Claudia am 11. Mai 2000 —

Der Körper als Text

Sport war für mich immer schon Mord. Als Kleinste, Jüngste und einen komischen Dialekt Sprechende (Schwäbin unter Hessen!) hatte ich in der Kinderhorde schlechte Karten, war körperlich völlig unterlegen und bekam das stets zu spüren, meist auf unangenehme Art. Ich konnte nicht so schnell laufen wie die Älteren, mich nicht wehren, wenn sie mich angriffen, versagte – zu ihrer Freude! – bei jedem Wettspiel, kurzum: eine volle Niete! Ich lernte früh das HASSEN, haßte meine Übeltäter, deren übermächtiger Gewalt ich täglich ausgesetzt war. Und ganz automatisch entstand so Haß und Verachtung für körperliche Kraft und Anstrengung in jeder Form.

Dafür konnte ich schon vor der Schule lesen & schreiben – Groß- und Kleinschrift. Durch bloßes Nachfragen (Was steht da?) hatte ich es mir selber zusammengereimt. Zwar nützte mir das wenig bei den anderen Kindern, doch es öffnete mir sehr früh die Tür in eine andere Welt: Die Gutenberg-Galaxis war meine Rettung. Zwischen 5 und 12 las ich die gesamte Kinderabteilung der Leihbücherei durch, alles, was mich nicht zu Tode langweilte. Und das war eine Menge!

Erst wußte ich nicht, wie ich ein Buch aus den unzähligen Regalen auswählen sollte und fragte meine Mutter. Sie gab mir den Tip: „Schlag es irgendwo auf und schau, ob da viel ‚wörtliche Rede‘ vorkommt. Dann kannst du es nehmen“. Meistens folgte ich diesem Rat und wurde selten enttäuscht. Doch experimentierte ich auch: Griechische Heldensagen in Hexametern erfreuten mich durch diesen seltsamen Sprachrythmus, den ich durch eigene Sprüche – im gleichen Sound – zu kopieren versuchte.

In der Schule war alles leicht, ich langweilte mich, während die anderen Schwierigkeiten hatten, einfach nur die Buchstaben zu lernen. Zum ersten Mal war ich BESSER, erfolgreicher, nicht mehr die Hinterletzte, sonder VORN DRAN. Was für ein Gefühl…. Nur im Sportunterricht, da behielt ich die alte Rolle. Wurde immer unter den letzten ausgewählt, wenn es darum ging, eine „Mannschaft“ zusammenzustellen und bei Wettrennen zog ich es oft vor, hinzufallen und mir das Knie blutig zu schlagen, anstatt wieder mal keuchend und völlig fertig als Nachzüglerin ins Ziel zu gehen, wo die anderen warteten und über mich lachten.

Alle schnellen Bewegungen, alle Anstrengungen, die heftiges Atmen hervorrufen, waren und blieben mir verhaßt – tatsächlich schätzte ich diese Phasen später nicht mal beim Sex! Ohne daß mir je eingefallen wäre, woher dieses Mißempfinden rührte, das ich erst jetzt versuchsweise an mich heranlasse. Klar, daß mein Weg über den Bücherwurm zum Screenpotato vorgezeichnet war. In den virtuellen Welten der Gutenberg-Galaxis läßt sich viel erleben – und mancher MindFuck brachte mir weit größeres Vergnügen als das bewegte Leben, das ich in den Zeiten der „sexuellen Befreiung“ so angestrengt führte.

Zur Zeit fahre ich täglich Fahrrad – das bringt mich in der ersten Phase so weit weg von Home, daß ich meine Runde auch zu Ende fahre. Zurück LAUFEN würde einfach zu lange dauern (die Arbeit ruft…) Auf der Strecke gibt es verschiedene Steigungen, die mich wirklich außer Atem bringen. Ich steige auch mal ab, wenn es zu schlimm wird, doch schon jetzt schaffe ich die Runde auch ohne Pause. Das Stärkste: Zu Beginn der Tour und manchmal zwischen drin gibt es Augenblicke, da spüre ich die Freude des Körpers an der Anstrengung: als lebte da ein fremdes Wesen in mir, etwas ganz urtümliches, das seine eigenen Vorlieben hat und nur darauf wartet, daß ich ihm Raum lasse. Diesen Raum betreten, in dem offensichtlich mir unbekannte Freuden warten, bringt allerdings zuerst auch den Haß, die Verachtung, die Angst wieder an die Oberfläche, die mich dazu bewegt haben, die Türen zu diesem Raum verschlossen zu halten.

Erinnerungen sind im „Unbewußten“ gespeichert, heißt es. Was ist das Unbewußte, mal ganz materiell betrachtet? Kein Geist exisitiert ohne Körper. Körperlich eingeschrieben sind die Erfahrungen zum Beispiel in die Faszien, die form- und haltgebenden Umhüllungen der Muskeln. Wenn durch ungewohnte Bewegungen und Anstrengungen diese verfestigten Formen angegriffen werden, beginnen sie, sich zu lockern und aufzulösen. Das ist ein körperlicher, aber vor allem ein psychischer Schmerz: man erlebt alle Gefühle wieder, die zu diesen Formen geführt haben, die ja nichts anderes sind als Verteidigungshaltungen, Verspannungen und Verpanzerungen, die irgendwann „ganz normal“ geworden sind. Der in Materie verschlüsselte Inhalt wird wieder zu lesbarem Text, Text, den man dereinst nicht lesen mochte, nicht ertragen konnte.

Diesem Blog per E-Mail folgen…