Claudia am 19. Juni 2001 —

Angekommen!

Berlin-Friedrichshain, Tag 2. Der Umzug ist geschafft, sogar die Kartons sind schon alle im Keller. Ich fühle mich wie nach einem schier endlos langen Urlaub auf dem Land: endlich wieder daheim! An der Straßenkreuzung seh‘ ich einen Punk, der seine Freundin in einem mit Kissen ausgepolsterten Einkaufswagen vor sich her schiebt, sie trägt rosa-grün geringelte Strümpfe und hat ein Bein in Gips. Wie mir solche Anblicke doch gefehlt haben!

Die neue Wohnung freut mich: ein großes Zimmer für jeden, eine geräumige Wohnküche zum Hof hin, groß genug, dass neben dem Esstisch auch noch mein altes Sofa reinpasst. Wenn ich da liege, sehe ich auf eine riesige Pappel und viel Himmel, erinnert ein bißchen an Mecklenburg. Jedes Zimmer hat einen eigenen Zugang zum Balkon, von dem aus man ein Stück vom Boxhagener Platz sehen kann, die „grüne Lunge“ vom Kiez. Und gleich um die Ecke liegt ein altberliner Friedhof, ruhig, grün und voller großer Kastanien. Für einen Grünflächen-armen Innenstadtbezirk eine 1a-Lage!

Noch bin ich ohne Telefonanschluß, ohne Netz und sogar ohne Schreibtisch. Der ist nämlich in Gottesgabe geblieben, war eh nur geliehen, nachdem ich meinen alten für den Hühnerstall gespendet hatte. Also heut morgen kurz zu IKEA gefahren, wo ich dem Neuerungsdrang verfallen bin und anstatt einer schlichten Tischplatte „Ammon“ mit irgendwelchen Böcken das Modell „Effektiv“ erstand: Über Eck, leicht geschwungen – leider wird erst am Donnerstag geliefert, was mich erstmal in Schreck versetzt hat. Kein Diary bis dahin? Keine Webseiten bauen? Nein!!! Und so sitze ich hier vor einem Bürocontainer, auf dem Monitor und Tastatur ganz knapp Platz finden. Nicht gerade super-bequem, aber besser als nichts. Ganz in der Nähe sind drei Internet-Cafés, bis dahin muß ich die Daten eben auf Diskette tragen, kein Problem.

Es ist ziemlich laut, verglichen mit der absoluten Ruhe in Gottesgabe, wo man sich bei jedem unbekannten Geräusch fragte: Was ist das jetzt? Die Sanierung der Gründerzeitbauten, die hier voll im Gang ist, geht nicht lautlos über die Bühne. Eine Straße weiter fährt eine Straßenbahn, die ich deutlich hören kann. Menschen und Hunde, die ungefähr gleich häufig vorkommen, sind auch nicht immer leise. Aber seltsamerweise macht mir das alles nichts, ich fühle mich kein bißchen genervt, schaue sozusagen nur „journalistisch“ auf den Lärm. Und das neutralisiert ihn offensichtlich, er trifft ihn mir auf keinen Widerstand. Da ist im Moment niemand, der dem Lärm gleich verärgert entgegenruft: Du widerlich lautes Geräusch, kannst du mich nicht in Ruhe lassen?

Von den Schmerzforschern kann man immer wieder lesen, daß es auf die Einstellung ankommt, wie intensiv, bzw. wie schmerzhaft eine physische Sensation wahrgenommen wird. Wer schon die kleinste Regung des eigenen Organismus als unverschämte Eigendynamik eines nicht ausreichend beherrschten Territoriums wahrnimmt, wird das leiseste Kitzeln hoch alarmiert als erstes Anzeichen der sich ankündigenden Todeskrankheit betrachten. Die vielleicht allzu heftige oder sonstwie tollpatschige Umarmung eines lang entbehrten Freundes erscheint dagegen locker als die reine Wonne. Man könnte die Beispiele unterhaltsam fortsetzen – aber leider sitz ich hier so unbequem vor dem Container, das ist heut‘ nicht mehr drin. Der rote Fadem muß genügen.

Die Frage ist: Kann ich beeinflussen, wie ich etwas wahrnehme? Ob ich es erleide oder genieße – oder es eben rein „journalistisch“ betrachte, was im Ergebnis ein „Weder – noch“ bedeutet. (Es wäre doch großartig, während des Sterbens einfach nur zu bemerken: Wow, der Atem hört jetzt wirklich auf. Ich ersticke, wie interessant! Mal sehen, was weiter passiert…)

Durch Beobachtung der Veränderungen, die der Körper durchläuft, während ich lustvolle oder schmerzhafte psychische Erlebnisse „habe“, bin ich in die Lage versetzt worden, dieses Zusammenspiel zu manipulieren. Der Weg dahin ging über das Beobachten des Körpers im Hatha-Yoga: Die Beobachtung beginnt zwar beim Körper und nutzt ihn als Ankerpunkt, breitet sich aber auf alle Ebenen aus. Und wie seltsam: Durch bestimmte Formen des Bewegens und Atmens kann ich in Agressivität, Wut oder Trauer geraten, durch andere in Euphorie, Lust, Optimismus oder Abenteuerlust. Es liegt nahe, das dann umgekehrt zu nutzen: Ein Gefühl wird unerträglich? Muss ich mir nicht endlos ‚reinziehen, das diskreiere ich mit ein paar Atemnzügen (ich verkürze, der rote Faden muss reichen.. :-).

So weit, so gut. Im realen Leben nutze ich das kaum, es genügt, zu wissen, dass es möglich wäre. Schließlich will ich die Wirklichkeit erleben und nicht das, was ich mir in Abwehr der Wirklichkeit zusammenzaubere. Ich weiß nicht, wer es gesagt hat, zitiere also ohne Namen: „Geistige Gesundheit ist, zwanzig Möglichkeiten zu wissen, einen Liebeskummer abzustellen – und auf alle zu verzichten.“. Das trifft ganz gut, was ich meine.

Darüberhinaus gibt es Gefühlsreaktionen, die ich nicht ändern kann und auch nicht ändern wollte: Wenn z.B. jemand seine Macht über Menschen oder Tiere mißbraucht, fühle ich Wut und Trauer, je nachdem. Dieser emotionale Automatismus, den ich nicht selbst geschaffen habe, ist für mich Wirklichkeits-stiftend. Er sagt mir ‚was über die Welt, in diesem Fall etwas Gutes. Wäre das Gefühl völlig in meiner Verfügungsgewalt, dann wüßte ich nicht, wo da noch Welt sein sollte. Und „ich“ bin doch allenfalls ein Spiegel der Welt, ein Knoten im Netz, gezogen von 10.000 Fäden, nichts Substanzielles jedenfalls.

Mir scheint, dieser Monolog verläuft in ähnlichen Bahnen wie die derzeitige Gentechnik-Diskussion. Wenn wir den Menschen selber gentechnisch zusammenbasteln (verkürzt, ja ja…), was wird dann aus der Frage „Was ist der Mensch?“ oder „Wer bin ich?“

So, für jetzt ist’s genug, bin sowieso in Gedankenspiele geraten, die ich so nicht vorhatte. Tag 2 in Friedrichshain ist jedenfalls super!

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