Claudia am 16. Juni 1999 —

Miteinander sprechen

Gestern abend war ich mit meinem lieben Freund und Lebensgefährten zu Besuch bei den Freunden, mit denen wir bald in das kleine Dorf Gottesgabe bei Schwerin ziehen. Es war wie immer sehr umtriebig, drei aufgeweckte Kinder und zwei häufig klingelnde Telefone ließen die Zeit wie im Flug vergehen. Dann, daheim vor unserer Haustür angekommen, beschlossen wir, noch eine ruhige Stunde bei Wasser und Wein zu verbringen. Doch es sollte nicht sein, kaum hatten wir uns niedergelassen, kamen alte Bekannte und setzen sich zu uns. Sie waren in äußerst aufgeräumter Stimmung und redeten wie die Wasserfälle, legten los und hörten nicht mehr auf. Jeder für sich, oft auch gegeneinander, einander ins Wort fallend, ohne Ende. Ich hatte nicht den Eindruck, daß mit uns gesprochen wird oder gesprochen werden solle – sie kämpften mehr miteinander um die Redezeit, und darum, wer hier oder da Recht hat.

So und ähnlich sind viele ‚Gespräche‘. Menschen machen die allergrößten Anstrengungen, um zu Wort zu kommen, möglichst interessante Dinge zu sagen, wunderbare Ideen, Thesen und Argumente zu bringen oder zu widerlegen – oder sie erzählen und erzählen und erzählen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was das Gegenüber denn mit dem Thema zu tun haben könnte.

Früher hab‘ ich mich darüber geärgert, doch im Grunde nur, weil ich selbst in solchen Situationen nicht genug Redezeit ergatterte, bzw. mich dazu unziemlich anstrengen mußte. Heute muß ich glücklicherweise nicht mehr viel reden, wahrscheinlich, weil ich es lange Zeit ausgiebig genug betrieben habe, um sämtliche Illusionen und Selbsttäuschungen über irgendeinen möglichen „Sinn“ solcher Abquatschereien zu verlieren. Wenn mich jemand mit einem Redeschwall überschüttet, stimmt es mich eher traurig und ich bekomme Fluchtgedanken.

Die Fluchtgedanken kommen auf, weil das ganze einen Energieverlust verursacht. Selbst, wenn man es schafft, die eigene Ruhe zu bewahren, so ist gegen die hektische Stimmung und die vielfältig negativen Emotionen kein Kraut gewachsen. Traurig stimmt es mich, weil es so absurd und dazu noch vergeblich ist. Absurd ist die Tatsache, daß der militante Redner eigentlich nichts anderes will, als durch das Viel-Reden wahrgenommen zu werden, Anerkennung und Zuneigung vom anderen zu bekommen. Und er (oder sie) sieht nicht, daß so eher das Gegenteil erreicht wird. Selbst wenn der WAHRE ZUHÖRER zur Verfügung steht, völlig leer, ganz offen, dem Redner voll zugewandt, bemerkt der in seinem offensiven Output Gefangene ihn nicht. Bemerkt garnichts mehr, nicht das Gegenüber, nicht die Musik, die Farben und Formen, die anderen Anwesenden, das Kommen und Gehen, das Wetter, die Nacht….

Und außerdem ist es vergeblich. Der Spruch „geteiltes Leid ist halbes Leid“ ist falsch. Wer andere mit ausufernden Geschichten von der bösen Welt und den schlimmen Mitmenschen ‚beglückt‘, befreit sich selbst kein Stück davon, zieht nur – im schlimmeren Fall – die anderen mit ins psychische Elend.

Zu bauchhaftig?

Zum Eintrag vom 15. bekam ich eine Mail, in der die „Bauchhaftigkeit“ meiner „Argumentation“ beim Thema Geldmacke gerügt wurde. Begriffe wie „Sünde“ oder „Schuldgefühl“ seien da nicht angebracht. Und weiter:

Genau betrachtet sind diese Regungen doch eine fast instinktive Abwehr des imperialistisch alle Strukturen und Beziehungen zersetzenden Fetischcharakter des Geldes und des damit verbundenen Tauschwertprinzips. Freud hat das noch unter dem Thema „Das Unbehagen an der Kultur“ subsumiert, inzwischen geht es allerdings viel tiefer. Die Vernichtung traditioneller sozioökonomischer Strukturen (Stichworte: Zerfall der Familie, Beziehungsunfähigkeit, Verlust des Subjekts) reduziert die Menschen doch immer stärker auf den Besitz ihrer Gegenstände bzw. deren Geldwert, frei nach der Formel: Bist du was, hast du was. Sich diesen Tendenzen zu widersetzen halte ich für überaus legitim, was mich in keinster Weise daran hindert an den richtigen Stellen auch richtig Geld zu verlangen.

Glückwunsch! Was aber, lieber Leserbriefschreiber, hat deine „Argumentationskette“ denn dann eigentlich mit deinem Leben zu tun? Offenbar wenig. Ich nehme mir heraus, in diesem Diary „bauchig“ zu sein – im Web darf jede, wie sie will! Ich ARGUMENTIERE auch nicht, sondern erzähle, was ich erlebe. Nichts wäre langweiliger, als auf die Ebene der Argumente zu gehen. Wozu dann noch schreiben? Es ist doch alles – und immer auch das Gegenteil – 1000fach gesagt und aufs Beste in tollen Werken bibliothekssicher niedergelegt (siehe „Unbehagen…“ und vieles mehr). Wenn ich ein Schuldgefühl verspüre, sobald ich einen Stundensatz von z.B. 130,- für meine Arbeit ansetze, dann ist das ein Fakt und kein Argument. Ich muß nun einmal automatisch daran denken, daß mir meine Arbeit nicht nur dieses Geld bringt, sondern auch noch Freude macht, wogegen allzuviele Menschen langweilige, dreckige oder schwere Arbeiten für weit weniger als ein Zehntel dieses Stundensatzes verrichten müssen – ohne eine Perspektive auf Veränderung. Und bei dieser Wahrnehmung bleibe ich heute einfach stehen, bzw. schau mir noch andere Aspekte eines „Schuldgefühls“ an. Es bringt mir nichts mehr, mich vor lebendigen Gefühlen in politische Bekenntnisse oder auch gewisse spirituelle Lehren zu flüchten, einfache Lehren, die auf abstrakter Ebene vordergründig etwas erklären, jedoch nirgendwohin führen. Mit „dem Fetischcharakter des Geldes“ oder „der Vernichtung sozioökonomischer Strukturen“ kann ich in diesem realen Leben einfach garnichts anfangen. Sorry!

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