[Erschienen 1996 im Cyberzine „Missing Link“]
Zuerst glaubte ich, die Frage sei eine provozierendere Form von „Wie bin ich?“. ‚Erkenne Dich selbst!‘ sagten ja schon die Griechen. Also ruhig mal hingeschaut: auf den physischen Körper mit seinen verschiedenen Spannungszuständen, die Psyche mit ihren Gefühlen und Stimmungen, schließlich die Gedanken, die im Lauf des Tages den Kopf durchwandern.
All dies ist erklärbar. Ja, Erklärungen sind überhaupt das, was mir zu allererst in den Sinn kommt: Erklärungen aus der Physiologie, der Psychologie, der Anthropologie, der Biologie, der Ökonomie, der Neurowissenschaften, der Vererbungslehre und noch viel viel mehr. Mein gesamtes Leben läßt sich locker unter die verschiedenen Erklärungen sortieren, sogar unter mehrere gleichzeitig.
Warum nur besteht mein Yogalehrer immer wieder darauf, wir sollten uns fragen, „wer wir seien“? Ist das nicht ganz klar? Sind wir nicht vollkommen erklärt durch all die genannten Wissenschaften? Was muß da noch gefragt werden?
Wer fragt?
Nach längerem Beobachten all der veränderlichen Phänomene, die man gewohnt ist, einem „Ich“ zuzuordnen, neige ich immer weniger dazu, dies auch zu tun. Denn eine Erklärung im Sinne einer Wissenschaft heißt immer „…das ist ja nur…“ und dann folgen die Ursachen und Bedingungen, die nach der jeweiligen Wissenschaft zum entsprechenden Ergebnis führen müssen. Wo bin da ich? Das ist doch nur…..!
Wir haben uns so sehr hinterfragt, daß nichts mehr übrig geblieben ist, schrieb mir mal jemand. Und doch sagen wir täglich „ich“ und finden nichts Erstaunliches dabei.
Wer bestimmt, welche Erklärungen stimmen?
Mit der Zeit stelle ich durch Beobachtungen fest, daß die sich anbietenden Erklärungen des Handelns und der Befindlichkeiten nicht immer die richtigen sind, schon garnicht die Einzigen. Daß ich gerade mal wieder alles hinwerfen könnte und vom Leben in einer Holzhütte in unberührter Natur träume, ist vielleicht nicht die tiefsitzende Entfremdung des Städters, sondern: die Computer-Maus läßt sich gerade ausgesprochen schlecht bewegen, hängt dauernd fest, der Himmel draußen ist neblig-trüb, und das ergibt – zusammen mit der 3. Mahnung eines Online-Dienstes, dessen Rechnung ich doch schon bezahlt hatte – ein Gefühl des Überdrusses. Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Ursachen finden sich massenhaft – und die eine ist oft so „stimmig“ wie die andere.
Man kommt bald dahin, sich eine Ursache auszusuchen – mit erstaunlichen Wirkungen. Besser die beginnende Erkältung als den Turbo-Kapitalismus verantwortlich machen, lieber heute Nacht schlecht geschlafen haben, als die „Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins“ zur Erklärung mieser Stimmungen heranziehen. Wenn ich die Wahl habe, zu entscheiden, welchen Grund meines aktuellen Zustands ich mir aussuche (für „wahr“ halte), wähle ich besser den kleineren Anlaß. Selbst das Verhältnis zu Anderen bessert sich – auch für ihr Verhalten kann ich harmlose Ursachen wählen und muß nicht immer gleich heftig reagieren.
Wer wählt?
Genau besehen, bin „ich selbst“ nichts grundsätzlich anderes, als das, was als „Außenwelt“ gilt. Meine Gefühle sind dem Wetter und dem Klima ähnlich, mein Körper der Landschaft, meine Gedanken kreisen wie die Sterne am Himmel. Kein „Ich“ nirgends. Eine alte Erkenntnis, die in Ost wie West formuliert wurde. Da ist nichts – oder hast Du was gesehen? (Wenn ja, kannst Du es zeigen?)
Wer macht?
Es sieht aber doch so aus, als könnte ich Einfluß ausüben, mich z.B. entscheiden zwischen aufstehen und liegenbleiben, wenigstens in gewissen Grenzen. Hinterher kann ich dann wieder erklären… vorher herrscht der Eindruck, ich müsse wählen. Die Hirnforschung hat neuerdings gezeigt, daß die physiologischen Vorbereitungen, um den Arm anzuheben, bereits anlaufen, noch bevor es uns bewußt wird, daß wir jetzt den Arm heben werden. Man kann sich allerdings noch dagegen entscheiden und den Vorgang abbrechen, sagen die Forscher beruhigend! Was entscheidet da? Und was bereitet das Entscheiden vorher womöglich wieder physiologisch vor?
Offenbar kann ich nur sagen: es geschieht etwas und ich kann dabei mitmischen. Lassen wir die Ich-Frage mal beiseite und sehen das „Mitmischen“ an. Aus all den möglichen Bedingungen und Ursachen kann ich etwas auswählen und dort Aufmerksamkeit, Konzentration, Gefühl und Gedankenkraft darauf richten, geistig-physisch-psychische Anstrengung. Dann wird der gewählte Aspekt ein wenig kräftiger, verglichen mit all den überall bereit stehenden Ursachen möglichen Verhaltens. In einer zerstrittenen Firma könnte ich mich z.B. entweder mit dem Chef, mit den Mitarbeitern oder mit irgendeiner Fraktion verbünden und so die entsprechende Richtung stärken.
Man lenkt also Energie. Aber wer lenkt? Kann ich mich denn selber an den Haaren aus dem Sumpf ziehen?
Warum fragen?
Lange war die Frage „Wer bin ich?“ nicht sehr interessant. Wirklich wichtig ist das doch nicht, oder? Man tut, was man tun will oder tun muß, erklärt es mehr oder weniger – aber immer folgt ein Tag auf den anderen, ganz egal, wie ich mich zu dieser Frage verhalte.
So verging die Zeit und das „Wer bin ich?“ führte seine Randexistenz als Philosophie-Problem. Lieber noch dachte ich an den Tod, obzwar der Tod als das Schrecklichste gilt. Was immer „Ich“ sein mag, es wird eines Tages enden, das ist sicher. Und was ist schon der Ärger mit dem Vermieter, was sind die vielgestaltigen „Probleme“ des täglichen Lebens angesichts des Endes? Eine Gelassenheit setzt ein – ganz ohne daß man sich dafür Leber oder Nieren kaputt machen müßte.
Im fortgesetzten Beobachten verschwinden nicht nur die sogenannten Probleme (und damit die Notwendigkeit, vor ihnen wegzulaufen oder selbst ein neues zu kreieren), sondern auch die Wünsche beginnen sich rar zu machen: Ich schaue den Impulsen zu, wie sie kommen und gehen. Wer sich selbst beobachtet, zum Beispiel den Wunsch, ein tolles, neues, schönes Irgendwas zu kaufen, wird erstaunt bemerken, daß – sofern man mal einfach abwartet, was geschieht – nach einiger Zeit der Wunsch plötzlich wieder verschwindet. (Wieviel Geld man da spart und Platz in der Wohnung!)
Grundlos
Allerdings: ohne Wünsche lebt es sich nicht so leicht, wenigstens nicht zu Anfang. Wer nicht ständig zwischen Angriff und Verteidigung hin und hergerissen wird, nicht mehr daran glaubt, daß das Jagen und Sammeln oder überhaupt irgendetwas nun endlich das Glück bringt, stößt auf eine seltsame Leere. Wenn es keinen Grund gibt, warum bin ich dann tätig – und zwar weit mehr, als es zur bloßen Lebenserhaltung nötig wäre? Wie ein Scanner sucht der Geist auf allen Ebenen nach möglichen Gründen und Wünschen. Was will ich noch tun? Mich einfach nur wiederholen? Und nochmal und nochmal und nochmal? Der nächste Job, die nächste Beziehung, die nächste Wahl, die nächste Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahme, der nächste Computer und Windows ’97, ’98, ’99?
Woher dieser Drang, aktiv zu sein? Wenn keine politische Idee, keine Utopie, kein Weltrettungskonzept und kein Konsumwunsch dies mehr rechtfertigt, vernünftig erklärt?
So stelle ich also fest, daß ich „grundlos“ handle, mich ohne Grund aktiv am Weltgeschehen beteilige (denn tue ich das nicht, fühle ich mich nicht „im Fluß“ und werde deprimiért). Warum nur? Was treibt mich?
Dann Telepolis, das Netz, der Raum der unbegrenzten Möglichkeiten: Anders als im „real Life“ ist es hier ganz leicht, sich klar zu machen, daß alle diese Umtriebigkeit nur den Wechsel von Spannungszuständen in verschiedenen Datenspeichern zur Folge hat. Und doch werden die gleichen Schlachten geschlagen, dieselben Dinge gefeiert, als ginge es um etwas, ja, um die ganze Welt (vom Cyberspace aus gesehen stimmt das ja auch). Es sind die alten Menschen, das alte Spiel, aber mit neuen Regeln und bunteren Karten.
Nun also alle drei Monate ein neuer Web-Browser! Die Netzkultur entfaltet sich, 1000 Blumen blühen und verblühen, ja, die Geschwindigkeit nimmt zu – aber nach wie vor könnte ich nicht sagen, daß es irgendwohin geht, bzw. einen Grund hat. Was ist da bloß am Werk? Wer handelt?
Nichts
Nichts. Da ist nichts. Es wurde oben schon erwähnt. Was ist schon dabei? Unter „Nichts“ kann man sich nichts vorstellen, das gilt es zu akzeptieren, und schon hat das Ich einen neuen Namen. My name is nobody, why not? Ja, man kann so reden, aber es ist, als ob damit garnichts gesagt wäre. Offenbar hat – zumindest für mein widerspenstiges „Ich“ – das Nichts keine Bedeutung, denn man kann sich darunter nichts vorstellen. Das macht unzufrieden. Der Verstand will etwas vorstellen. Das Ich will eine Bedeutung. Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ sollte eine Bedeutung haben, bedeutend sein!
Werte
Warum eigentlich? Warum braucht das Ich eine Bedeutung? Da könnten jetzt wieder die Wissenschaften kommen: Kampf ums Dasein etc. Aber das lenkt nur ab: Vielleicht sucht das Ich eine Bedeutung, weil es (wer?) vergessen hat, daß es selbst der Deuter ist – vielleicht gar selbst Schöpfer von Bedeutung? Das paßt auch ganz gut ins aktuelle „Real Life“, denn überall wird darüber geklagt, daß „die Werte verfallen“. Das, was wir suchen, verfällt, weil wir danach suchen, anstatt es zu pflegen, instandzuhalten, gar mehr werden zu lassen – wir haben es verlernt. Wenn es unser eigentlicher Job ist, Werte zu schaffen, und wir stattdessen damit beschäftigt sind, nach Bedeutung zu suchen, haben wir in der Tat schlechte Karten.
Wir wollen alle geliebt werden, aber wer will lieben? Niemand hat eine Ahnung, wie man von der gewöhnlichen Ignoranz und dem üblichen Kosten/Nutzen-denken zum lieben kommt. Es fragt nicht mal jemand danach, wie das gehen könnte. Offenbar glaubt man, Liebe sei ein Gefühl, das eben plötzlich da sei oder (meistens) nicht.
Genauso wären viele gern reich, setzen aber nur ein paar Mark beim Samstags-Lotto dafür ein. Das GLÜCK soll es bringen!
Ruhm und Ehre werden auch gern genommen – aber wieviele Menschen bemühen sich, in irgendeiner Sache wirklich gut zu sein? Stattdessen versucht man, ins Fernsehen zu kommen….
Der Verstand will etwas vorstellen. Das Ich will eine Bedeutung Haben diese beiden Sätze etwas miteinander zu tun? Und was?
Vielleicht zeigt es mir die Zeit – gegen Feedback zu diesen ‚Meditationen‘ hab‘ ich nichts – verspreche aber nicht, zu diskutieren. 18.12.96
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