Claudia am 11. Juni 2004 —

Fordern ist Fördern: Dem Schmerz begegnen

Gestern bin ich also wieder losgelaufen. Zweiter Versuch, vom „zügigen Gehen“ über korrektes Walken nun endlich mal ins Joggen zu kommen. Ich HASSE Joggen, immer schon. Nirgends schien mir der Spruch „Sport ist Mord“ so gut zu passen wie zu den verzerrten Gesichtern der Leidenden, die mir auf meinen Spaziergängen in immer größerer Zahl begegnen. Warum tun sie sich das nur an? Selten nur sehe ich einen Läufer, der harmonisch in der Bewegung aufgeht. Die meisten schleppen sich eher dahin, schwitzend und verbissen vor sich auf den Boden starrend – ein Elend!

Dachte ich mir so, ganze Jahrzehnte lang. Doch genau wie der Feige sich abfällig über jegliches Hervortreten aus der Masse äußert und mutige Taten zynisch belächelt, speiste sich meine Ablehnung aus eigenem Unvermögen. Alle paar Jahre hatte ich es mal ausprobiert und immer war ich kläglich gescheitert. Keine 300 Meter konnte ich laufen! Binnen kürzester Zeit geriet ich völlig außer Atem, der ganze Körper ein einziger Schmerz, das Herz raste und mit hochrotem Kopf gab ich entnervt auf. Brauchte dann zehn Minuten, um mich von diesem „Wahnsinn“ wieder zu erholen. Ob mit zwölf, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren: Joggen war und blieb mein sportlicher Mega-Flop, die beste Methode, mich als Totalversagerin zu erleben – und wer mag das schon?

Mal gucken…

Jetzt also, mit fast fünfzig, ein neuer Versuch. Mittlerweile bin ich belehrt, dass Joggen für sportliche Anfänger nicht das Richtige ist. Ein bisschen Fitness sollte schon sein, damit der Kraftaufwand, um die Füße im Laufschritt vom Boden abzuheben, für kurze Zeit geleistet werden kann ohne in das verhasste Gefühl „gleich sterbe ich“ zu verfallen. Das lässt hoffen, denn mittlerweile bin ich fitter denn je. Die vielen Spaziergänge, die sonntäglichen Wanderungen und das in letzter Zeit wieder forcierte Training im Center sind nicht spurlos an mir vorüber gegangen. Locker steige ich mehrmals am Tag die drei Treppen zu meiner Wohnung hoch, ignoriere auch mal die U-Bahn und gehe zu Fuß den Weg nach Kreuzberg: Bewegung fühlt sich gut an!

Ein lieber Freund, der sichtlich nicht „gut zu Fuß“ ist und auch für kleine Strecken lieber ein Taxi ruft, gab mir den letzten Anstoß, dem Joggen mal wieder eine Chance zu geben. Er läuft seit Jahren täglich eine halbe Stunde und schwärmte mir vor, wie schnell sich sein Empfinden von „ätzend“ zu „ekstatisch“ gewandelt habe – ja, er wäre eine Zeit lang geradezu süchtig danach gewesen! Da er immer kräftig, fröhlich und voller Energie ist, wenn ich ihn treffe, kann ich ihm das glauben, auch ohne dass er meine Freude am „zügigen Gehen“ teilt.

Süchtig auf Joggen? Das hab‘ ich schon öfter gehört, immer ein bisschen neidisch, denn selber neige ich zu deutlich weniger gesunden Suchtmitteln. Die Hürde vom Leiden zur Lust erschien jedoch unüberwindlich, bisher jedenfalls.

Letzten Samstag lief ich dann los. Bloß nicht nachdenken, einfach machen! Rechts raus aus der Haustür, den Rudolfplatz entlang, vorbei am Tante-Emma-Laden bis zur nächsten Kreuzung, wo ich schon gleich von der roten Ampel gestoppt wurde – BEVOR ich außer Atem gekommen war! Also weiter. In langsamem Laufschritt schaffte ich es noch zwei Häuserblöcke weiter, dann begann das eklige Gefühl, nicht mehr genug Luft zu bekommen. Anstatt das auszuhalten bis an unerträgliche Grenzen, verfiel ich ins Walken, erholte mich dabei ein wenig, bis ich mich wieder fähig fühlte, erneut eine Strecke zu versuchen: vielleicht bis zur nächsten Ampel da vorne???

An diesem Tag lief ich so ohne Pause einmal rund um die Halbinsel Stralau. Meistens walkend, doch immer mal wieder eine kurze Strecke im Laufschritt. Mehrfach geriet ich ins Schwitzen, was sich sogar angenehm anfühlte – als Sauna-Gängerin hab‘ ich nichts gegen Schwitzen, erlebe es nicht mehr als Anzeichen des nahenden Kreislaufkollapses, wie früher.

Und dann das große Wunder: die jeweils ersten Momente der „Laufphasen“ empfand ich tatsächlich nicht mehr als extreme Anstrengung. Kurzzeitig fühlte es sich sogar richtig gut an! Doch schon gleich wurde es mühsamer, gerade noch ohne inneres Jammern und Schimpfen leistbar, solange ich mich weiterhin auf einen ruhigen Atem konzentrierte. Komm, noch bis da vorne hin! Auf den letzten paar Metern der insgesamt lächerlich kurzen Strecke erreichte ich dann das Reich des Leidens, das mich bisher von allem derartigen Tun so erfolgreich abgeschreckt hatte. Die Beine wogen plötzlich fünfmal soviel, wenn ich sie noch vom Boden abheben wollte, Füße, Waden, Schenkel und Schienbeine schmerzten – und dieser (für sich allein betrachtet gar nicht so furchtbar schlimme) Schmerz breitete sich von innen her über den ganzen Körper aus – bis in die Arme, in den Kopf, ins Herz. Ich hörte auf zu laufen, fiel schwer atmend zurück ins Walken. Intuitiv merkte ich, dass es wichtig ist, nicht zu STOPPEN, wie ich es früher immer tat, wenn es unerträglich wurde. Einfach weiter gehen, erleben, dass es geht, dass die Schmerzen gleich wieder verschwinden und ich es dann einfach noch mal versuchen kann.

Energie!

AnglerStralau ist eine wunderbare Lauflandschaft, grad mal zehn Minuten vom Rudolfplatz. Eine in die Spree hinein ragende Halbinsel fast ohne Autoverkehr. Interessante Fabrikruinen und architektonisch reizvolle Neubauten, Wanderwege am Wasser entlang, viel Grün, alte Bäume, blühende Gärten und Wiesen, noch brachliegende, wild überwucherte Grundstücke, die auf den Investor warten und ein idyllischer Friedhof. Zum Glück kein richtiger Park, denn der wäre in dieser zentralen Lage gleich überlaufen und zu Tode genutzt, wie praktisch alle Parks inmitten von Berlin. Hier aber bin ich jedes Mal fast alleine, genieße den frischen Duft, den Blick auf den Fluss, an dem hier und da ein paar Angler ihre Ruten ins Wasser hängen lassen. Was für eine Idylle!

Nach einer guten Stunde war ich wieder zuhause, aufs Angenehmste erschöpft. Ich spürte jede einzelne Faser meines Körpers, ruhte mich im Liegen aus und fasste den Entschluss, das jetzt öfter zu machen. Später dann, im weiteren Verlauf des Samstags, fühlte ich mich noch einige Stunden wie auf Wolken, leichter als sonst, voller Energie und Kraft. Ich staunte, denn es unterschied sich deutlich vom – auch angenehmen – Empfinden nach einem „zügigen Spaziergang“, war weit intensiver, lustvoller, deutlich länger anhaltend.

An die Grenzen gehen

Wie es so geht mit spontanen Beschlüssen, dauerte es dann doch ein paar Tage bis zum nächsten Lauf. Gestern Mittag erst sah mich Stralau wieder. Erneut lief ich kurzzeitig in den Bereich des schier Unerträglichen hinein – aber nur für ein paar Momente, so für ein kurzes Sightseeing: Was ist hier eigentlich los? Was IST das Unerträgliche, mal genau hingesehen? Seltsamerweise erwies sich keine einzige Körperempfindung, wenn ich sie isoliert betrachtete, als extrem schmerzhaft. Also ist es wohl die Psyche, die das Geschehen insgesamt von alters her derart negativ bewertet, dass aus lauter an sich erträglichen Einzelempfindungen ein kaum auszuhaltender Gesamteindruck entsteht.

Es erinnerte mich an das, was ich neuerdings im Fitness-Center erlebe, seit ich auch dort an die Grenzen meiner Kraft gehe. Den letzten Satz an jedem Gerät übe ich jeweils mit einem Gewicht, das mir gerade noch sechs bis acht Wiederholungen erlaubt – und dann ist Schluss, nichts geht mehr! Auch da erreiche ich für ein paar Momente diesen Bereich des vermeintlich Unerträglichen. Eine innere Stimme schreit dann alarmiert „sofort aufhören!“ – aber wenn man genau hinguckt, was eigentlich das Schreckliche ist, findet sich nichts Konkretes. Der Muskel weiß von ganz alleine, wann Schluss ist, und wenn ich die Bewegungen sorgfältig, ruhig und korrekt durchführe, bis es nicht mehr geht, gibt es nichts zu fürchten.

Doch auch hier derselbe spektakuläre Unterschied wie beim Laufen im Vergleich zum Walken! Eine Übungsphase, in der ich diesen zunächst beängstigenden „Schmerzbereich“ betrete, hat gänzlich andere Nachwirkungen als eine, in der ich nur mit locker handhabbaren Gewichten ein bisschen herumturne. Gleich danach spüre ich das Blut in jede Muskelfaser einschießen, ich atme besser, bin wunderbar entspannt und ein Gefühl der Euphorie breitet sich aus, das noch am nächsten mit dem Empfinden nach einem Orgasmus vergleichbar ist.

Und all das hab ich ein halbes Jahrhundert gemieden als drohe die Pest! Schon zu Zeiten meiner Kinderbande war ich die Kleinste, Jüngste und Schwächste, konnte körperlich mit den Anderen nicht mithalten und wurde dafür gehänselt und gedemütigt. In der Schule ging es dann genauso weiter. Mich wählte man als eine der letzten aus, wenn Mannschaften aufgestellt wurden, und manchmal zog ich es vor, absichtlich hinzufallen und mir das Knie aufzuschürfen, anstatt dieses ganze Herumgehetze weiter zu ertragen.
Schwimmen hatte mir anfangs noch gefallen, mein Vater nahm mich immer Samstags mit ins Hallenbad. Die ersten paar Male war es ein wunderbares Abenteuer – bis er mich seinen Kollegen „vorführen“ wollte, zeigen, was seine Tochter alles schon kann. Auf einmal MUSSTE ich vom Ein-Meter-Brett springen – oder vom Rand des Beckens einen Kopfsprung wagen, zu dem er mich zwang, indem er mir die Beine nach hinten wegzog. Prompt landete ich mit einem schmerzhaften Bauchplatscher auf der harten Wasseroberfläche und hatte fortan auch vom Schwimmen die Nase voll. Wie blöde Eltern doch sein können – und wie idiotisch ein Turnunterricht, der allein auf Wettbewerb setzt!

Wachsen oder verkümmern

Als ich dann gestern unter einem riesigen alten Weidenbaum eine Pause einlegte, ging mir all das durch den Kopf. Vielleicht, weil auch die kleinen grauen Zellen außergewöhnlich gut durchblutet waren, erlebte ich eine ganze Reihe kleiner Erleuchtungen. Nicht nur im Sport hatte ich mein Leben lang das „Reich des Schmerzes“ gemieden, sondern eigentlich auf jedem Gebiet: Solange ich nicht von außen zu neuen, vielleicht anstrengenden oder sonstwie unangenehm wirkenden Aktivitäten motiviert werde, ziehe ich das bequeme „Weiter so!“ vor. Bewege mich auf ausgetretenen Pfaden, gehe der Angst und dem Unbekannten lieber aus dem Weg. Eine Herausforderung einfach annehmen, weil sie da ist, wäre mir nie in den Sinn gekommen! Allenfalls Zwang, Ehrgeiz, oder das Ziel, durch Anstrengung und Wagnis einem größeren Übel auszuweichen, konnte mich in Bewegung versetzen. Mutig etwas tun, wovor sich Andere scheuen – ich hab‘ es allermeist nicht um meiner selbst willen getan, sondern immer, um dadurch meinen Status zu heben, um in einer Gruppe etwas zu gelten, um zu gefallen. Augen zu und durch – aber niemals: Augen auf und vorsichtig mitten hinein! Mal sehen, was da ist…

Auf einmal ist mir klar, wie man im schlechten Sinne altert. Im Lauf des Lebens wächst die Klugheit und Weltgewandtheit: man lernt, die eigenen Fähigkeiten ökonomisch einzusetzen und mit ganz gut erträglichem Einsatz ein halbwegs gemütliches Leben zu fristen. Wo man als junger Mensch noch 1000 Ängste spürt und sich überwinden muss, um zu wachsen, um einen eigenen Platz in der Welt zu finden, herrscht bald schon unaufgeregte Routine. Alles im grünen Bereich, den Spruch hör ich zur Zeit oft.

Aber das Leben ist dynamisch: wo kein Mehr-wollen und Neues-Wagen mehr geschieht, wo keine Bereitschaft mehr besteht, der Angst und dem Schmerz zu begegnen, beginnt ein subtiler Schrumpfungsprozess. Ein guter Musiker, der nicht ständig übt, verliert schon binnen weniger Tage einen Teil seiner Fähigkeiten. Das ist nicht „natürliches Altern“, sondern faules, freiwilliges Verkümmern.

Deshalb sehen die Alten in den noch naturnäheren Kulturen oft so viel besser aus, sind beweglich und fröhlich, arbeiten noch auf den Feldern mit und haben auch etwas zu sagen. Sie können sich den Herausforderungen der täglichen Mühsal nicht entziehen, sich körperlich und psychisch frühzeitig auf Bürostuhl und Bäderliege absetzen, um chronische Krankheiten und miese Launen zu entwickeln. So bleiben sie in Übung, bleiben auch als Alte in vieler Hinsicht jung.

Wir haben es „besser“. Auch ich wünsche mich nicht zurück ins vorindustrielle Zeitalter, bewahre – es ist gut, dass wir mehr denn je die Wahl haben, ob und in welcher Richtung wir uns anstrengen: beim Joggen, am Trainingsgerät, beim Yoga, Wandern oder Bergsteigen. Auf der körperlichen Ebene ist es jedenfalls am einfachsten, den Zusammenhang zwischen Anstrengung, Angst und Schmerz einerseits, Entspannung, Wohlbefinden und Lust andrerseits zu erleben.

Komisch, dass ich solange brauchte, um es zu bemerken. Und vielleicht daraus zu lernen.

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