Heute abend war ich in Schwerin, die Stadt, auf die ich mich hier – 10 Minuten davon entfernt in einem abgelegenen Dorf wohnend – eigentlich beziehen muß, Städterin, die ich bin. Schwerin ist in letzter Zeit unter die Großstadtgrenze von 100.000 Einwohnern gefallen. Der Osten entvölkert sich, immer noch, vor allem Mecklenburg. Das ist auch an Schwerin sichtbar, eine so wunderschöne Stadt wie Freiburg oder Siena, doch keinesfalls wie diese überlaufend und Andenken-strotzend, sondern seltsam leer – und nicht mal eine Uni, ein zusätzliches Handicap.
In Schwerin gibt es immerhin Kultur, zum Beipiel die Literaturtage im November. Zwei Lesungen hab‘ ich besucht, eigentlich nur, um mal wieder Leute zu sehen. Leute, die mir mitsamt ihren Veranstaltungen recht fremd sind, Ossis eben, gar Mecklenburger Nordlichter! Da bin ich neugierig, fühle mich aber auch ständig als Gast, als Besucher, unkundig der Traditionen und Verhaltensweisen. Halte also den Mund und höre zu. Immerhin konnte ich bemerken, dass DER LITERAT hier einen höheren Stellenwert hat. Man erwartet von ihm ein Vordenken, Orientierung in gesellschaftlichen und philosophischen Fragen, immer noch.
Letzte Woche war es Ingo Schramm. Der las aus seinem Buch „Feigheit der Fische“. Anfänglich war es mir so langweilig , dass ich es nicht fertig brachte, richtig zuzuhören, immer wieder driftete die Aufmerksamkeit ab.
Ich hab‘ mich wirklich gewundert und deshalb beobachtet, warum es anfänglich so öd und später dann richtig gut war: Es lag daran, dass zu Beginn (immerhin der zentrale Akt des Romans) alle Dinge so unglaublich KONKRET beim Namen genannt wurden: die Landschaften, die Straßen, die Brücken, die Flugzeugtypen – es schauderte mich regelrecht vor Konkretheit. Da bekomm ich meinen üblichen Info-Overflow: Namen, Daten, Fakten, igitt! Da ist mein Hirn mittlerweile wie allergisch und will abschalten, abgeben an die angeschlossenen Festplatten und Datenbanken. Doch bald hörte das auf, im weiteren Fortgang der Lesung war ein Pferd zum Glück nur noch ein Pferd und nicht etwa ein Haflinger oder Araber, die Geschichten begannen, zu fesseln. Über gelegentliche Rückfälle („Ich stellte das Telefon neben die Aprikosenmarmelade“) konnte ich dann locker wegsehen…
Nun ja, ich bin halt keine Literatin, das wusste ich schon lang und sagte es mir zum Trost immer wieder vor. Wenig später folgte ich dann doch interessiert der Story: ein Berliner Weltpanorama, Geschichten, durch verschiedene Personen erzählt, Geschichten von heute, Geschichten von der Orientierungslosigkeit. Anschliessend dann die Frage-Zeit, Diskussion! Ein Besucher fragte, was denn Schramm davon halte, dass es in der Literatur länger schon verpönt sei, zu gesellschaftlichen Fragen Stellung zu nehmen, gar Kritik zu üben – wobei doch Schramm durchaus anerkannt wird (immerhin hat er Bücher veröffentlicht!), mit all seinem kritischen Bewusstsein.
Tja, sagte Schramm, dafür könne er nichts, er fände es nach wie vor wichtig, dass die schreibende Zunft auch ein kritisches Bewusstsein transportiere. Alle waren sich dann einig und guter Stimmung.
Wäre ich spontan und mutig genug gewesen, mich in diesem fremden Umfeld unverzagt zum Deppen zu machen, hätte ich mich zu Wort gemeldet und gesagt: Lieber Ingo, der Wessi, der die Literatur in diesen unbefriedigenden Ästhetizismus (bzw. das „kunstvolle Ablabern“) getrieben hat, ist nun mal erfolgsverwöhnt! Wenn er sich einsetzt, will er auch Ergebnisse sehen, und wenn die sich nicht einstellen, denkt er lieber um, anstatt ewig den Versager und Jammerer zu geben. Die Geste des Dagegen-Seins ist einfach nicht abendfüllend!
Ein Beispiel: Ingo kritisiert mittels seiner Romanfiguren den Flughafenausbau in Berlin Schönefeld (Naturverbrauch! Arme Vögel!). Er kritisiert auch diese Kritik (Mensch, die Leute in Tegel und Tempelhof finden es gut, dass der Fluglärm aufhört!), und er kritisiert auch die Nichtkritiker (lieblose Ignoranten ohne Herz für die Vögel!). Alles durchkritisiert, literarisch auf hohem Niveau. Alles paletti, Arbeit geleistet, Honorar verdient!
Toll, sag ich da als abgebrühte „Wessi-Schlampe“, aber wenn du so erfolgreich weiter machst, wirst du nicht nur zu Lesungen in Schwerin, der sterbenden Stadt, eingeladen, sondern nach New York, Basel, Jerusalem (Goethe-Institut). Und dann setzt du dich ins Flugzeug und jeder Abflughafen ist dir recht, bzw. persönlich ganz egal.
Das ist jetzt keine Unterstellung, sondern eine Metapher, geboren aus Erfahrung. Selbst, wenn Ingo ganz persönlich lieber nicht fliegt, ist es doch das „Normale“. Und „wir Wessis“ können nicht Jahrzehntelang dieses Normale in uns ignorieren und immer weiter idealistisches Zeug absondern als wäre nichts! Wir haben auch eine Geschichte: von der 68er-Revolution bis zur New Economy, eine Geschichte der Desillusionierungen, vor allem über uns selbst. In der BRD gab es zunächst diese Polit- und dann die Alternativszene. Und dort draussen in den Projekten und Landkommunen merkten die Leute spätestens, dass „der Feind“ nicht DAS SYSTEM ist, sondern ein Teil von uns selbst: das Wachsen-wollen, das Jemand-Sein, das Expandieren und Mehr- und weiter und besser-machen wollen….
Und auch bei uns ist die Weisheit nicht als Manna vom Himmel geschneit, sondern es gab eine breite Anstrengung in Sachen Selbsterkenntnis: Therapieszene, Selbsterfahrung, humanistische Psychologie, Körperarbeit, asiatische Methoden bis hin zu den vielfältigen spirituellen Bewegungen – und doch musste jeder Ehrliche feststellen, dass die dunkle Seite der Macht nicht auszurotten ist, so sehr man sich auch anstrengt. Vor allem ist sie nicht nur im Anderen, im Fremden, beim Gegner – sondern im Grunde meines Seins immer vorhanden, ja, sie ist sogar ein besonders energiespendender Teil.
Im öffentlichen „Diskurs“ kommt diese Erkenntnisgeschichte nicht so hervor, weil sie in hohem Maße sehr persönlich und privat erfolgt ist – aber doch von breiten Kreisen vollzogen. Angesichts dessen, was man da erfahren hat, über sich selbst und damit über die Welt und ihre Veränderbarkeit, zieht es mancher vor, von der schönen Schwingung im Schriftzug von Coca Cola zu schreiben, anstatt noch weiter VORZUDENKEN. Weil man das Schreiben halt nicht lassen kann…
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