Claudia Klinger: Digital Diary - Vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück
Druck-Version, URL: https://www.claudia-klinger.de/digidiary/09_06_04d.shtml

Zwei Augen schauen dich an
9. Juni, 2004:

Vom süchtigen Leben

Immer mehr Menschen haben extremes Übergewicht, las ich gestern im aktuellen STERN. Den Artikel illustrierten Fotos fast nackter Jugendlicher, die zu regelrechten Fleischbergen aufgequollen waren - ein unglaubliches Elend! Und sie alle erzählten ihre Geschichte: welche Unmengen an Nahrungsmitteln sie täglich in sich hinein stopfen, bei jeder Gelegenheit und auch ganz ohne Hunger. Wie die Ablehnung, die sie im sozialen Umfeld aufgrund ihrer Unförmigkeit erfahren, zu immer neuen Frusterlebnissen führt, die sie wiederum bekämpfen, indem sie mal eben den Einkauf für eine halbe Woche verdrücken. Ein schrecklicher Teufelskreis, aus dem sie alleine keinen Ausweg mehr finden.

Später schaute ich mir noch einige Webseiten Betroffener an. Entweder sie handeln von den Mühen des Abnehmen-Wollens oder sie wenden sich gegen das herrschende Schlankheitsideal und versuchen, auf diese Weise ein gewisses Selbstbewusstsein zu vermitteln. Wohlgemerkt, es geht nicht um "ein bisschen Übergewicht", sondern um krankhaft Dicke!

Krank? An der Stelle hab' ich kein Problem mit diesem Begriff. Auf allen diesen Seiten werden die vielfältigen Folgekrankheiten und Beschwerden diskutiert, die ein so extremes Übergewicht zwangsläufig mit sich bringt. Und niemand sagt, er fühle sich wohl und sei allein "sozial diskriminiert". Zudem weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es eine Schwelle gibt, ab der ich meine gelegentliche "Molligkeit" als Leiden-schaffend empfinde. Das sind zwar vergleichsweise marginale Beschwerden ("Beschwerungen", im wahren Sinn des Wortes!), aber für mich ist dann der Punkt erreicht, ab dem ich wieder mehr darauf achte, was und wieviel ich esse und trinke. Letzten Sommer erlebte ich mein optimales "Wohlfühlgewicht" bei etwa 67 Kilo (bin 165 cm groß) - ab 73/74 wird's mir unangenehm, das ist bisheriges "Allzeithoch". Dem Abstand zwischen diesen beiden Grenzwerten entspricht eine Packung Briketts, wie ich sie früher immer kaufte und in den dritten Stock schleppte, als ich noch eine Wohnung mit Kohleofen bewohnte. Wer sowas mal mit einer Hand gehoben und getragen hat, weiß, dass es keine Kleinigkeit ist - aber als langsam zunehmendes Körpergewicht fällt es praktisch gar nicht auf.

Ich kann von Glück sagen, DASS es mir auffällt, wenn die Oberkante erreicht ist, und dass ich dann auch in der Lage bin, etwas dagegen zu tun, ohne zum Diät-Fuzzi zu werden. Anderen fällt es erst viel später auf, und besonders schwer haben es die dicken Kinder und Jugendlichen, die erst gar keine Chance hatten, ein normales Körpergefühl zu entwickeln, das ihnen Leitschnur sein könnte.

Was ist das Wesen dieses Elends? Ich nehme mal diejenigen aus, die aufgrund anderer Krankheiten (Schilddrüse etc.) extremgewichtig wurden, und betrachte nur die große Mehrheit. Sie alle berichten, dass sie essen, damit es ihnen besser geht, immer öfter und immer mehr, um ein kurzzeitiges Wohlgefühl zu verspüren, das sie auf andere Weise nicht erreichen können. Also schlichte Sucht, ausgelebt über den Missbrauch von Nahrungsmitteln.

Was ist Sucht? Wenn man Info-Seiten oder Bücher über Süchte liest, kann man den Eindruck bekommen, dass sei eine "Krankheit" wie andere auch, von der man einfach so geschlagen wird, insbesondere, wenn eine "familiäre Disposition" dazu einlädt. Wer aber mit offenen Augen um sich schaut, sieht, dass unsere ganze Gesellschaft strukturell Suchtverhalten unterstützt. Ein Überangebot an Waren und Dienstleistungen muss unters Volk gebracht werden und also schreit es aus allen Ecken: Nimm jetzt dies, kauf dir das, gönn dir jenes - weil du es dir wert bist... Und auch auf einer "höheren Ebene" geht es so weiter. Du hast ein Problem? Komm zum Experten, nimm Hilfe an, lass es dir wegtherapieren! Immer mehr Dinge, die eigentlich zum ganz normalen Leben gehören, werden zur Krankheit, zur behandlungsbedürftigen Störung erklärt. Man schlage eine x-beliebige Frauenzeitschrift auf, und schon weiß frau, wo es bei ihr im Argen liegt. Altern, Müdigkeit, innere Unruhe, Liebeskummer, Streit mit Nachbarn und Kollegen - alles neue Märkte, die von Ärzten, Therapeuten, Fachjournalisten und Rechtsanwälten beackert werden. Lies dich ein und konsumiere!

Männern werden bevorzugt technische "Probleme" angeboten, von denen sie zuvor nicht wussten, dass es welche sind. Spiel doch deine gesamte CD-Sammlung auf die Festplatte und ordne alles in eine nette Datenbank - dann hast du den Überblick, hast die volle Suchmöglichkeit und musst nie wieder eine CD aus dem Regal nehmen und auflegen! Glückwunsch: Wieder entfällt eine der wenigen körperlichen Bewegungen, die der technisch gestützte Mensch bisher noch beiläufig ausführen musste, wenn er Musik hören wollte. Und wieder braucht es Soft- und Hardware, die gekauft werden muss - nicht zu vergessen die vielen Stunden Lebenszeit, die es kostet, das nun auch durchzuziehen. Mal eben ein paar hundert CDs auf Platte kopieren - in der Zeit ist mann beschäftigt und die Gefahr, der inneren Leere zu begegnen, ist gebannt. Und demnächst dann noch mal dasselbe mit den DVDs...

Kaufen, Sammeln, Essen, Trinken, Arbeiten, Spielen, Sich-Informieren, Web-Surfen, Kommunizieren, Sex, Beziehungen - alles ist geeignet, die eigene Süchtigkeit damit auszuleben. Auffällig wird einer nur, wenn er es an einem Punkt übertreibt: der extrem Übergewichtige, die verwahrloste Alkoholikerin, der Messi in seinem Chaos - sie sind nicht anders als der Mainstream, unterscheiden sich nicht grundsätzlich von dir und mir. Ein gekonntes Suchtmittel-Switching ist das "Normale", aus dem unsere Gesellschaft und Wirtschaft lebt und west.

Dass ich "die Gesellschaft" erwähne, heisst nicht, dass ich glaube, sie verändern zu können - oder auch nur zu wollen. Jede Gesellschaft besteht aus Individuen, Änderungen von oben und außen entsprechen nicht unserem Selbstverständnis von Freiheit und Selbstbestimmung. Und sie bringen auch meist nichts - oder hat jemand mit dem Rauchen aufgehört, weil jetzt auf der Packung steht: Rauchen kann tödlich sein? Ich nicht.

Meine Sucht kann ich nur selber bekämpfen, muss ganz allein ausexperimentieren, was mich eigentlich "treibt", muss es beobachten und - WENN ich es denn ändern will - selbst die Konsequenzen ziehen. Dabei können dann gelegentlich Selbsthilfegruppen und Experten helfen, aber wollen und machen muss ich es selbst.

WAS machen? Etwas ganz einfaches: Es mit mir selber aushalten. Die innere Unruhe, wo immer sie gerade herkommt, einfach ansehen, NICHTS unternehmen, um ihr auszuweichen. Unklare Spannungen ertragen lernen. Man stirbt ja tatsächlich nicht gleich, wenn man nichts unternimmt: nicht an den Kühlschrank geht, nicht zur nächsten Kippe greift, nicht telefoniert, nicht "simst", nicht liest, nicht schreibt und nicht in irgend einen Bildschirm guckt. Einfach mal ausharren und sehen, was passiert. Die Aufmerksamkeit nicht auf mögliche Ablenkungen richten (=Scannen der erreichbaren Suchtmittel), sondern nach innen, auf das, was "irgendwie nervt". Auch und gerade, wenn es nicht erkennbar zu sein scheint, wenn da nur "wolkige unangenehme Leere" ist. Körperempfindungen, Gefühle, aufkommende Gedanken - einfach beobachten, nicht begrüßen und nicht ablehnen, nicht beurteilen, nur zusehen, was ist. Mit sich sein - und sonst gar nichts.

Anfänglich ist es sauschwer, aber es wird besser. Irgendwann fühlt man sich sogar davon angezogen, man beginnt, zu ahnen, dass das wirklich Interessante (und auch das tief Befriedigende!) im Leben nicht "da draußen" ist. Über längere Zeit praktiziert, immer mal wieder ein paar Minuten bis zu einer halben Stunde, entzieht es aller Sucht den Boden, denn ich beginne zu spüren, dass ich bei mir selbst zuhause bin.

Man muss es halt nur machen. Darüber schreiben oder lesen kann es nicht ersetzen. Sonst wär' ich längst von allen Süchten frei.

Claudia Klinger, 09.06.2004

Zwei Augen schauen dich an

Screen-Version: https://www.claudia-klinger.de/digidiary/09_06_04.shtml

© 1996-2004 Claudia Klinger - zum Kontaktformular
Der jeweils aktuelle Beitrag steht unter www.claudia-klinger.de/digidiary/
Counter by WebHits
* Valid XHTML 1.0 * Level Double-A conformance icon, W3C-WAI Web Content Accessibility Guidelines 1.0