Claudia am 05. Mai 2000 —

Splendid Isolation

An diesem so plötzlich aber heftig ausgebrochenen Frühling, der seit einer Woche den Norden heimsucht (endlich sind WIR mal bevorzugt!), fällt mir dieses Jahr besonders die GEWALT auf, mit der er alles ergreift und verändert. Keine gemütliche, allmähliche Veränderung, sondern eine Explosion, die alles aufbricht und nach außen treibt, auf Gedeih oder Verderb. In den Mauern Berlins war das sehr viel verhaltener, doch hier, inmitten der Wiesen, Wäldchen und endlosen Felder, die in schreiendem Rapsgelb glühen, ist die Energie viel deutlicher spürbar. Ich möchte auf Berge klettern, fliegen, vielleicht sterben – mich der Gewalt überlassen, irgendwie.

Doch ich lebe meinen Alltag, fast wie immer, und untergründig verdichtet die Energie die Wahrnehmung. Im Zug, auf der Rückfahrt von Hamburg: in jeder Reihe des Großraumabteils sitzt ein Mensch, intuitiv hat jeder den weitestmöglichen Abstand zum anderen gewählt. Der Junge in der Reihe vor mir, vielleicht 20, flüstert dauernd in sein Handy, die junge Frau hinter mir, unglaublich schick gestylt, blättert in einer Zeitung. Noch eine Reihe weiter langweilt sich ein weiteres Individuum, starr aus dem Fenster blickend. So geht das eine Stunde lang und ich frage mich: Warum plaudert eigentlich niemand mit dem Anderen? Warum sitzen wir da wie Schaufensterpuppen?

Völlig „normal“, ich weiß. Tue ja auch selber nichts, um das zu ändern, schon gar nicht mit Leuten, die Äonen jünger sind als ich und damit fast wie Aliens auf mich wirken. Säße da statt dessen ein sorgenvoll dreinschauender Endvierziger, Charakterfalten im Gesicht, aber sonst halbwegs in Schuß, vor sich am besten DIE ZEIT oder einen Laptop – ja, da würde ich vielleicht ein Geplauder in Erwägung ziehen, vielleicht…. wahrscheinlich aber doch nicht, zu dominant ist das Gefühl, nur dann Kontakt aufnehmen zu dürfen, wenn es dafür einen konkreten Grund, ein „um-zu“ gibt.

Als Kind brauchte man das nicht: klingeln, klopfen, rufen: HALLO, KOMMST DU RUNTER? Kein Problem, ganz normal im Paradies, aus dem wir alle bald schon fallen und das sich erst in der Rückschau als Paradies herausstellt. Der Frühling macht die Mauern bewußt, mit denen wir uns umgeben, um nur ja niemandem nahe zu kommen. Wenn es doch mal sein soll, müssen erst aufwendig Durchbrüche geschlagen, Wege geebnet, Zugbrücken heruntergelassen werden und wehe, der Andere ist nicht so, wie erwartet…. Wir wollen stets alles unter Kontrolle haben, und genau das macht die Ödheit des Alltags aus, gegen die die Spaßgesellschaft mit unzähligen Events erfolglos anrennt.

Diesem Blog per E-Mail folgen…