es auch für mich, niemals in einem Luftschutzkeller im Angstschweiß des neben mir Sitzenden selbst Angst bekommen zu haben, „Hunger“ nur einmal aus einer logistischen Fehlentscheidung kennen gelernt zu haben (und das Gottseidank nur sehr kurz), ich mich immer recht flexibel an die sich langsam ändernden Umstände anpassen konnte, viele Entscheidungen sich nicht zwingend aus den Lebensumständen ergeben haben, sondern nahezu eine „freie“ Wahl waren, „Geld“ wohl ab und zu mal knapp war, aber nie eine Besorgnis erregende Größe darstellten, wie überhaupt, materielle Wünsche nie an einer wirklichen Größenordnung gescheitert sind,..

    Ja, und dann ist da die Kehrseite der Medaille.
    Die Gefahr.

    So wirklich, habe ich immer mich selbst nur immer über das materielle definiert. Eine Gönnerposition. Die einfachste Spielart, die allerdings sehr viel Kraft erfordert.

    Passend dazu der Typ Frau, der sich über das Äußere definiert. Ebenfalls eine einfache Spielart, die allerdings sehr viel körperlicher Pflege bedarf.

    Alles Schein!

    Was liegt darunter?

    Im Wohlstand sehe ich die Gefahr, dass wir uns zwischenmenschlich entfernen. Aber was brauchen wir mehr:
    Geld (Wohlstand) oder Nähe?

  3. WER in diesem ganzen Umtrieb lebt nun im wahren “Wohlstand”?
    – Ist eine subjektive Einschätzung jedes Einzelnen, genauso wie „Glück“. Wenn ich nicht mehr 100% meiner Zeit ums Überleben und Gesundsein kämpfen muß, sondern freie Entscheidungen treffen kann, welches Tun gerade für mich „sinnvoll“ sein könnte, d.h. wie ich mich als Mensch / Individuum positionieren kann und welchen eigenen Bedürfnissen ich nachgehen kann, das wäre für mich ein Zeichen für „Wohlstand“. Ein großes Haus und ein dickes Auto für die ich mich totarbeite und die mir keine Zeit für „mich“ lassen ist in diesem Sinne natürlich kein „Wohlstand“ weil dieser „Stand der Dinge“ nicht „wohl“ tut sondern über kurz oder lang in die Sinnkrise führt.

    Der bisherige Wohlstandsbegriff kommt aus der materiellen Begriffswelt und bereitet heute Definitionsschwierigkeiten weil (zum Glück) die geistig/spirituelle Sichtweise sich bei vielen Menschen dazugesellt.
    Da sehe ich auch eine gewisse Spaltung der Gesellschaft; die Einen reden vom notwendigen Wachstum, Wachstum, Wachstum (Anm.: Was macht der Krebs? Richtig: wachsen, wachsen, wachsen), mehr „Wohlstand für ALLE“ (materiell), die Anderen fahren ihren materiellen Wohlstand zurück (teils freiwillig, teils gezwungenermaßen)und entdecken das Glück, Zufriedenheit, Wohlstand auch auf der geistigen Ebene zu entdecken sind. Diese Menschen entdecken auch ihre „Verantwortung“ für ihr Tun auf der materiellen wie auf der nicht-materiellen Ebene.
    Ein weites Feld….
    Gruß aus Hamburg

  4. Ich danke Euch für die umfangreichen Resonanzen! Und picke mir mal einen Punkt von Menachem heraus:

    „Im Wohlstand sehe ich die Gefahr, dass wir uns zwischenmenschlich entfernen.“

    Das erinnert mich an die Wiedervereinigung. In der DDR war man einander mitmenschlich viel näher, weil es an vielem mangelte und man auf gegenseitige Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags und der Beschaffung vieler Dinge angewiesen war.

    Nach der Wende schwappte schnell das gesamte westliche Warenangebot herein und diese Art Solidarität aus Not verschwand (nach allem, was ich hörte und las) auch recht bald.

    Im Kleinen hat man das Phänoman auch an Bushaltestellen, wenn der Bus nämlich nicht kommt: Erst ignorieren die Wartenden einander, doch je klarer wird, dass etwas nicht flutscht wie gewohnt, spricht man miteinander, tauscht Vermutungen aus, diskutiert Alternativen etc.

    Not bringt die Menschen einander näher, das ist klar und auch gut so. Aber deshalb Wohlstand zu beklagen, erscheint mir irgendwie zynisch und „von oben herab“. Schließlich ist die Nähe aus Not keine frei gewählte Nähe: man wünscht sich, dass der Bus kommt, nicht etwa ein Gespräch mit den anderen Wartenden.

  5. Danke Claudia für diesen Artikel. Meine Sicht der Dinge ist eine recht einfache, wir müssen endlich mal wegkommen von dem Begriff „Wohlstand durch Wachstum“. Das wird hier in Europa nicht mehr lange praktizierbar sein. Oft habe ich das Gefühl, das wir alle nur noch in eine gewaltigen Umverteilungsmaschine sitzen, von Vielen auf Wenige. Alles scheint mir im Moment sehr gleich, alles geht in eine Richtung, wer diese nicht mit will, der wird „gedisst“, mit welchen Methoden auch immer. Immer mehr habe ich das Gefühl, es kommt nur noch auf diese merkwürdige Geld an, alles andere, besonders Engagement im sozialen Bereich zählt nicht mehr.

  6. @Acquii, Engagement im sozialen Bereich scheint mir heutzutage eine seltene Pflanze zu sein. Mich selbst verwundert daher oft das Engagement von Helfern bei Festivals und Veranstaltungen. Es gibt das also noch immer.

  7. Es gibt ein interessantes Büchlein, das einen Zusammenhang zwischen der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern und Wohlstand herstellt: Gender Balance von Peter Jedlicka.

    Kann ich nur empfehlen!

    I. Gebhart

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