Claudia am 18. Juni 1999 —

Ballast abwerfen

Es ist nicht mehr lange bis zu unserem Umzug aufs Land. So langsam stellt sich ganz unterschwellig ein gewisses Spannungsgefühl ein, so eine Art Prickeln wie vor einem großen Abenteuer. Und das ist es ja auch, nach 20 Jahren Berlin.

Am Sonntag werden wir wieder nach Gottesgabe fahren und zum ersten Mal unsere neue Wohnung leer sehen, sie alleine betreten, nachsehen, wo der ISDN-Anschluß liegt – das ANGESCHLOSSENSEIN ist nun mal das wichtigste! – und uns dann vorstellen, wo wir unsere wenigen Möbel hinstellen.

Ich bin schon dabei, alles, so weit es geht, auszumisten. eine Beschäftigung, die mir große Freude macht, ich spüre die Erleichterung geradezu körperlich, wenn ich mich wieder einmal von einem großen Stapel Papier trenne. Magazine, alte Artikel aus dem Netz, Unterlagen und Materialien für lange abgeschlossene Webprojekte, Zeitungsausschnitte, Werbung für dies&das – unglaublich, was sich doch alles immer wieder ansammelt, obwohl ich mittlerweile eine engagierte Gegnerin jeglichen Ansammelns bin.

Zum Beispiel besitze ich immer nur ca. 150 bis 200 Bücher. Natürlich kommen neue hinzu, doch wenn die vorgesehenen Regalbretter voll sind, dann verschenke ich die, die ich mit Sicherheit kein zweites Mal lesen werde. Ehrlich gesagt erfüllen diese Bedingung die meisten Bücher, also ist es nicht schwer.

Geradezu Ekel überkommt mich beim Anblick von gestapelten Magazinen: InternetPro, InternetWorld, ComputerFoto, Page – alles schöne oder zumindest nützliche Hefte, doch erfahrungsgemäß schau ich auch da kein zweites Mal rein. Und nehme sie trotzdem mit, könnt ja sein, daß ich sie für meine Webkurse brauche. Ach, „könnt ja sein, daß…“ ist der Standardspruch, mit dem der Kopf alles mögliche behalten will, aber glücklicherweise spüre ich mittlerweile den Ballast aller dieser verstaubenden, letztlich nutzlosen Anhäufungen derart, daß der Bedenkenträger in mir kaum eine Chance hat.

Andere Gefühle erzeugen eigene Texte, Briefe, allerlei kleine Andenken und Nippes, Fotos meiner Familie oder von alten Freunden und Bekannten. Auch da bin‘ ich bei vergangenen Umzügen schon sehr viel losgeworden, doch noch immer sind zwei große Schachteln und ein paar Ordner und Schuber voll mit solchen Dingen. DAS wegzuwerfen ist das Schwerste – obwohl ich wirklich NIE reinsehe, NIE von Nostalgie gepackt werde und in Vergangenheit bade. Und doch… einfach in den Müll?

Einerseits ist da das Gefühl eines Vergehens gegen die Leute auf den Fotos, die Schreiber der Briefe und die Schenker der Gegenstände, wenn ich die Dinge nicht mehr mit mir herumschleppe. Aber das ist nicht das Wesentliche. Stärker noch ist das Gefühl: Wenn ich DAS alles los bin, gibt es nicht einmal mehr die MÖGLICHKEIT, mich „Stoff-gestützt“ zu erinnern. Dann ist die Vergangenheit nicht mehr erreichbar, wirklich unwiederruflich weg (was ja den Tatsachen entspricht!) Und vielleicht hab‘ ich ja mal irgendwann Lust, zu erinnern?

Doch ich weiß: es wäre nicht gut, es wäre ein Zeichen von Problemen mit dem Hier & Jetzt – und helfen würde es dann auch nicht, sich mittels überlebter Relikte vergangener Zeiten in Träume zu versenken, wie es einmal war… du lieber Himmel, wenn ich nur dran denke, daß ich mal so werden könnte!

Also weg damit, aber NICHT hier und jetzt, nicht in den Müll. Ich werde, sobald in Gottesgabe ein wenig Ruhe ist, im hinteren Schloßgarten ein rituelles Verbrennen veranstalten. Ich vermute, das geht leichter, als intime Dinge und Texte dem Müllgeschäft der Großstadt anzuvertrauen.

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