Claudia am 12. Dezember 2005 —

Vom Glück

1997 baute ich das erste Mal eine Website zum Thema Glück. Ich schrieb einen langen Artikel, bekam tief schürfende Lesermail, der ich (händisch!) neben dem Text Platz einräumte, gestaltete das Ganze möglichst mystisch und investierte jede Menge Herzblut in die vielen Details – was für eine nette Erinnerung an bewegte Netz-Zeiten, als noch nicht jede Seite eines Projekts aussehen musste wie die andere!
Inhaltlich aber entlockt mir das meiste, was ich damals schrieb, heute ein großes Gähnen. Ganz nett, recht unterhaltend, stellenweise geistreich und philosophisch, letztlich aber reine Zeitverschwendung: abstraktes Geplaudere über dies und das, wie es sowieso aus allen Medien quillt. Da wird viel spekuliert, was Glück bedeuten könnte oder auch nicht: ein fester Arbeitsplatz, Reichtum, Ruhm und Ehre, Konsum und Erfolge? In pseudo-objektivem, fast journalisitschen Stil und im Duktus eines wolkigen „wir“ schreitet der Text voran, bzw. mäandert recht ziellos von Gegenstand zu Gegenstand, um schließlich das Thema „Glück“ zugunsten anderer interessanter Themen ganz zu verlassen, ohne dies irgendwie zu rechtfertigen.

Das Abenteuer

Letzteres war mein Glück! Das echte, wahre, gelebte Glück der freien Entfaltung im Augenblick: Zum ersten Mal wagte ich es damals, einen Text zu beginnen, ihn auch auszustellen und um Kommentare zu bitten, von dem ich zu Beginn und über weite Strecken nicht wusste, wohin mich all diese Gedanken führen würden. Das war neu, für mich geradezu revolutionär, die ich doch gewohnt war, zuerst zu denkerischen Ergebnissen zu kommen, um dann abzuwägen, ob sie für „die Welt“ geeignet seien. Wie es dem Publizieren im Druck eben entspricht: man schreibt einen Artikel und bewertet dann, ob er die Veröffentlichung wert ist – Unsicherheiten während der Erstellung, mangelnde Stringenz der eigenen Meinungen und allerlei weitere Stolpersteine werden gemeistert, BEVOR man sich mit seinem Werk einer Öffentlichkeit aussetzt.

Mit „Glück“ verließ ich diese ausgetretenen, gesicherten Pfade und fühlte mich wie auf dem Hochseil! Ich agierte ohne den Schimmer einer Ahnung, ob „Glück und mehr – work in progress“ ein katastrophaler Flop werden würde oder ein geniales Textlabyrinth, das alle faszinieren und zum Mitschreiben anregen würde, die damit in Berührung kämen. Ich reihte Sätze aneinander, ohne etwas Bestimmtes sagen zu wollen und freute mich, dass es sich dann doch sinnvoll anhörte: weltkundig, fähig, beschlagen, sympathisch. Ich lernte, dass ich mich auf die allmähliche Entstehung der Gedanken beim Schreiben verlassen konnte, egal, um welchen Gegenstand es sich handelte. „Glück“ im allgemeinen interessierte mich nämlich nicht die Bohne, es ging einzig ums experimentieren, ums publizieren im neuen Medium Internet, in dem ENDLICH jeder selber machen konnte, was er wollte (ja, damals war das noch so!). DAS war der Hammer, das große Abenteuer, das neue Spiel – und „Work in Progress“ das aktuelle Wagnis, der Schritt weiter auf noch unbekannten Pfaden, in dem ich gänzlich aufging – mein Glück eben!

Und das ist es auch heute noch: wenn das Leben nicht einfach so seinen gewohnten Gang geht, wenn ich NICHT fortwährend im Halbschlaf der Routinen agiere, sondern der unergründliche, abenteuerliche, manchmal auch abgründig-absurde Charakter dessen, was ist, spürbar wird: DAS macht mich glücklich! Weil es dem Mysterium entspricht, dem Staunen darüber, dass etwas ist und nicht nichts, wie es die Philosophen in Worte fassten.

Entsprechen

Im Wort „entsprechen“ liegt vielleicht der Schlüssel zum Glück, wie ich es heute verstehe. Es entspricht nicht den Erfordernissen, mir irgend etwas auszudenken, was ich sein, werden oder besitzen sollte, um dann damit glücklich (oder auch nur zufrieden) zu sein. Sondern ich will im „Akt des Daseins“ aufgehen, mit meinen Talenten und Fähigkeiten an passender Stelle das Not-wendige tun – ob es meine Not, deine Not oder unser aller Not ist: egal! Diese Unterscheidungen und Trennlinien sind sowieso reine Einbildung: wie könnte ich glücklich sein, wenn alle um mich her leiden?? Wir sind Primaten und werden uns niemals vollständig vom Wohl und Wehe der „Horde“ lossagen können. Schon der Versuch zeigt an, dass etwas nicht stimmt, dass etwas Wesentliches aus dem Gleichgewicht geraten ist, nämlich die innere Balance zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Aspekt.

Wie finde ich nun das, was entspricht? Indem ich hinsehe, was gebraucht wird, und hinspüre, ob ich mich im Tun wohl, bzw. gut und richtig fühle. Es macht mir zum Beispiel Freude, Webseiten zu bauen, neue Projekte zu entwickeln, sie bekannt zu machen und wachsen zu lassen – das ist kein blasser theoretischer Gedanke, sondern gesichertes Wissen aus vielfachem Erleben und fortdauernder Freude an der Arbeit. Wie steht es aber mit der Frage nach dem Inhalt der zu gestaltenden Webprojekte?? Anstatt da nun viel zu grübeln und abzuwägen, was denn von allgemeiner Nützlichkeit und Wichtigkeit sein könnte (vielleicht „Glück“? Das will doch eigentlich jeder… oder nicht?), fände sich die Antwort vergleichsweise leicht in der Serverstatistik. Da steht sehr konkret, was die Welt hauptsächlich sucht, wenn sie auf meine Seiten zugreift, nämlich:

  • Porno für Frauen
  • Tietze-Syndrom
  • Sinn des Lebens
  • Bondage-Geschichten

Seit Jahr und Tag landen Menschen mit diesen Bedürfnissen auf dem Klinger-Web und werden doch nur marginal zu ihrem Wunschthema bedient – mal die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ ausgenommen, die durch das Gesamtprojekt ausreichend beantwortet wird (nämlich so: in Sachen „Sinn des Lebens“ sind wir nicht Fragende, sondern geben durch unser Leben täglich selber Antwort).
Bleiben noch „Porno für Frauen“, „Tietze-Syndrom“ und „Bondage-Geschichten“ – warum an selbst erdachten Themen eigenwillig festhalten, wenn es doch so klare Wünsche gibt?
Für den Moment ist diese Betrachtung nur ein Beispiel fürs „Ensprechen“, doch morgen schon könnte ich in die Arbeit an diesen Themen versunken und restlos glücklich sein!

Das „passive“ Glück

Was macht noch glücklich außerhalb des fließenden Werkens und Wirkens, das eine kreative Arbeit bietet? Neben dem Glück in der Aktivität gibt es den anderen Pol: das Glück des Beobachters, bzw. das Gewahrsein und bewusste Genießen dessen, was gerade ist. Dazu braucht es die Fähigkeit, die geistige Kupplung zu treten und den inneren Monolog zu stoppen. Mir gelingt das am leichtesten durch kurze Konzentration auf eine physische Sensation: ein und ausatmen, den Körper spüren – und schon bin ich glücklich, dass es um mich her so angenehm warm ist! Ich genieße die vielgestaltigen Farben und Formen der Umgebung, freue mich, dass gerade keinerlei Schmerzen die Aufmerksamkeit bündeln, gerate gelegentlich in nahezu ekstatische Zustände und fühle unendliche Dankbarkeit, dass ich hier und heute in Frieden und schierem Überfluss lebe.

Der aktive und der passive Zugang zum Glück steht mir zu jeder Zeit offen, doch ist Glück seiner Natur nach nichts Stabiles: mehr oder weniger schnell verwandelt es sich wieder in Richtung Unglück und Leiden. Wäre dem nicht so, könnten wir weder das eine noch das andere wahrnehmen: es ist das Wesen der Polarität, dass es immer nur BEIDE Seiten der Medaille gibt. Oh wie schön, wenn der Schmerz nachlässt – im Grunde ist alles Glück eine Variante dieses Erlebens. (Das größte „gefühlte Unglück“ findet sich denn auch in Gesellschaften, die äußerlich ein reiches und rundum abgesichertes Leben bieten – das Leid kann hier kaum mehr von außen kommen, sondern muss als psychisch-geistige Krankheit von innen an der Seele nagen).

Um die natürliche Flüchtigkeit glücklicher Zustände zu wissen, ihre strukturelle Notwendigkeit zu akzeptieren (es fragt uns eh keiner!), ergibt noch einmal ein tieferes „Glück“: Gelassenheit gegenüber der ständigen Veränderung, innere Unabhängigkeit, Freiheit vom Stress des Strebens, Frieden und ein heiteres Gemüt.

Glückbringende Zweisamkeit?

Und wo bleibt der Mitmensch? Das vielbesungene Liebesglück?? Zweisamkeit, Familie, Gesellschaft? Wer das Glück beim Andern sucht, sitzt einer Illusion auf und richtet sich damit mehr als das übliche Quantum Unglück an. Dass es gewiss die attraktivste der gängigen Illusionen ist, noch dazu im Fall der Verliebtheit körperchemisch heftig unterstützt, ändert nichts am grundsätzlich illusionären Charakter der Vorstellung, unser Nächster sei Glücksgarant oder Lieferant. So zu denken, sich so zu verhalten, bedeutet die Begründung einer (vermeintlichen) Abhängigkeit und das Abwälzen von Verantwortung für den eigenen Seelenzustand auf andere. Irgendwann wachsen wir aus dieser Erwartung heraus oder wir versteinern und verbittern, der Welt ewig böse, weil das Gewünschte nicht zu erreichen ist.

Dass die Natur zu Zwecken der Fortpflanzung und Kinderaufzucht das Verlangen nach dem Geschlechtspartner (als erotischer Gespiele, nicht als Beute!) entwickeln und etablieren musste, zwangsläufig mitsamt dem Gefühl der Einsamkeit und Unvollständigkeit, wenn gerade keiner greifbar ist, bedeutet ja nicht, dass das „gewitzte Tier“, das wir geworden sind, das Spiel nicht eines Tages durchschaut. Nicht unbedingt in jungen Jahren (das wäre eher kontraproduktiv), sondern eher in vorgerücktem Alter, wenn Wahrnehmen und Erkennen gegenüber Handeln und Kämpfen auf dem Vormarsch sind.

Wenn ich mich mal des Abends allein zuhause ein paar Augenblicke unruhig und einsam fühle, dann stell‘ ich mir gerne vor, wie es jetzt wäre, wenn dieser oder jener Freund meines Herzens anwesend wäre. Dann wird mir sogleich klar, dass die vorgestellte Zweisamkeit auch eine negative Seite hat: Für A bin ich eine andere als für B oder C, mit jedem Gegenüber lebt sich ein etwas anderer Teilbereich dessen aus, was ich bin. GANZ bin ich nur mit mir alleine, in der Potenzialität ohne Verwirklichung bin ich der Vollständigkeit am nächsten, bin bei mir zuhause – wie schön.

Seit ich das nicht nur weiß, sondern allein und in jedem Zusammensein auch spüre, empfinde ich keinen Mangel mehr, was andere Menschen angeht. Der Wegfall des Haben-Müssens nimmt einen Stress weg, dessen Abwesenheit auch der Mitmensch wohltuend spürt. Glückliches allein sein ergibt ein fröhlich entspanntes Miteinander – ich kann es nur empfehlen!

Glück – nun hab‘ ich einen ganzen Vormittag mit der Meditation dieses „Schreibimpulses“ verbracht! Zu Weihnachten hin schließe ich so manche Brotarbeit ab und hab‘ wieder etwas mehr Zeit für „geplante Themen“ und andere Kreativ-Arbeit – was für ein Glück!!!

Wenn es mit dem Spruch „Only bad news are good news“ etwas auf sich hat, wird dieser Diary-Beitrag zu den langweiligsten und überflüssigsten gehören, die je geschrieben wurden!

Macht aber nichts – macht mich nur glücklich!

Dieser Artikel wäre vielleicht nur eine Idee geblieben, hätte ihn nicht ein Diary-Leser unterstützt! 1000 Dank! Ich habe die mir so geschenkte „Schreibzeit“ sehr genossen!