Claudia am 06. Juni 2001 —

Sich umbringen?

Wer mal ernsthaft darüber nachdenkt, was wohl – denkt man die jetzigen Verhältnisse einfach weiter – in der letzten Phase des Lebens an Unerträglichem auf uns zukommt, landet schnell beim Gedanken an den „rettenden Schnellzug“, den Sprung aus dem Fenster oder anderen Möglichkeiten, sich dem drohenden Elend durch vorzeitiges Ableben zu entziehen. Speziell für meine Generation ist das ein erstaunlicher Fatalismus, sind wir doch mit dem Gedanken sozialisiert, alles verändern zu können, was uns nicht paßt.

Ton-Steine-Scherben verfaßten dereinst die entsprechende Hymne: „Alles verändert sich, wenn du es veränderst!“, und alle sangen begeistert mit, nicht groß darüber grübelnd, daß es da weiter heißt: „doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist“. Und da liegt der Knackpunkt: Noch nie waren wir so allein wie heute, was verbindliche Beziehungen über lange Zeit angeht. Klar, jeder hat womöglich ein paar gute alte Freunde, doch ist dieses Netz frei gewählter Symphatien nicht imstande, die Aufgaben des „tragenden Familienverbandes“ früherer Zeiten zu übernehmen. Und wir sehnen uns ja auch beileibe nicht zurück in die Welt der Traditionen und Zwangsgemeinschaften, aus deren letzten Resten wir uns erfolgreich befreit haben. Sind wir also „selber schuld“ und müssen sehen, wo wir bleiben, wie Birgit es ins Forum schrieb?

Es wäre ein bißchen größenwahnsinnig, anzunehmen, die Auflösung der alten Strukturen hätten wir selber verbrochen, selbstverwirklichungssüchtig, wie wir nun mal sind. Oh nein, das konnte nur gelingen, weil es sowieso dem Lauf der Dinge, deutlicher: der Entwicklung der Produktionsverhältnisse, entsprach. Flexibilität und Mobilität, die obersten Werte heutigen Wirtschaftens, sind in traditionellen Strukturen nicht zu erwarten. Der Widerspruch, dass es eben auch nicht mehr recht paßt, allzu viel Zeit mit Kindern und Familie zu verbrauchen, weshalb lange schon drastisch weniger Kinder geboren werden, ist nur eine Folge unter vielen.

Und dann fällt uns spontan nur der „rettende Schnellzug“ ein, wenn wir an Zeiten der Not, Krankheit, Gebrechlichkeit denken? War da nicht noch was? Grübel… ach ja, das SOZIALE NETZ, heute fast nur noch als „Hängematte“ im öffentlichen Bewußtsein, eine Hängematte, in die sich vor allem Faulenzer fallen lassen, wie wir jetzt wissen. Und wer will schon als Faulenzer und Nullchecker gelten – Sozialfall? Nein danke, dann lieber ein selbstbestimmtes (!) Ableben! Schließlich schadet dieses ominöse „Soziale“ dem Standort, und wer wollte so etwas verantworten?

Ein neoliberal verumglimpftes Soziales Netz kann man aber nicht mehr um-, sondern nur noch abbauen. Automatisch denkt man schon gar nicht mehr daran, da etwas mitzubestimmen oder anders haben zu wollen. Dass es derzeit ein Moloch aus festgefahrenen Interessen und Besitzständen ist, in die sich kaum einer gerne einmischt, wäre alleine kein Hindernis, sowas konnten wir früher ja doch ganz gut. Heute aber ist es fast rufschädigend, sich für das „Soziale“ einzusetzen – warum wohl?

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Jetzt fahr ich mal kurz nach Berlin, heute ist Wohnungsübergabe.

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