Claudia Klinger: Digital Diary - Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück
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Zwei Augen schauen dich an
15.Mai, 2002:

Die ganz normale Korruption

Schon im Wort selber schwingt Entrüstung mit: KORRUPTE Politiker! Kann man das auch ganz emotionslos sagen? So wie "Baugenehmigung" oder "Evolutionsvorsprung"? Eher nicht, beim Aussprechen oder Niederschreiben stellt sich im Gegenteil die Gier ein, noch eins drauf zu setzen: Widerlich-korrupte Politiker-Bande! Schamlose Selbstbereicherung! Übelster Spendensumpf! Und je mehr man um Worte ringt, desto größer wird die Entrüstung. Die ansonsten belächelten Schlagzeilen der BILD-Zeitung können jetzt gar nicht groß genug sein, gewaltige Lettern schreien die eigentlich nie richtig neue Wahrheit quer über die Straße: KORRUPTION! Und auf einmal ist das gut so.

Zu Forschungszwecken lege ich den Mantel der Unberührbarkeit ab, den der mit allen Wassern gewaschene State-Of-the-Art-Mensch heute zum Mithalten braucht, und schaue, was darunter ist. Woher diese Emotionalität? Warum erzeugen Nachrichten aus dem Spenden- und Bestechungswesen eine Gefühlstiefe, mit der sonst nur Konflikte im Reich persönlicher Beziehungen mithalten können? Woran ENTZÜNDET sich diese Empörung?

Um das heraus zu finden, stelle ich mir die Vorgänge ganz konkret vor. Da sind also Menschen in anstrengenden politischen Ämtern, andere sitzen an einflussreichen Stellen in der Verwaltung und steuern komplexe Vorhaben. Ihr Job ist Kampf von morgens bis abends. Sie haben es ständig mit Personen und Gruppen zu tun, die all ihre Macht einsetzen, um etwas zu bekommen oder etwas zu verhindern. Der Versuch, mit Beteiligten und Betroffenen über die jeweiligen Sachen "ganz sachorientiert" zu reden, erweist sich schnell als Gipfel der Naivität. Keinem geht es um "die Sache", sondern allein darum, ob diese Sache ihm nützt oder schadet. Das gilt auf jeder Ebene, nicht nur dort, wo gemeinhin "die Mächtigen" aktiv werden. Jede Bürgerinitiative, die eine Flughafenerweiterung verhindern oder eine Krötenart vor der Autobahn schützen will, ist ebenso Lobby für Partikularinteressen wie diejenige der Ärzteschaft, der Pharmaindustrie oder der Gewerkschaften.

Politiker und Beamte sind in diesem Zirkus Maximus die EINZIGEN, die fürs Allgemeinwohl einstehen und selbstlos den Ausgleich der Interessen gegen alle Widerstände durchsetzen sollen. Qua Amt haben sie uneigennützig zu sein, inmitten vieler Fronten aus unverstellter, ja allseits akzeptierter Eigennützigkeit. Es gibt nur einen einzigen Job, der mit diesem Anforderungsprofil verglichen werden kann, das ist der katholische Priester, der im Zölibat leben muss - inmitten einer Welt, in der der Porno aus allen Ecken stöhnt. Wenn allerdings die katholische Priesterschaft dem Zwangs-Zölibat im realen Leben nicht genügen kann, ruft man nach dessen Aufhebung. Wer aber könnte oder wollte die verordnete Uneigennützigkeit der Politiker und Beamten aufheben? Sie ist strukturell unverzichtbar, damit unser täglicher Kampf aller gegen alle nicht in kalten oder heißen Bürgerkrieg ausartet.

Die Bezahlung, die man in diesen Berufen zu erwarten hat, erscheint dem Durchschnittsverdiener als ganz ordentlich. Die Arbeitsbedingungen allerdings weichen weitmöglichst von dem ab, was Gewerkschaften, Psychologen oder Ärzte unter einem menschenwürdigen Arbeitsplatz verstehen würden. Allein schon die Arbeitszeiten, das Wegschrumpfen des Privatlebens, das stete Beobachtet- und Kritisiert-Werden! Lehrer "brennen aus", weil sie fünf halbe Tage pro Woche Aug in Aug mit einer Bande renitenter, Jugendlicher zubringen müssen - glaubt man eigentlich, in den Haifischteichen der Interessenvertreter sei es vergleichsweise gemütlich?

Das Image, dass Politikern und Beamten anhaftet, kann wohl kaum als motivierend gelten - was also geschieht, wenn sich der Einzelne die wichtigste Frage all der Anderen stellt, von denen er täglich umgeben ist: Was habe ICH davon?

Je umkämpfter der jeweilige Kuchen ist, den ein Amtsträger zu verteilen hat, desto wertvoller wird der Vorteil, das Stück vom Kuchen, dass er diesem oder jenem Akteur letztlich zukommen lässt. Er verteilt Hunderttausende, Millionen oder auch mal Milliarden, immer nach einem zähen Ringen, unter Hauen und Stechen. Bei den Gewinnern knallen die Sektkorken, sie bekommen Beifall von ihrer Klientel und sonnen sich in ihren Erfolgen, während die Verlierer ihre persönliche und publizistische Macht entfalten, um ihn in die Pfanne zu hauen, ihn anzuschwärzen, an seinem Stuhl zu sägen - eine Gelegenheit, die Konkurrenten in den eigenen Reihen als willkommene Vorlage fürs eigene Wirken nutzen.

Schöner Job, nicht? Und wie finde ich jetzt zurück zur Entrüstung und Empörung, die ich eigentlich ergründen wollte? Ich war selber schon zu nahe dran, als dass ich mich darauf zurückziehen könnte, zu sagen: Sie wollen es ja nicht anders, man muss schon ein bisschen krank, irre oder mindestens machtgeil sein, um freiwillig in solche Positionen zu geraten. Am Anfang eines Politikerlebens steht meist der Wille, etwas mitzugestalten, Missstände zu bekämpfen, etwas Neues und Besseres zu realisieren. Frischfröhlich begibt sich der Aktivist zwischen die Mühlsteine und bemerkt recht schnell, dass schon die kleinste Änderung (und sei sie noch so sinnvoll!) viele Jahre Wühlarbeit, kleine und große Kämpfe erfordert - wenn nicht zufällig gerade eine "Bewegung" inklusiv Steinewerfereinsatz die Verhältnisse verflüssigt oder gar Amokläufer gewisse Gesetzesänderungen unfreiwillig erleichtern. Zynismus ist Berufskrankheit und verklebt schon bald die Seele wie die schwarze Pest , aber nach außen muss man "ehrlich engagiert" wirken, jeden Tag neu und immer mit dem passenden Fotografiergesicht. (Eine Burka für Politiker wäre vermutlich eine große Erleichterung!)

"Was habe ICH davon?" Dass diese Frage von nicht wenigen irgendwann ganz praktisch beantwortet wird, indem sie sich (oder der eigenen Partei) einen "Anteil am Vorteil" genehmigen, den sie immer nur an Andere verteilen - wundert mich das wirklich? Bin ich darüber EMPÖRT? Nicht die Bohne! Im Gegenteil, ich finde es nach diesen kurzen Überlegungen eher verwunderlich und erforschenswert, wie es manchen gelingt, trotz allem auf geraden Pfaden zu wandeln und den Versuchungen NICHT zu erliegen.

Seltsamerweise bedeutet das nicht, dass ich beim nächsten "Skandal", bei der nächsten Enthüllung nicht wieder schwer entrüstet bin - wie das? Tja, offensichtlich ist es nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, die gerechte Empörung über das korrupte Verhalten einzelner Funktionsträger, sondern letztlich der Ärger darüber, davon nichts abbekommen zu haben. Ich fühle mich bestohlen, wenn "im Namen des Volkes" Pfründe verteilt und Provisionen kassiert werden, während ich selber wegen lächerlicher Summen geharnischte Drohungen vom Finanzamt bekomme. Ja, darüber reg' ich mich richtig auf. Aber mein Ärger ist noch nichts im Vergleich zum Ärger der Arbeiter und Angestellten, denen gleich über die Hälfte vom Verdienst einbehalten wird, ohne dass sie - wie ich als Selbständige - einen richtigen "Gestaltungsspielraum" in der Steuererklärung hätten.

Werte ? Moral ? Sitten ? Diese Begriffe zeigen sich heute allzu offen als bloße Beschwörung, gerichtet an eine Mehrheit, die begriffen hat, dass Bescheidenheit und Ehrlichkeit keine Zierden mehr sind, sondern Dummheiten für Modernisierungsverlierer. Ganz demokratisch verhält sich "das Volk" heute so, wie früher nur die Machteliten, die schon immer gern Wasser predigten und es trotzdem nicht nötig hatten, den Wein heimlich zu genießen. Wir haben den Spieß umgedreht. Und das Wasser brauchen wir nicht mehr "predigen", sondern haben es in Gesetze gegossen, die unsere Volksvertreter und Amtswalter schlicht einzuhalten haben. Sie kümmern sich ums Gemeinwohl und wir kümmern uns um uns, das ist Arbeitsteilung. Und wehe, "die da oben" scheren aus der Rolle - sie sollen uns vertreten und verwalten, aber doch nicht sein wie wir!

Claudia Klinger, 15.05.2002

Zwei Augen schauen dich an

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