Claudia am 17. Juni 2000 —

Forever young

„Wenn Sie es schaffen, gemeinsam mit uns ihre Zähne noch fünf Jahre im jetzigen Zustand zu erhalten, haben wir das Problem im Griff!“, sagt mein Zahnarzt. Dann nämlich seien die Techniken marktreif, mit denen man ‚geschwundene‘ Kiefer- und andere Knochen nach Belieben neu wachsen lassen könne, erzählt er begeistert. Im Tierversuch klappe das schon – allerdings, so gibt er auf Nachfrage zu, sei es noch ein Problem, das Wachstum zum richtigen Zeitpunkt wieder zu stoppen, aber das bekäme man schon noch hin.
Seine Begeisterung ist ansteckend. Niemals dritte Zähne, kein ‚rausnehmbares Gebiß, wie ich es bei meiner Oma immer so gruselig fand! Da kann mensch doch dem Alter gelassen entgegensehen, wenn das Schreckgespenst der „zahnlosen Alten“, die mühevoll ihr Süppchen schlürft, nur noch als kurioses Erinnerungsbild der Medizingeschichte existiert. Auch jenseits der Zähne schreitet der Fortschritt unaufhaltsam voran: „Forever young – das Erfolgsprogramm“ steht bei Amazon auf Platz 17, gleich nach Harry Potter (Platz 16) und „Öfter, länger, besser – Sextips für den Mann“ (15).

Was ist ALTERN? Ist es nur das „Versagen der Verschleißteile“, wie es Menschen zwischen 30 und 35 mit Sorge an sich wahrnehmen? Auf einmal funktioniert nicht mehr alles reibungslos, nächtelange Exzesse hinterlassen Spuren, hier und dort melden wiederkehrende Schmerzen: Hey, SO geht es nicht mehr weiter! Viele fangen jetzt mit Sport an, nehmen zum ersten Mal den Kampf gegen den Verfall auf, joggen ihre morgendlichen Runden oder hauen voller Optimismus in die Kraftmaschinen der Fitnesscenter. Es zeigen sich schnelle Erfolge, war da wirklich ein Problem?

Du wirst merken, dass du trotzdem stirbst, denk ich mir, wenn ich jemanden treffe, der gerade diese erste Initiation ins Altern hinter sich hat. Sage es natürlich nicht, denn das gehört zu den nicht mitteilbaren Dingen, die nur erlebt werden können. Als blosses Statement sind sie banal, doch erinnere ich mich z.B. noch gut, wie enttäuscht ich war, als mir nach einigen Monaten als Nichtraucherin aufging, dass auch Nichtraucher sterben. Nicht deshalb hab‘ ich wieder angefangen, doch war es ein erster Schlag gegen meine ursprüngliche Euphorie. Auf einer unbewußten Ebene hatte ich geglaubt, durch „gesund leben“ sei der Status quo in die Ewigkeit zu verlängern, ja, sogar ständig zu verbessern.

Wenn man den Fortschritt in der Medizin betrachtet, ist klar zu erkennen, daß die sichtbaren Spuren des Alterns schon jetzt und in Zukunft immer mehr zurückgedrängt werden – für die, die das bezahlen und den damit verbundenen Aufwand auf sich nehmen können und wollen. Abgesehen von der traurigen Tatsache, daß man Arme selbst am Nacktbadestrand an ihren Körpern erkennen wird, ist das „eigentlich“ eine tolle Sache. Fit for fun bis in den Tod – warum nicht?

Selbst Fortschrittskeptiker und Technik-Feinde denken nicht lange nach, wenn sie zwischen einem Implantat oder der NATÜRLICHEN Zahnlücke wählen müssen. Und Gentechnik will man zwar nicht im Gemüse, aber im Kampf gegen den Verfall überlassen wir die Bedenken den paar Intellektuellen in den Ethikkommissionen und stimmen zur Not mit den Füßen ab: was HIER nicht erlaubt wird, gibt es sicher anderwo.

Für mich gehen die Diskussionen, die über diese Entwicklungen geführt werden, am Punkt vorbei. Niemand wird sich ernsthaft von Gesetzen, vernünftigen Überlegungen oder umstrittenen ethischen Normen einen bestimmten Umgang mit dem eigenen Verfall aufzwingen lassen. Gestorben wird nun mal nicht im Kollektiv und so bleibt es immer Sache des einzelnen Individuums, inwieweit es gegen das Unvermeidliche anstrampeln will oder nicht.

Was ist ALT? Jenseits des körperlichen ist das eine offene Frage. Unser Bild vom Alter ist bestimmt von den konkreten Alten, die wir im Lauf des Lebens erlebt haben. Für mich gehört zum Beispiel eine gewisse STARRHEIT dazu. Dieses Beharren darauf, daß früher alles besser war, daß etwas nur SO und nicht anders gemacht werden kann, daß die Menschen schlecht und die Welt nur ungerecht und böse ist. Auch als Größenwahn kann sich das zeigen, indem jemand glaubt, aufgrund seines Alters wisse er alles besser und könne sagen, wo es lang gehen muß. Viele sind ganz dicht gegenüber der Wahrnehmung des JETZT und leben nur in der Vergangenheit – die Welt der Möglichkeiten schrumpft gegen Null.

Und hier zeigt sich: Starrheit hat nichts mit dem Altern an sich zu tun. Für mich sehen viele Junge psychisch verdammt alt aus. Ja, gerade in jungen Jahren ist die Gebundenheit ans eigene Triebleben, an die Erfordernisse der Gesellschaft, die Ansprüche der urteilenden ANDEREN ungeheuer groß, ob sich das nun in stromlinienförmiger Anpassung oder als militanter Widerstand zeigt. Die Hoffnungen, die auf Karriere (oder aussteigen, ein Außenseiter-Leben) gesetzt werden, der Glaube, daß Glück immer im MEHR und im NEUEN läge, die für mich nicht mehr wünsch- und auch nicht mehr erreichbare Bereitschaft, sich selbst zu unterdrücken, sich zusammenzureißen und ranzuklotzen, UM irgend etwas IN DER ZUKUNFT zu erreichen – ach je, das ist halt das Greisentum der Jugend, ich bin froh, daß ich da ‚rausgewachsen bin!

Plaudernd sitze ich mit einem Over30 zusammen, wir reden über ALLES, there are no limits, zumindest nicht im reden. Und auf einmal erwähnt er meine Kindlichkeit, meine „Unerwachsenheit“…. Ich staune, daß er das SO ausdrückt, und daß ihm das überhaupt auffällt. Ja, ohne diesen Aspekt könnte ich mit Jüngeren kaum reden, und sie schon gar nicht genießen! Erwachsen fühle ich mich trotzdem, herausgewachsen aus der Schwere, aus dem Gefängnis der Probleme und wichtigen Angelegenheiten, die früher meinen Kopf besetzt und den Körper in anhaltender Spannung hielten.

Von Jahr zu Jahr nimmt meine Freiheit zu, indem die Bindung an konkrete Wünsche und Pläne abnimmt. Diese werden zum Spiel: keine Katastrophe, wenn es unterbrochen wird oder man auch mal verliert, kein Problem, auch mal andere Spiele zu spielen…
Die Urteile der geliebten und ungeliebten Anderen werden unwichtiger und bestimmen nicht mehr wie früher alles Verhalten, einschließlich meiner Selbstachtung. Welche Befreiung! Die ach so hochgelobte „Zukunft“ ist lange schon ein Nowhereland (schon mal dort gewesen?). Je bewußter mir die Tatsache vor Augen steht, daß dieses Leben MEIN LEBEN und unvermeidlich ENDLICH ist, tue ich besser daran, es als das Abenteuer zu leben, das es ist: Eine offene Weite, in der wir uns und die Welt ausprobieren und erforschen können. Ein Geheimnis, das wir niemals lösen werden, doch dem wir immer auf der Spur bleiben müssen, wenn wir nicht vergreisen wollen zu lebenden Toten.

Tja, und so werde ich täglich jünger… ;-)

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