Claudia am 28. September 2005 —

Nichts bleibt, wie es war

Über den Umgang mit Veränderungen und Verlusten

Noch stehen die Pyramiden. Immer wieder staune ich über diesen Ausdruck des Willens eines ganzen Volkes, der Vergänglichkeit etwas Dauerhaftes entgegen zu setzen. Der Todeskult, die extreme Orientierung auf ein jenseitiges Weiterleben, das mittels bestimmter Methoden und Techniken erreichbar schien, erscheint wie das erste große Aufbäumen der Menschen gegen die Vergänglichkeit: der erwachte Verstand kann sein eigenes Ende nicht fassen und tritt „mit allen Mitteln“ dagegen an! Faszinierend und tragisch zugleich.

„Und alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit“ – also sprach Nietzsche und trifft damit eine Wahrheit, die jeder in sich spüren kann: wir wollen alles, was wir „haben“, festhalten: geliebte Menschen, mühsam erworbenen Besitz, einmal erreichten Status, Gesundheit, Jugendlichkeit, Bequemlichkeit, glatte Haut. Wachsen und Werden wird verstanden als Macht und Besitzstand mehren, und die Bewegung, die Anstrengung, die das mit sich bringt, lenkt die Aufmerksamkeit vom Vergehen und Verlieren, vom unaufhaltsamen Verschwinden aller Dinge eine Zeit lang ab. Manche Menschen setzen sich ins Auto, wenn sie sich mies fühlen, und fahren einfach ohne Ziel herum: die bloße physische FORT-Bewegung verbessert das Befinden, die Situation am Steuer gibt ein Gefühl von Macht und Einfluss, das Umschlossensein von einer guten Tonne Blech und Plastik vermittelt Sicherheit. Es geht voran, und wo es voran geht, winken Gewinne, man fährt den drohenden Verlusten, der Leere, dem Sterben einfach davon.

Kann man sich mit dem Verschwinden, mit Verlusten aller Art anfreunden? Als Kind wurde ich von einer übermächtigen Kinderbande oft gezwungen, an sportlichen Wettläufen teilzunehmen, die mir extrem verhasst waren. Ich war die kleinste, jüngste und schwächste im Club, noch dazu eine „Zugezogene“, deren Mundart vom Hessischen abwich. Es strengte mich über alle Maßen an, dreimal um den Hof und dann hechelnd dem Ziel entgegen zu rennen, und so kam ich eines Tages auf die verzweifelte Idee, jedes Streben einfach aufzugeben. Von einem Augenblick zum anderen hörte ich auf, noch irgendwie einen engagierten Eindruck machen zu wollen, um mir wenigstens minimalen Respekt meiner Mitkinder zu erhalten. Ich ließ mich auf halber Strecke auf den Kiesweg fallen, schürfte mir die Knie blutig, schied so aus dem Rennen und hatte meine Ruhe.

Voraussetzung dieser allzu selbstverletzenden Art, den Notausgang zu nehmen, war mein Erfahrungswissen, dass ich sowieso keine Chance hatte, zu gewinnen oder auch nur einen Platz im Mittelfeld zu erreichen. Wie immer, würde ich die Letzte sein, auch wenn ich mich noch so sehr bemühte. Warum also nicht GLEICH aussteigen aus dem Rattenrennen?

Scheitern, versagen, nicht genügen, verspottet und verlacht werden – diese Erfahrung beherrschte meine Kinderjahre. Es gab für mich auch keinen sicheren Flucht- oder Rückzugsort, denn zuhause terrorisierte mich mein oft alkoholisierter Vater, und meine Mutter konnte mich zwar vordergründig trösten, mich aber nicht wirklich beschützen.
So blieb mir nur übrig, in mir selbst mit alledem einen Umgang zu finden, der mich weiter leben ließ. Das „aufgeben und loslassen“ war eine der Methoden, die ich fand.

Gar nicht erst kämpfen, das verbraucht nur nutzlos Energie und macht nichts besser – als EINZIGES Konzept für ein ganzes Leben ist das nicht unbedingt hilfreich und ich bin froh, dass sich meine Lage mit der Einschulung veränderte: Lesen und Schreiben beherrschte ich gut und bekam dafür auch Anerkennung. Plötzlich bekam Anstrengung und Bemühen einen Sinn, aber das ist eine andere Geschichte.

Nichts zu verlieren

Das, was ich in den „schrecklichen Jahren“ mit der Kinderbande lernte, nämlich das Leben am (gefühlten) sozialen Nullpunkt, umgeben von Feinden oder falschen Freunden, die jederzeit und auf gänzlich unberechenbare Weise zu Angreifern werden konnten, war „trotz allem“ nicht etwa nutzlos. Alles, was später kam, war dann nämlich vergleichsweise leicht zu bestehen: die Kämpfe und Irritationen der Pubertät, das Leben in den Peer-Groups als Jugendliche, die heftigen Auseinandersetzungen in fast symbiotischen Zweierbeziehungen, schließlich die politischen Aktivitäten, der kreative Kampf um die Teilhabe an der Macht, die „wir“ nicht den Parteien und etablierten Institutionen überlassen wollten.

Auf all diesen Ebenen war ich erfolgreich, nicht zuletzt deshalb, weil ich „innerlich radikal“ sein konnte: die Möglichkeit, die eigenen Errungenschaften, Ansprüche und Wünsche von einem Augenblick zum anderen vollständig loszulassen, gab meinen Aktivitäten eine gewisse Leichtigkeit, einen Aspekt des „Spielerischen“, der große Dynamik und das Eingehen von Risiken ermöglichte. Ohne lange darüber nachzudenken, opponierte ich auch gerne gegen Versuche, für alle Probleme oder Gestaltungsaufgaben ENDLÖSUNGN zu finden. Von der Verkehrsberuhigung über die Brunnenplatzgestaltung bis hin zur halbjährlichen Renovierung einer Kneipe, die ich mit einem Freund betrieb: immer suchten alle nach Lösungen „für immer“, ohne sich bewusst zu fragen, ob das denn so sein muss, ob „für immer“ überhaupt zu haben ist! Aber egal, es musste ein Aufwand getrieben werden, als ginge es um Ewigkeit – und oft genug verhinderte gerade dieser unbewusste Perfektionsanspruch, dass überhaupt etwas zustande kam.

Alles verändert sich

Wo es um Menschen geht und nicht um Dinge, ist festhalten und besitzen wollen nicht nur kontraproduktiv, sondern geradezu Gift für Freundschaft und Liebe. Projekte, Geschäfte und das große Abenteuer des Kinderaufziehens brauchen Verbindlichkeit und Stabilität, ohne Frage. Das meine ich hier auch nicht, sondern das Sehnen danach, dass der Andere morgen und nächste Woche ganz genauso sein möge, wie er gestern war, als man miteinander Schönes erlebte. Wer sich selbst beobachtet, stellt fest, dass es so etwas wie ein gleich bleibendes Ich gar nicht gibt. Da ist ein ständiger Fluss der Veränderung, Gedanken, Gefühle, Empfindungen kommen und gehen, Prioritäten verändern sich, sogar ganze Weltbilder bröckeln mal locker weg, wenn sich die Umstände drastisch ändern. Wer kann wissen, was und WER er morgen sein wird? Möchte ich bleiben, was ich heute bin? Wünsche ich mir Freunde und Geliebte, die mich so konservieren wollen? Gewiss nicht! Lieber werde ich verlassen, als dass ich so bleibe, wie X mich gerne hätte, das steht ja nicht einmal in meiner eigenen Macht! Ich könnte nur „so tun als ob“ und ihm ein Schauspiel bieten, anstatt mich zu geben, wie ich gerade bin, und so etwas mache ich nicht umsonst. Da bedarf es einer ordentlichen Gegenleistung – und schon sind wir im Reich der (Beziehungs-)Geschäfte und nicht mehr im Raum der Liebe!

Ist nicht gerade die Veränderung, das Unberechenbare, das unerforschliche Werden und Sich-Verwandeln das Spannende im Leben, das Wunderbare am Mitmenschen??

„Genießen war noch nie ein leichtes Spiel“ sang Constantin Wecker und meint damit die Tatsache, dass „mehr vom selben“ nicht zu mehr Genuss, sondern zum Gegenteil führt: zu Überdruss und Langeweile. Unser Gehirn ist nicht dafür ausgelegt, Gleichförmigkeit lange zu ertragen: egal ob Freude oder Leiden, nach einiger Zeit verändert sich das Erleben, tendiert wieder auf die andere Seite der Bandbreite zwischen dunkel und hell, schrecklich und schön, Glück und Verzweiflung, Lust und Schmerz.

Alles, was gewonnen wird, wird auch wieder verloren. Sich darin zu erschöpfen, dem entgegen zu treten und alle Energien dafür einzusetzen, Verluste zu vermeiden, bedeutet, die Lebenszeit mit sinnlosen Anstrengungen zu vergeuden. Ein besonders krasser Schub in dieser Richtung findet gerade auf dem Gebiet körperlicher Attraktivität und Fitness statt. Unternehmen sortieren Mitarbeiter aus, die optisch nicht mehr in ihre Läden mit den vielen schönen Dingen passen, Nachrichtensprecherinnen haben durchweg faltenlose, jugendliche Glattgesichter, was beim Verkünden von Katastrophen und anderen Übeln der Welt oft ein wenig grotesk wirkt. Das Schneiden, Spritzen, Auffüllen und Absaugen junger und alter Körper boomt, man hat glatt, jung und schön auszusehen, am besten noch mit 70!

Was aber, wenn so ein Mensch dann bemerkt, dass all die ständigen Anstrengungen letztlich nichts fruchten? Dass der Verfall unaufhaltsam und das Ende unvermeidlich ist? Geht es ihm dann nicht 1000mal schlechter als dem, der sich mit jedem Stadium des Alterns innerlich auseinandergesetzt und damit angefreundet hat?

Ich war betroffen und wenig amüsiert, als ich vor einem guten halben Jahr merkte, dass mein Gesicht einen neuen „Faltigkeitsgrad“ aufweist: weniger straff, eine unübersehbare Tendenz zu Hängebacken, nicht mehr verschwindende feine Falten über den Lippen (=vom Rauchen!), an den Seiten des Kinns und um die Augen sowieso – ihhh, wie hässlich! Und das soll jetzt so bleiben??? Gar schlimmer werden? Ich zog mir mittels Druck auf die Schläfen mal eben das ganze Gesicht nach oben und hinten: SO würde es aussehen, wenn ich mich liften ließe – glatt fünf Jahre jünger! Würde ich das wollen, mal angenommen, die OP wäre kostenlos und ungefährlich? Ich probierte ein bisschen Mimik aus und schon verschwand der positive Eindruck. Mein Gesicht bekam etwas deutlich Maskenhaftes, das mir trotz der Glattheit gar nicht gefiel. Das war nicht ICH, sondern eine Karikatur!

In der nächsten Zeit schaute ich öfter aufmerksam in den Spiegel, fühlte die Traurigkeit, die der Verlust an jugendlicher Straffheit auslöste – bis ich die Sache dann doch wieder vergaß. Ein paar Monate später probierte ich in einem Laden ein attraktives, paillettenbesetztes Top an, ich sah mich lachen, sah die Falten, die eine Art Sternenkranz um die Augen bildeten – und gefiel mir sehr gut! Worüber hatte ich mich eigentlich gesorgt? Warum hatte ich mich bloß so hässlich gefunden? Ich konnte das, was mich so verstört hatte, im Spiegel nicht mehr finden, obwohl alle damals neu bemerkten Veränderungen nach wie vor da waren. Doch jetzt gehörten sie zu mir, ich hatte mich an sie gewöhnt, sie in mein „Bild von mir“ aufgenommen, das nun nicht mehr von der Realität, die ich im Spiegel erblickte, abwich. Und damit hatten sie ihren Schrecken verloren.

Ob das so weiter geht, werde ich sehen. Gerade rede ich mir gut zu, mal wieder eine aktive
Phase im Fitness-Center einzulegen, wo ich seit Monaten nur Karteileiche bin. Ein bisschen Sporteln für mehr Kraft und körperliche Ausdauer ist nicht schon deshalb falsch, weil ich ja doch eines Tages sterben werde. Auch mit dem Hinnehmen des Unausweichlichen kann man es übertreiben!

Dieser Artikel wäre vielleicht nur eine Idee geblieben, hätte ihn nicht ein Diary-Leser unterstützt! 1000 Dank! Ich habe die mir so geschenkte „Schreibzeit“ sehr genossen!