Claudia am 23. Oktober 1999 —

Ausflug ins Real Life?  

„Real Life ist auch nur ein Fenster unter mehreren – und nicht einmal mein Bestes!“ WER diesen denkwürdigen Satz gesagt hat, ist mir entfallen, doch ich erinnere mich noch gut, daß er 1996 euphorisch durch die Drähte geflüstert wurde. Der NetHype schwappte gerade von USA herüber: virtuelle Welten, der Cyberspace, neue, unendliche Weiten öffneten sich der Eroberung und wer schon einen Anschluß hatte, gehörte zur Avantgarde. Alle waren nett zueinander!

So lautstark der Hype, so heftig der folgende Absturz: Spätestens ab 1998 sollte das Netz vor allem NÜTZLICH sein. Sämtliche Utopien und Denkmodelle über veränderte Realitäten, Beziehungen und Gemeinschaften wurden jetzt belächelt, als Kopfgeburten abgedrehter Philosophen oder Rechtfertigungstiraden sozial gestörter Netzfreaks abgetan. Und der Ton ist rauher geworden.

Was ist denn nun von alledem real? Wirklichkeit ist das, was wirkt. Und mir scheint, schleichend entfalten sich die Wirkungen, die dereinst in den Kindertagen des Netzes von einigen wenigen erlebt und ausgesprochen wurden. Über das „reale Leben“, wie es einmal war, schiebt sich eine ebenso reale Dimension netzvermittelter Kommunikation, die sich anschickt, für jeden erlebbar Raum und Zeit zu transzendieren. Alles ist mit allem, jeder mit jedem, zu jeder Zeit an jedem Ort verbunden – potenziell, versteht sich. Nur dann, wenn man es wünscht!

Auf meiner 1-wöchigen Reise nach Wiesbaden und Essen besuchte ich erst meine Schwestern und dann einen Freund und Kollegen, mit dem ich gerade ein Webprojekt plane. Vor zwei Monaten erst ist meine Schwester Doris (hallo Doris!) mittels eines eigenen Netzanschlusses aus der physischen Ferne „aufgetaucht“. Sie meldete sich per Mail, guckt jetzt ab und zu in dieses Diary und kann im Web surfen. Das führte dazu, daß meine Mutter sie besuchte, um von ihrem PC aus mal www.schloss-gottesgabe.de anzusehen. Sie will ja wissen, wie ich wohne….

Doris ist für mich jetzt anders DA als vorher. Sie war „draußen“, nun ist sie im Netz, dort, wo ich (unter anderem) auch bin, dort, wo ich wesentlich lebe und arbeite, wo meine Webseiten stehen und wo ich Mitglied in verschiedenen Communities bin, kleine Öffentlichkeiten, die man miteinander teilen kann wie früher das physische Umfeld desselben Dorfs.

In solchen Öffentlichkeiten lerne ich auch neue Leute kennen, Menschen mit ähnlichen Interessen, die zu Freunden und/oder Kollegen werden. Sie sind mir lange schon vertraut, wenn ich sie zum ersten Mal „real“ sehe, mit ihnen f2f (face to face) zusammen komme. Und tatsächlich bringt so ein Life-Kontakt immer ein MEHR an Input mit sich, so daß man denken könnte, dies sei nun REALER, wirklicher als das netzkommunikative Zusammensein. Mimik und Gestik, spontane Reaktionen, das Erleben, wann jemand müde wird, was er gern ißt und trinkt – all dies kommt per Mail nicht ‚rüber.

Michael, den ich gerade besuchte, nennt den f2f-Kontakt „ganzheitlicher“ (hi Michael!) – ich bin mir da nicht so sicher. Klar, man gewinnt die oben angeführten Aspekte hinzu, aber: einige verliert man auch! Denn: bin ich weniger wirklich, wenn ich mich per Mail und Website in einer überlegteren Art zum selbst gewählten Zeitpunkt mitteile? Und wenn ich im Netz Haltungen und Seinsweisen ausexperimentiere, die vielleicht lebenswirklich (noch?) keine Entsprechung haben – ist nicht auch dies ein realer Teil von mir? Ein „virtueller“ Teil, meinetwegen, aber doch ganz real, im Sinne von wirklich vorhanden, Wirkungen entfaltend!

Ich kenne Menschen, die eine ausschweifende und sehr klar konturierte Cyber-Existenz führen. Trifft man sie „real“, ist davon kaum etwas zu spüren. Und doch: das ist nicht etwa eine Lüge oder eine Verkleidung! Sondern das, was vor Kurzem noch im Innenraum der Psyche und des Geistes verblieben wäre, was allenfalls in abstrahierter Form und ohne kommunikative Wirkung den Büchermarkt bereichert hätte, all das hat jetzt im Netz ein „Lebensfeld“ gewonnen, einen Raum, in dem es für andere sicht- und erlebbar wird.

Widersprüchlichkeiten, die aufmerksame Menschen an sich selbst immer schon feststellen konnten, werden so nach außen in den kommunikativen Raum verlagert. Das große Spiel des Netzes ist nicht, wie viele Neulinge (und netzferne Wissenschaftler) meinen, das Spiel mit bewußt angenommenen Pseudo-Identitäten – sondern das Wagnis, die Vielen, die wir immer schon sind, auch zu zeigen.

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