Entgegen der Grammatik wird man in unserer Gesellschaft erst „älter“ und dann „alt“. Und spätestens seit Erreichen des 50. Jahrs kann ich mich nicht mehr hinstellen und sagen: Was geht mich das an? Ich bin SO, wie ich gerade bin, fühle mich im Wechsel der Tagesform und längerer Stimmungszyklen besser oder schlechter, was zum Teufel soll nur dieser Eiertanz ums Lebensalter? Individuell kann ich zwar so empfinden, doch auf einmal ist das eine Anschauung, die ich wie eine exotische Mindermeinung gegenüber einem überwältigenden Mainstream verteidigen müsste – ohne dass ich so genau erkennen könnte, warum eigentlich.
Kürzlich sah ich beim Zappen durch die Kanäle in einer Talkshow Katja Eppstein, 60. Die Sängerin, die in den 70gern ihre große Zeit hatte, sieht tatsächlich noch genauso aus wie damals. Der Moderator sprach sie auch sofort darauf an: „Sie sind 60, das sieht man Ihnen aber nicht an!“. Katja nickte lächelnd, sichtlich stolz auf ihren Erfolg in Sachen „forever young“, und das Publikum applaudierte überschwänglich. Ja, sie sieht wirklich gut aus, ich gönne es ihr auch – aber ein bisschen gruselt es mich doch: Kommunikation und Verstehen wird ja nicht gerade leichter, wenn ich dem Mitmenschen nicht mal mehr sein Alter ansehe!
Karl Lagerfeld hat keine einzige Falte im Gesicht, angeblich dank einer „wundervollen Creme“. Auf mich wirkt er gespenstisch, optisch alterslos ohne Weisheit, ohne die Gelassenheit, die zu den echten Werten späterer Jahre zählt.
Nicht altern, immer jung bleiben, immer glatt, straff, fit und in diesem Sinne „schön“ – wer das nicht leistet (oder sich nicht leisten kann) wird zunehmend ausgegrenzt, bekommt keinen Job mehr und verschwindet mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben. „Die Welt“ möchte mit den unübersehbaren Zeichen des Verfalls nicht belästigt werden, Anti-Aging in all seinen Facetten ist ein großes Geschäft geworden, genau wie der Kampf um die schlanke Linie. Die Bereitschaft, sich durch Schönheitsoperationen „in Form“ zu halten bzw. wieder zu bringen, ist Umfragen zufolge in allen Altersgruppen drastisch gestiegen, in jüngeren Lebensaltern sogar überproportional. Was für ein Elend! Soviel Energie in einen Kampf stecken, den man am Ende doch verliert, heißt ja, umso unglücklicher sein, wenn keine weiteren „Erfolge“ mehr erreicht werden können. Mehr noch: das fortlaufende Bemühen, die eigene körperliche Verfassung in gesellschaftskompatibler Form zu halten, bewirkt zwangsläufig ein geistiges Festkleben am Wohl und Wehe des je eigenen Ichs – ob es das ist, was wir wirklich brauchen?
Praktisch jeder Altersgenosse, mit dem ich spreche, stimmt mir zu, dass der aktuelle „Jugendwahn“ etwas komplett Verrücktes sei. In der Analyse des Phänomens besteht große Einigkeit, doch ändert dies nichts daran, dass jede und jeder von dieser Bewertung betroffen ist (und sie oft genug auch selber stützt und reproduziert!). Die Gesellschaft altert zwar insgesamt, es wird statistisch gesehen „normaler“, über 50 zu sein, doch immer unnormaler, dies einfach hinzunehmen. Alter entwickelt sich in der öffentlichen Wahrnehmung zur „Krankheit“ und muss therapiert, zumindest verborgen werden.
Die kommunikative Zwickmühle
Als ich vor Jahren hier im Diary mal über einige positive Aspekte des älter werdens sprach, schrieb mir gleich ein Mittdreißiger ins Forum, ich wolle das Altern „schön reden“. Und im Gespräch mit Gleichaltrigen, wie auch in der Selbstbeobachtung bemerke ich die Ambivalenz, wenn es dann darum geht, auch öffentlich zum eigenen Alter zu stehen und gegen den Mainstream anzuschreiben. Denn sobald ich das Thema anspreche, gehöre ich ja DAZU, definiere ich mich selbst als „alt“, bzw. muss dann die Kategorie „älter“ verteidigen, die immerhin noch nicht wirklich „alt“ bedeutet: RICHTIG ALT beginnt für uns Ältere irgendwo jenseits der 70 oder 75 – oder was meint Ihr? Und schon findet man sich selbst unter denjenigen, die das Alter ablehnen, verstrickt sich in Widersprüche, aus denen auch das trotzige „gut, wenn ihr so wollt, bin ich eben ALT, bin URGESTEIN!“ nicht heraus führt. Denn es gibt nun mal echte Unterschiede zwischen den einzelnen Lebensaltern, die auch bennenen können muss, wer über das Altern kundig sprechen will. Das aber ist heute nicht gerade leicht!
Mein Ex-Lebensgefährte gibt sich mit 56 geradezu als Methusalem, spricht Sätze, die beginnen mit „Jetzt, im Alter…“, und macht sich Gedanken über die Modalitäten des Ablebens: „Wie wird das sein, wenn ich plötzlich einen Gehirnschlag habe? Wenn dann „die Maschinerie“ anläuft….“ Schon beim Zahnarzt hat er bemerkt, dass der kundige Handwerker keinen Blick mehr dafür hat, dass ein Patient, der auf dem Rücken liegt und den Mund aufhält, auch mal schlucken oder statt dessen spülen & spucken muss. Wie soll das erst werden, wenn die medizinische „Maschinerie“ mal die ganze Macht übernimmt?
Ich denke zwar auch gelegentlich an so etwas, empfinde es jedoch bei einem Mittfünfziger als verfrüht, wenn die Modalitäten des Ablebens einen zu hohen Stellenwert gewinnen. Unsere Machthaber erleben mit Mitte 50 ihre beste und wirkungsmächtigste Zeit, da wächst man doch gerade erst ins „Best Age“ hinein! Sage ich ihm aber „hey, du spinnst, du bist doch noch nicht ALT!“, dann bin ich zumindest gesprächsweise genau wieder da angekommen, wovon ich mich wegbewegen will: Das Alter bekämpfen, verleugnen….
Man kann nicht gut sagen, altern sei ok, und gleichzeitig betonen, man sei ja noch nicht alt, nicht wirklich. Glaubhaft könnte man demnach erst ab 75 über das Altern sprechen – aber vielleicht sitze ich ja dann genau wie jetzt vor dem Monitor und denke: alt? Na, vielleicht so ab 85…!
Abwarten, bis man sich „richtig alt“ fühlt, um darüber zu sprechen und zu schreiben, kann nicht der Weg sein. Das hieße, der Angst und dem Jugendwahn kampflos das Feld überlassen und sämtlichen kommenden Ausgrenzungen und Diskriminierungen ausweichend zu begegnen: ICH bin doch noch nicht alt, mich betrifft das gar nicht… Eines Tages kriegen wir dann vielleicht ein Schreiben zum Geburtstag, das uns in die Anstalten zum sozialverträglichen Ableben einweist. Am Geburtsdatum im Personalausweis werden wir dann kaum mehr etwas ändern können, auch wenn wir uns „noch deutlich jünger“ fühlen.
Lebenswende
Altern findet in jedem Lebensalter statt, wenn es auch mit zunehmenden Jahren stärker ins Bewusstsein tritt. Viele erleben um die 40 eine Art „Umschlag“: plötzlich zählt man die eigenen Jahre nicht mehr durch Addition der bisherigen Lebensabschnitte (X Jahre seit dem Abi, seit dem Ende des Studiums….),sondern man denkt: X Jahre BIS zum Rentenalter, BIS zur statistischen Lebenserwartung. Verstörend, das auf einmal zu bemerken! Bisher hatte man ein „Open End-Gefühl“, das erst durch sein Verschwinden richtig bewusst wird, auf einmal ist da ein Ende in Sicht – unvorstellbar! Und doch WAHR….
Eine merkliche Kluft tut sich dann auf zwischen denjenigen, die diese Schwelle überschritten haben und den Jüngeren, die nicht wissen, wovon die Rede ist, wenn man es anspricht. Denn es ist keine Sache rationalen WISSENS: alle wissen zu jeder Zeit, dass das menschliche Leben endlich ist und jeder ganz gewiss sterben wird. Es ist jedoch ein existenziell anderes Lebensgefühl, wenn man schon mal den Blick gehoben, den Horizont ins Auge gefasst, den Abgrund da vorne zumindest erblickt hat, als wenn man stets konzentriert auf den Weg starrt, um „weiter zu kommen“, wie es für junge Menschen selbstverständlich ist. („Weg“ und „weiter kommen“ sind hier Metaphern: auch wer vermeintlich „nichts“ tut, sich aber mit der Aufrechterhaltung dieses Status befasst, ist „unterwegs“ im Sinne der eigenen Interessen).
Da es zunächst beängstigt, ja verstört, das sichere eigene Ende zu erkennen, neigt man dazu, den Blick einfach wieder zu senken und sich – vielleicht noch ein bisschen umtriebiger als zuvor – den Alltagsgeschäften zu widmen. Inhaltlich ist das nicht unbedingt falsch: Auch wenn wir erkennen, dass wir in einem schwarzen, kalten und schier unendlichen Universum leben, aus dem heraus uns jederzeit ein Meteor treffen und wegpusten kann, werden wir uns trotzdem um die nächste Miete und vielleicht auch um die nächste Bundestagswahl kümmern. Das Ende ist schließlich nicht alles, es gibt ein Leben vor dem Tod, das geführt werden will.
Die Wahrheit des Endes nicht nur zu wissen, sondern aus dieser Wahrheit zu leben, heißt, wacher und lebendiger zu sein als es in bloßem Streben möglich ist – lebendiger also, als „die Jugend“, die der Gesellschaft als Optimum gilt. Ältere sind (potenziell!) an einer solchen Lebensführung näher dran als Jüngere, wenn sie sich dem nicht verschließen: Seine Majestät, das ICH wird weniger dominant, ganz von selber, ohne dass man da mühsam Sitzmeditation betreiben müsste. Wie die Traube hat man die Wahl, zu vertrocknen, zu verfaulen oder zu Wein zu werden – der ja nichts anderes ist als vom Tod verwandelter Traubensaft.
(Und sage mir einer, die Welt brauche keinen Wein oder wüsste sein Loblied nicht zu singen!).
Nun, das endgültige Ende ist meist nicht das, wovor „Ältere“ wirklich Angst haben, wenn sie ihr Alter lieber nicht angeben und zum Thema schweigen. Es ist vielmehr die Angst, nicht mehr mitspielen zu dürfen, nicht ernst genommen zu werden, keine Anerkennung mehr zu erfahren – die Angst vor dem Verlust der sozialen und erotischen Attraktivität. Dahinter erst steht die Angst vor dem Kontrollverlust, der droht, wenn in der finalen Phase – wenn „die Maschinerie“ zum Zuge kommt – jegliche Selbstbestimmung abhanden kommt, wir gar nichts mehr „machen“ können, sondern nur noch mit uns gemacht wird.
Während die meisten Älteren über ihre jeweiligen Ängste lieber schweigen, um sich keine Blöße zu geben, hat die Werbewirtschaft entdeckt, dass es ein Leben jenseits der 50, 60, 70 gibt, das mehr ist als Kaffeefahrten mit Heizdecken-Erwerbspflicht. Mit Macht wird sie ihre „So-sollt-ihr-sein“-Bilder in die medialen Räume drücken, und zwar genau so, wie man es schon vom Kampf um die schlanke Linie kennt, wo Hungerharken, denen die Knochen ungepolstert aus dem Leib stehen, das Ideal vorgeben.
Unser Lachen wird Euch begraben! – ein Spruch, der in meiner politisch bewegten Jugend den Vertretern des Status Quo („die Herrschenden“) gerne entgegen gehalten wurde. Es ist vielleicht an der Zeit, ihn auch einmal zu verwirklichen, selbst wenn es keine fassbaren „Herrschenden“ mehr gibt, sondern nur den diffusen Zeitgeist, dessen Mächtigkeit so groß ist, weil er bis in unser Innerstes hinein ragt.
Auf meinen Spielfeldern kann ich das z.B. angehen, indem ich endlich mal einen Schreibimpulse-Kurs zum Thema „Altern“ veranstalte, einen Kurs für alle, die das Thema näher an sich heran lassen wollen, ohne gleich in Fluchtreflexe zu verfallen.
Herzhaft lachen kann man nur, wenn auch weinen erlaubt ist – wer aber schon beim „Ich-doch-nicht“ stehen bleibt, kann weder das eine noch das andere.
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