Claudia am 14. November 1999 —

Ego und Gesellschaft

Björn hat einen Leserbrief zu Ingo Macks Beitrag über den „finalen Mausklick“ (Recht auf Selbstmord und Sterbehilfe) geschrieben. Darin wendet er sich GEGEN die schrankenlose „Freigabe aller persönlichen Rechte“, denn so sei keine Gesellschaft überlebensfähig. Wo bleiben die Rechte des Anderen? Wer soll entscheiden, wie weit die Rechte des Einzelnen gehen?
Mit diesen Überlegungen gerät Björn mitten in ethische Fragen, die seit 1000en Jahren die Menschen umtreiben und die doch niemals eine „befriedigende“ Lösung finden. Die Götter, die früher mit Hilfe einer Priesterschaft die Menschen disziplinierten, sind verschwunden. Der EINE GOTT, der alles sieht, selbst wenn dich niemand sieht, ist tot. Die LOGIK von Kant, der versuchte, eine Ethik ohne Gott zu begründen, hindert die Einzelnen nicht, schrecklich unlogische Dinge zu tun. Alles, was wir heute haben, ist ein demokratischer Rechtsstaat, eine im besten Fall dynamisch fortschreitende Kompromißmaschine, die immer das Gesetz werden läßt, was die „Mehrheit aller billig und gerecht Denkenden“ für richtig hält.

Demokratie hat keine Wahrheit und genau das macht sie zur erträglichsten Regierungsform. Doch die Frage des Einzelnen, der ja in diesem Rahmen selbst darauf kommen muß, WAS er für „billig und gerecht“ hält, ist damit nicht beantwortet. Viele verbringen Jahre des Lesens und Nachdenkens mit der Suche nach der absoluten Wahrheit und der daraus abzuleitenden Gerechtigkeit: ohne Erfolg – sieht man mal davon ab, daß es natürlich eine schöne und bildende Beschäftigung ist. Doch jedes Gedankengebäude, das jemand mühevoll errichtet, stürzt wie ein Kartenhaus zusammen angesichts eines Einzelfalls – und IMMER gibt es Einzelfällle, die einfach nicht passen….

Für mich ist mittlerweile klar: Die Frage nach der Allgemeinheit, nach der Gesellschaft, ist erstmal eine Sackgasse. Man kann konkretes Fühlen und Handeln nicht „von daher“ bewerten, ja, allermeist ist diese Überlegung ein Ausweichen vor der Forderung des augenblicklichen Lebens. Anstatt beim Einzelfall zu bleiben – zum Beispiel meinen konkreten Novembergedanken: Wie werde ich sterben? – wird in staatstragende Überlegungen ausgewichen und dabei kräftig abstrahiert. Aus meinem Wunsch, in jeder Lage selbst über mein Leben bzw. Ableben zu bestimmen, wird so die Frage, wie die Rechte des Einzelnen ganz allgemein abzugrenzen seien. Damit ist, für den Augenblick, der Tod scheinbar wegabstrahiert, eine Lüge, wie sie vom immer ‚hilfreichen‘ Verstand jederzeit zu haben ist.

Der „Gesellschaft“ ist damit nicht etwa geholfen. In Theorie und Praxis brauchen moderne Demokratien den „mündigen Bürger“, nicht unbedingt den kundigen Denker (ok, ein paar, aber nicht 80 Millionen…). Ein mündiger Bürger ist einer, der sich selbst kennt, der seine Handlungen nicht als reines „Mitschwimmen“ im Mainstream vollzieht, aber auch nicht als „automatische Widerstandshandlung“, wie es für junge Menschen naheliegt, die sich erstmal gegen alles Vorgefundene wenden.

Sich selbst kennenlernen ist unmöglich, wenn bei jedem „Problem“ ins Denken ausgewichen wird. Es kommt dabei keine neue Erkenntnis heraus, denn man schaut ja gar nicht mehr hin: Wer stirbt? Vor WAS habe ich Angst? Was ist das für eine Angst? Ist sie immer da oder nur, wenn ich eine Krankheit spüre? Was IST jener Teil in mir, der einfach nicht verkraften mag, daß es mal ein Ende hat? Was ist ES? Was hat das für Auswirkungen in meinem alltäglichen Leben, wenn ich garnicht an Tod & Sterben denke?

Viele hochspannende Fragen schließen sich hier an, alles Fragen, die ich nicht aus Büchern beantworten kann, ja, die praktisch überhaupt nicht durch irgend ein aktives Tun oder Denken zu lösen sind. Allein das beobachtende Dabeibleiben bei den Fragen, wie sie im Alltag immer wieder aufblitzen, wenn man sie läßt, schafft die Möglichkeit, daß Antworten geschehen können (nicht: müssen).

Über solche Antworten besteht dann kein Bedarf, zu streiten. Sie SIND, und sie bilden den Bestand, von dem aus ich die Entscheidung treffe, ob und wann der „finale Mausklick“ ein Weg ist, ganz egal, was die Gesellschaft dazu meint. Sie bilden aber auch die QUALITATIVE Grundlage für das, was ich als „billig und gerecht Denkende“ als Forderung an die Gesellschaft herantrage – in der Hoffnung, damit schon bald eine Mehrheit zu bilden. Im besten Fall eine Mehrheit mündiger Bürger.

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