Claudia am 17. April 2000 —

Alternativen

Morgens um 7 – naja, manchmal auch etwas später – setze ich mich vor’s Gerät. An guten Tagen bleibt das Mailprogramm, dieses Scheunentor zur Welt, erstmal unberührt, ich rufe den Editor auf und warte, daß mir etwas einfällt. Eine angenehme Art der Besinnung, der Geist sucht nicht, sondern „hört“ – etwas, das kaum mehr funktioniert, wenn ich schon 40 verschiedene Infos und Kommunikationsangebote ‚reingelassen habe. Tagebuch-Schreiben ist praktische Selbstverteidigung gegen die zentrifugalen Kräfte, die das Denken in 1000 Richtungen ziehen – durchaus interessante, spannende, manchmal wichtige, meist aber unwichtige Richtungen, zwischen denen das „Ich“ zerissen und zerrieben wird und die Fähigkeit zu verlieren droht, „wichtig“ und „unwichtig“ zu unterscheiden.

Was für das Denken das ziellose Schreiben ist, läßt sich für den Körper sehr viel schwieriger finden. Immer wieder nehme ich mir vor, täglich eine halbe Stunde spazieren zu gehen oder Yoga zu üben – und halte es dann doch nur kurze Zeit durch. Der Sauna-Besuch alle zwei Wochen macht immer wieder deutlich, wie sehr ich unter dieser sitzenden Lebensweise leide – ein Leiden, das im Alltag leicht vergessen wird, es gibt ja so viel Spannendes zu tun…. Wobei „tun“ immer nur Tasten-Hacken und Maus-Klicken bedeutet, immer wieder sitzen, sitzen, sitzen…

In den letzten Monaten kann ich es nicht mehr vergessen. Da hilft kein noch so komfortabler Bürostuhl: ich MUSS die Zeit einschränken, die ich vor diesem Apparat sitze. Und ich tue es zunehmend GERN. Beginne, knallhart denn computerfreien Sonntag zu verteidigen, Ausflüge und Besuche zu machen, bin sogar so vermessen, einen „Feierabend“ einzuführen und die Abende anders zu verbringen, sei es auch nur mit einem Film oder einem Buch. Das ist zwar nicht die große Abwechslung, was den Körper betrifft, aber immerhin kann man dabei LIEGEN.

Kürzlich war ich in der Schweriner Oper – zum ersten Mal im Leben, eingeladen von Freunden, die da einen ulkigen Statistenjob haben. Mein Gott, ich und Oper! Immer hatte ich diese volksferne Hochkultur elitärer Bildungsbürger verabscheut, ohne je einen Versuch zu machen. Es war eine Rossini-Oper, unter dem Titel „Ein Türke in Mecklenburg“ modernisiert – und wirklich stellenweise sehr lustig! Der ganze Event, das Lokalkolorit, das etwas herunter gekommene Opernhaus, die alles andere als elitäre Atmosphäre (keine „großen Abendroben“ wie in Berlin) und die bewundernswerten Leistungen der Sänger haben mir gefallen – nach einer kleinen Gewöhnungsphase, in der mir die Schlichtheit der erzählten Geschichte rund um Liebe, (Un-)Treue und Eifersucht fast peinlich war. Intellektueller Hochmut, ganz klar, den ich seltsamerweise nicht spüre, wenn ich einen Fantasy-Roman lese oder im TV einen Psycho-Thriller ansehe.

Demnächst werde ich mal das Theater antesten – auch etwas eher Fremdes für mich. Oder auch mal sehen, was die Volkshochschule hier so bietet, es muß ja nicht unbedingt „Eier-bemalen-in-sorbischer-Wachsmaltechnik“ sein. Hauptsache offline!

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