Claudia am 27. November 2000 —

Geist ist knapper als RAM

Endlich bin ich ins arbeiten geraten! Es ist schon längere Zeit her, dass ich mal völlig selbstvergessen vor einer entstehenden Webseite sitzen konnte und mich einfach nur um die Harmonie der Optik kümmern: Ist das der richtige Abstand? Hat der Text genug Platz? Wirkt das ganze eher locker und beiläufig selbstverständlich, oder ist alles in eine starre Form gezwängt? Sollte da nicht etwas Rundes auftauchen, wo doch das senkrechte und eckig-quaderhafte technisch bedingt dominiert? ( Und weiter: Wie sieht die Seite auf einem 800x600er Bildschirm aus? Braucht sie irgendwo Bewegung oder lieber nicht? Bloss kein Zappeln in den Augenwinkel, wenn der User wirklich LESEN soll…

Überhaupt ist das Webseiten-bauen, wie ich es gerade empfinde, vor allem die Kunst, dem Besucher unnütze Konzentrations- und Gedächtnisleistungen zu ERSPAREN. Nicht, weil er blöd wäre oder es nichts Wichtiges zu sagen gäbe, sondern weil die geistigen Ressourcen endlich, also knapp sind, und wir heute von allen Seiten zugedröhnt werden, zugeschüttet mit Unwichtigem, für das sich das „Aufmerken“ wirklich nicht lohnt. Dafür aber mit einem Maximum an Masse und Intensität, als ständige Vergewaltigung all unserer Sinne und Sinn-produzierenden Fähigkeiten, gegen die jeder so seine Strategien entwickelt: Wegsehen, abschalten, ignorieren, flüchtig drüberlesen, alles vor den Augen verschwimmen lassen – mich würde interessieren, wieviel PC-Abstürze und Ausfälle unbewußte Verteidigungsaktionen der User sind, immer noch besser als selber an sinn-leerer Komplexität zu erkranken.

Ganz so, wie die Programmierer früherer Tage mit dem Arbeitsspeicher umgegangen sind, den ein Programm benutzen durfte, genauso sensibel und knauserig sollten Kommunikationsdesigner (ob Text, Grafik oder Multimedia) mit den geistigen Ressourcen der User umgehen.

Kein Wunder also, dass der unbekannte Surfer müde und genervt ist vom niemals nachlassenden Info-Gewitter und nun wirklich keine Lust hat, auf einer Website erstmal Abkürzungen zu erforschen oder völlig unverständliche Rubrik-Namen zu interpretieren. Sich in drei Navigationsbäumen auf 13 Ebenen verlaufen, um dann das ganze geflashte Pseudo-Web unwillentlich mittels der Backtaste von vorne beginnen zu lassen, gehört auch zu den Freuden, auf die er gern verzichten würde, wenn man ihn nur ließe.

Ihr merkt, das Thema hat mich derzeit erobert. Als Webdesignerin möchte ich nicht den Job haben, den Kampf um die Aufmerksamkeit durch immer schrillere und spektakulärere Effekte noch zu intensivieren. Nein, ich will den Einsatz aller Geist-fressenden Mittel und Prozesse deutlich vermindern, die nicht für die Vermittlung der Botschaft bzw. das zu vertretende Interesse unverzichtbar sind. Ganz so, wie die Programmierer früherer Tage mit dem Arbeitsspeicher umgegangen sind, den ein Programm benutzen durfte, genauso sensibel und knauserig sollten Kommunikationsdesigner (ob Text, Grafik oder Multimedia) mit den geistigen Ressourcen der User umgehen. Das meine ich sehr ernst, kann mir sogar vorstellen, dafür Test-Verfahren zu entwickeln, um schnell herauszufinden, was alles verlustfrei weggelassen werden kann.

Selbstzweck ist dieses bewusste Konzentrieren und Reduzieren natürlich nicht: Wenn ich ein Feld schaffe, auf dem der Besucher ankommt, ohne das Gefühl zu haben, nun würden von allen Seiten auf ihn Pfeile abgeschossen, kann ich einen großen Teil der dadurch frei werdenden Ressourcen im Kopf des Besuchers für meinen Inhalt abrufen, für die Botschaft, den Sinn. Da ist dann schon mal ein langer Satz oder komplexerer Absatz drin.

Ihr habt es schließlich auch bis hierher geschafft.