Thema: Lebenskunst, Philosophisches

Reflexionen über Wesentliches

Claudia am 14. Mai 2003 — Kommentare deaktiviert für Wille und Wahrheit: Die „Matschbirne“ erkennen

Wille und Wahrheit: Die „Matschbirne“ erkennen

Wie funktioniert der „freie Wille“? Wo kommt er her, wie kann er wachsen und was lässt ihn verschwinden? Ich frage nicht, „was IST der freie Wille?“, beziehe mich nicht auf die philosophische Endlos-Diskussion, ob ein Wille überhaupt frei sein kann oder nicht. Meine Frage richtet sich auf den Willen schlechthin: das Wort „frei“ benutze ich nur, um ihn von unfreiem Wollen zu unterscheiden. Was das ist, weiß jeder: das Streben nach Macht, Besitz, Anerkennung, Liebe ist uns irgendwie mitgegeben, es ist da, ohne dass wir es wählen, allenfalls können wir uns in gewissen Grenzen im Lauf des Lebens davon frei machen – zum Beispiel aufgrund von Erfahrungen, insbesondere Erfolgen. Wenn ich immer wieder erreiche, was ich „will“ und dann feststellen muss, dass es mich nicht glücklich macht, sondern nur der nächste Wunsch ins Rampenlicht tritt, dann erwischt mich irgendwann das Aha-Erlebnis: DAS ist es offensichtlich nicht! Und das einschlägige Wollen und Streben stirbt ab, ganz ohne Anstrengung und Indoktrination von außen.

Was aber dann? Mein eigenes Wollen reicht seit langem nur noch dahin, meinen Lebensunterhalt auf bescheidenem Niveau zu gewährleisten, meine Arbeit so zu gestalten, dass sie mir Freude macht und mich nicht nervt. Zudem habe ich gelernt, förderliche und freudvolle Beziehungen zu Mitmenschen zu pflegen und schädigende Verstrickungen gar nicht erst wachsen zu lassen. Es geht mir gut, und zwar sowohl von der Warte des eigenen Daseins-Gefühls aus betrachtet, als auch im Vergleich zu unzähligen Menschen, die ich mitbekomme, deren Innenraum gefüllt ist mit Ängsten, Agressionen, Mangelgefühlen und vielem mehr.

Und doch kann ich nicht sagen, dass ich „zufrieden“ bin. Oberflächlich betrachtet schon, aber untergründig ist da immer ein kleiner Stachel, der sich mal mehr, mal weniger spürbar zeigt. Eine leise Stimme, die zu mir sagt: Das ist doch nicht alles! Du kannst doch nicht mit 48 psychospirituell in Rente gehen! Was ist mit deinen Fähigkeiten, deiner Kreativität, deiner Kraft? Du lebst weit unterhalb deiner Möglichkeiten, schöpfst deine Potenziale nicht aus, hängst zufrieden herum und fängst mit deiner persönlichen Freiheit eigentlich nichts an. Gehört denn alles, was du erworben und entwickelt hast, dir? Reicht es, ein angenehmes und stressfreies Leben zu führen? Was hat die Welt davon?

Den Stau wahrnehmen

Bei der letzten Frage „Was hat die Welt davon?“ könnte man glauben, es gehe um Moral, um die Pflicht, den Kriegsdienst an der Realitätsfront im Geiste der Aufopferung abzuleisten. Das ist es aber nicht, ich fühle es nicht als Forderung, die Welt auf meinen Schultern zu tragen und mich in irgendwelchen Kämpfen aufzureiben, weil das nun mal jeder tun soll, damit die Gesellschaft prosperiert. Nein, es ist mehr ein Gefühl mangelnden Austauschs, als wäre der Fluss meines Aktiv-Potenzials irgendwie gestaut – und immer, wenn ich mich zurücklehne und meine Gelassenheit feiere, spüre ich diesen Stau, spüre, dass da etwas nicht stimmt.

Wenn ich über längere Zeit denselben Aspekt als „unstimmig“ empfinde, aber so gar nicht „von selber“ darauf komme, was da eigentlich los ist und wie ich etwas ändern könnte, dann werde ich wieder offener für Anregungen von außen. Allerdings müssen es Inhalte sein, die schon irgendwie nah an meinem Thema sind. Derzeit hätte ich gar nichts davon, etwa noch weiter spirituelle Texte zu lesen, die Gelassenheit und Selbstbeobachtung, Meditation und Loslassen predigen. Mein inneres Gefühl sagt mir, dass ich genau in die andere Richtung will – zwar auf einem neuen Niveau, nicht mehr in der unbewussten und extremen Art, wie ich in der ersten Lebenshälfte versuchte, die Welt und mich selbst durch überaktives Herumwurschteln zu beglücken, aber doch in Richtung HANDELN, mich einlassen, verpflichten, fordern – auch auf die Gefahr hin, an die Grenzen meiner Kraft und meiner Fähigkeiten zu kommen. Schon dass ich das „Gefahr“ nenne, ist ein Zeichen des „Problems“!

An die Grenze gehen

Eine Yoga-Übung zelebriert, wie es „richtig“ wäre: Man nimmt langsam und bewusst eine ungewöhnliche Körperhaltung ein und geht an die Grenze des Möglichen, die gleichzeitig die Grenze zum Schmerz ist – nicht aber darüber hinaus. Dort verharrt man, solange es geht und schaut sich an, was das im Körper, in den Gefühlen und Gedanken bewirkt. Dann lässt man ebenso langsam los und entspannt sich wieder, nun beobachtend, was die Übung für weitere Wirkungen entfaltet.

Im Leben tu ich das nicht, lange schon nicht. Ich gehe NICHT an die Grenze der Möglichkeiten, geschweige denn an die des Schmerzes. Wenn sich die Gelegenheit zeigt – und das Leben ist immer voller Gelegenheiten – frage ich mich: „Wozu denn? Mir geht’s doch gut, was will ich denn noch? Es gibt doch nichts zu erreichen!“. Das ist, so seh‘ ich es jetzt, ein klarer Fall von spiritueller Matschbirne. Diese Gedanken sind nicht Weisheit, sondern kaschieren und rationalisieren einen Fehler, eine Unstimmigkeit, irgend eine Altlast, die mich behindert und einschränkt, ohne dass ich sie schon genau sehen könnte.

Ein erstes Aha-Erlebnis verschaffte mir ein Buch über „Techniken zur Erforschung des Bewusstseins“, dessen Arbeitsbögen zur Erhebung eines Persönlichkeitsprofils ich einfach mal ausfüllte, ohne noch die Texte dazu zu lesen. Zwei hintereinander stehende Fragen und meine ohne Zögern gegebenen Antworten ließen mich stutzen:

Frage:
Welchen Abschnitt deines Lebens hältst du für den besten? Weshalb?

Antwort:
Mitte dreißig, die Zeit nach meiner „Befreiung vom Alkohol“ – weil ich da entdeckt habe, dass alles „von selber“ geht und nicht von mir „gemacht“ werden muss.

Frage:
Welche Aspekte deines gegenwärtigen Ichs magst du am wenigsten?
Antwort:
Entschlusslosigkeit und Ziellosigkeit, Zerstreutheit und Unkonzentriertheit, physische Beschwerden am rechten Arm und Bein (=Schäden von zu vielem Sitzen).

Das hat mich ein bisschen wach gemacht! Die wunderbare Wende in meinem Leben, von der ich noch heute zehre, hat mir Erkenntnisse und Weisheiten vermittelt, die für mich über allem anderen stehen, da sie selbst gefunden, selbst erlebt sind, nicht von außen vermittelt. Auch nicht in einer Umkehrung angenommen, wie man etwa als junger Mensch GEGEN das ist, was von den Eltern oder der Gesellschaft an Wahrheiten tradiert wird. Es war wirklich neu, völlig unerwartet und eröffnete mir eine neue Weise des In-der-Welt-Seins, die alles übertraf, was ich mir bisher ausmalen konnte. Ich glaubte, das Geheimnis des Glücks und des „richtigen Lebens“ gefunden zu haben.

Das „richtige“ Leben

Dem war auch so. Ich sehe das jetzt nicht als falsch an. Eher scheint mir der Prozess so zu verlaufen, wie das Yin Yang-Zeichen – wenn man es animiert, in Bewegung versetzt – zeigen will: der eine Aspekt der Polarität, sagen wir „schwarz“, wird immer größer und größer bis er allen Raum einnimmt – doch im Augenblick seiner totalen Dominanz, entsteht in seiner Mitte das Gegenteil: Weiß. Ab jetzt beginnt Weiß zu wachsen und Schwarz schrumpft zusammen – bis jetzt Weiß dominiert, in dessen Mitte dann wieder ein zunächst winziges Schwarz erscheint.

Mich hat offensichtlich die Begeisterung über das erste vollständig selbst durchlebte „Umschlagen“, das Gefühl der Befreiung und Erlösung, das damit verbunden war, derart beeindruckt, dass ich irgendwann anfing, fest zu halten. Ich hielt das Gewonnene für die absolute und letzte Wahrheit und begann, in meinem Leben das „Weiß“ zu verstärken, das so wunderbar inmitten des „Schwarz“ erschienen war. Das ist solange gut und unschädlich, solange das „Weiß“ von selber wächst – wenn es aber Zeit ist, wieder in Richtung des anderen Pols zu leben, wenn die Bewegung wieder umschlägt, dann bremse ich mich so nur selber aus. Tue also (unbewusst!) genau das Gegenteil von dem, was ich als „Extrakt der gewonnenen Weisheit“ gerne predige: den eigenen Impulsen zu folgen, sich ihnen hinzugeben, mitzuleben und nicht aus dem Kopf heraus daran herum zu rechten und das Leben zu be-rechnen. Meine Willensimpulse hab‘ ich dabei zunehmend gelähmt, innerlich alles diskriminert, was über das Bestehende, das „von selbst Entstehende“ hinaus greifen will. So lange und so erfolgreich, bis ich nicht nur jeden Draht zu dieser Art Wollen verloren hatte, sondern auch physisch an den Handlung symbolisierenden Gliedmaßen „Krankheiten“ auftraten. Unglaublich!

So ist jetzt also „Wille“ mein Thema. Etwas erreichen wollen, Ziele haben, die eigenen Aktivitäten auf diese Ziele hin ausrichten, auch längerfristig. Mich verpflichten und „Verstrickungen“ riskieren – und nicht aus den Augen verlieren, ob ich den Zielen mit meinen Schritten auch näher komme. All das hört sich für mich noch äußerst fremd an, da ist eine, wie ich jetzt sehe, selbst geschaffene innere Ablehnung dieser Dimension. Wie könnte ich die wieder „abschaffen“?

Was du nicht erfühlen kannst…

Wo eine Frage als solche erkannt ist, folgen Suchbewegungen auf mögliche Antworten hin. Bisher weiß ich nicht viel, obwohl ich mich schon ein wenig in den üblichen Formen mit „Ziele finden“ auseinander gesetzt habe, zunächst auf der beruflichen Ebene. Allerdings sprang da noch kein zündender Funke über, berufliche Ziele sind eben nur operationale Ziele, also solche, die eigentlich Zielen auf ganz anderen Ebenen dienen sollten.

„Was du nicht erfühlen kannst, das kannst du nicht erjagen“ – der Satz von Goethe geht mir seit langem nach. Nur darüber zu grübeln, welche Ziele es wert wären, sich ihnen zu verpflichten und richtig Einsatz zu bringen, ist gewiss nicht der Weg. Nein, ich muss mich neu öffnen, nicht immer gleich das beschwichtigende Zufriedenheits-Programm im Kopf ablaufen lassen, wenn mich irgend etwas stört oder ein Änderungswunsch auftritt. Ich muss nicht noch mehr „Gelassenheit üben“, sondern das Gegenteil an mich heran lassen, es wieder erwecken und wachsen lassen.

Muss ich? Nein, ich muss nicht. ICH WILL.

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Claudia am 20. April 2003 — Kommentare deaktiviert für Vom Fühlen

Vom Fühlen

Ein Leser schrieb mir, das Gehirn „brauche Wissen, um für meine Zufriedenheit zu arbeiten“. Er bezog sich auf den Artikel „Vater UND Mutter ehren“ und meinte wohl damit: Hätte ich gewusst, warum mein Vater war, wie er war, hätte ich ihn als Kind nicht so gehasst, wäre weniger einsam gewesen und zufriedener.

Dieser Irrtum über den Nutzen des Wissens ist weit verbreitet. Kein Wunder in einer Gesellschaft, die sich „Informationsgesellschaft“ nennt. Tatsache ist: Ich wusste immer, warum mein Vater war, wie er war, denn sobald ich denken konnte, erzählte er seine Geschichte. Nicht nur einmal, sondern immer wieder. Doch ich konnte und wollte in frühen Jahren nicht „verstehen“ – wobei „verstehen“ schon ein Stück in die Irre führt: ich wollte nicht VERZEIHEN, war völlig außerstande dazu, denn er trampelte bei jeder Gelegenheit auf meinen Gefühlen herum. Ich litt und er war der Feind Nr.1 – so einfach, so üblich.

Erst, als ich später mit mir selbst und der Welt besser zurecht kam, als ich tat, was ich tun wollte und damit auch Erfolge hatte, hinter denen ich stehen konnte: erst da änderte sich das Verhältnis. Mein Hass verschwand, zunächst zugunsten einer gewissen Neutralität: weder Hass noch Liebe. Für die Liebe musste ich erst „werden wie er“, am eigenen Leib erleben, dass ich nicht die tolle Person bin, die ich mir ausmalte, sondern genauso eine Schreckschraube, die für Andere (und sich selbst) zum Horror werden kann. Aber das ist eine andere Geschichte.

Anders denken?

Wissen allein bringt wenig. Denken macht nicht glücklich, obwohl das Denken durchaus Anteil daran hat, wie ich die Welt erlebe. Manche Menschen denken sich in den Keller, Tag für Tag. Sie erwarten immer das Übelste, sind misstrauisch und filtern so die Informationen heraus, die zu ihrem Elend passen. Manche benötigen nicht einmal Input von außen, sondern spinnen sich selbst zusammen, worunter sie dann leiden.

Die Lehrer des „positiven Denkens“ versuchen, an dieser Stelle anzusetzen: Denk positiv, dann geht’s dir gut! Das klappt allerdings – wenn überhaupt – nur für kurze Zeit. Zu sehr sind wir üblicherweise mit dem Denken identifiziert: Wo, wenn nicht im „denken über die Welt“ spüren wir uns so sehr als erste Person: Ich denke SO, also bin ich „ich“! Dieses Denken dann mittels einer „Übung“ zu kanalisieren und zu domestizieren, kann gar nicht funktionieren. Immer wieder meldet sich das „alte Denken“ doch zu Wort, sieht Schatten, wo nun Licht gesehen werden soll, meldet Zweifel an beim morgendlichen Blick in den Spiegel, wogegen das „Jeden Tag geht es mir besser und besser“ nicht wirklich hilft, ja, es wird schnell lächerlich.

Auch Meditation wird gelegentlich als alternative Umgangsweise mit dem Denken empfohlen und praktiziert: Einfach da sitzen und die Gedanken Gedanken sein lassen. Wer das Kopfkino einfach nur beobachtet, stellt fest, wie automatisch es abläuft, wie schnell die Gedanken vom Hundertsten ins Tausendste kommen, wie gering der Bezug zur Realität ist, und vor allem, dass es eine WAHL gibt: sitze ich dem Gedanken auf, identifiziere ich mich mit dem Problem und entwickle es grübelnd weiter – ODER bleibe ich einfach sitzen und sehe zu, was als nächstes vorbei kommt.

Das kann durchaus eine gewisse Entspannung bringen, Einsicht in die Mechanismen des Denkens, ein teilweise Lösung der starken Bindung an Gedanken. Allerdings: sobald ich nicht „nur sitze“, sondern wieder tätig im Leben stehe, handeln und entscheiden muss, ist es nicht mehr damit getan, die Gedanken ziehen zu lassen. Die Meditationsübung gibt mir im besten Fall die Gewissheit, mich jederzeit „heraus ziehen“ zu können, doch was ich tun, wonach ich mich richten soll, solange ich „mitten drin“ stehe, sagt sie mir nicht.

Mehr?

Was also? Gibt s nur die Möglichkeit, sich mit dem abzufinden, was nun mal ist? Immer wieder auf dieselben Weisen im Elend kreisen, im festen Rahmen eigener Konditionierungen und gesellschaftlicher Traditionen? Immer mal wieder Ausbruchs- und Therapieversuche, eine neue Lehre, ein neues Gedankengebäude, ein neuer Partner? Und immer die Ahnung: es muss MEHR geben als das!

Ja, es gibt dieses MEHR. Aber es ist nicht machbar, es kann nicht gejagt, errungen oder erübt werden. Es ist immer da, nur wollen wir es nicht sehen, es nicht hören, uns nicht nach ihm richten. Wir wollen tun, was wir für richtig halten, was sich sinnvoll begründen lässt – und nicht das, was anliegt, nicht das, was getan werden will.

Was könnte das sein? Ich weiß, es klingt verdammt hermetisch, doch ist es auch kein „Geheimnis“, nur weil es sich im Rahmen des logischen Denkens nicht darstellen lässt. Denken ist nicht unser einziges Potenzial, wir können auch fühlen, spüren, empfinden, intuieren. Obwohl offiziell das Denken die erste Stellung einnimmt („animal rationale“) und die Gefühle einen schlechten bis kitschigen Ruf haben, bestimmen sie doch untergründig unser Denken – immer schon. Ja, den ganzen Zirkus um die Rationalität kann man als einziges Bemühen beschreiben, das Gefühlsleben zu domestizieren. Es soll mit (ge-)rechten Dingen zu gehen nicht nach persönlicher Willkür. Wer an der Welt mitbauen will, muss seine Beiträge wissenschaftlich begründen, sonst kann er in die Unterhaltungsindustrie gehen. Wer Verträge schließt, soll sich ins Kleingedruckte vertiefen, wo genau ausgeführt ist, was „sich vertragen“ im Einzelnen hier heißt – und nicht etwa auf Gefühle achten! Die Welt ist so kompliziert geworden, dass nur Rationalität noch den Schimmer einer Chance bietet, die Massen mit ihren 10.000 Dingen und Bedürfnissen halbwegs friedlich zu organisieren – also muss auch der Einzelne ein hohes Maß an Rationalität aufbieten, um sein (möglichst komfortables) Durchkommen zu bewerkstelligen.

How-To ist nicht alles

Alles nachvollziehbar, es gab keinen anderen Weg. Doch leider sind wir auf diesem Weg in Trance gesunken, haben uns selbst vergessen und das „HowTo“ zum „Um-Zu“ werden lassen. Das mit all diesen Umtrieben so aufwändig geschützte individuelle Privatleben hat kaum mehr originäre Inhalte und immer mehr Leute fragen sich zu Recht: Wozu die ganze Äktschn? Wofür dieses hohe Maß an Anstrengung und Selbstverleugnung?

Uns wird vermittelt, das bloße Erhalten des Bestehenden wäre schon jedes Opfer wert. Wenn wir – immer noch im Luxus schwimmend, verglichen mit der Mehrheit auf diesem Planeten – nicht weiter und mehr als bisher strampelten, dann würde das alles in Teilen oder ganz zusammen brechen und DAS bekäme uns sehr sehr schlecht!

Stimmt das? Das ist die Frage. Die Antwort findet jeder nur entlang an sich selbst (oder eben nicht). Nicht etwa in Zeitungen und Büchern, in Comedy- und Talkshows, auf Kongressen oder in Besprechungen – und auch nicht auf einer Website. Nur, wenn ich mich selber ansehe, weiß ich, was mir schlecht bekommt und was mir gut tut. Damit bin ich wirklich ganz alleine.

Wechsel der Blickrichtung

Also bleibt nichts übrig, als mich dem zuzuwenden. Was tut mir gut? Was macht mich wirklich glücklich? Was kann ich gerade noch ertragen, ohne zu leiden? Wovon ist mein Wohlbefinden wirklich abhängig: eher vom Kontostand oder mehr vom Wetter? Wieviel Beschränkungen und Unfreiheit bin ich bereit hinzunehmen, um bestimmte Dinge zu erreichen: materiellen Komfort, soziale Anerkennung, sichere und heimelige Beziehungen, Sex? Lohnt das Erlebte und Erreichte weiterhin ungebrochenen, möglicherweise gesteigerten Einsatz? Brauch ich dieses und Jenes wirklich – zum Beispiel, um mich sicher zu fühlen?

Ich war immer gegen Versicherungspolicen, hatte selber nie welche und hab‘ mich gern lustig gemacht über Leute, die Unsummen pro Jahr bezahlen, für den Fall, dass ein unwahrscheinliches Unglück eintritt. Mittlerweile hab‘ ich die idealistische Arroganz der sowieso mittellosen Jugend hinter mir gelassen, aber trotzdem mit den Versicherungen nicht angefangen. Weil da einfach nichts ist, was soviel wert wäre, dass der Verlust nicht locker verschmerzt werden könnte: Es gibt nichts zu holen, also brauch ich keine Diebstahlversicherung. Ich streite mich nicht um Kleingedrucktes, also spar ich mir den Rechtsschutz. Ich vertraue darauf, Geld zu verdienen, wenn ich es wirklich brauche, deshalb sind mir Sparverträge und Vermögensanlagen fremd. Für den Fall der Notlage hab‘ ich ein paar gute Freunde, die bei Bedarf weit mehr Geld mobilisieren könnten als ich, ohne darunter besonders zu leiden – ob sie es im Fall des Falles für mich täten, kann ich nicht wissen, wohl aber darauf vertrauen.. Für die Basics bin ich Mitglied in einem sozialen Netz, für dessen Verteidigung ich eintrete: Sozialhilfe für alle, die es brauchen. Mehr nicht, denn ich bin es gewohnt, jedes Mehr selbst zu erarbeiten. Klar hatte ich auch Zeiten, in denen ich den Luxus eines Arbeitslosengeldes nach BAT 2A Vollzeit genießen konnte – es war schon gut, aber nicht unverzichtbar, ganz gewiss nicht Bedingung meines Glücks oder Unglücks in den jeweiligen Zeiten.

All diese Einsichten bewegen sich nun noch auf der materiellen und sozialen, also psycho-mentalen Ebene. Um wirklich beurteilen zu können, was mir gut tut, muss ich tiefer steigen, herunter auf die psychophysische und physische Ebene: Was fühlt sich gut an? Was spüre ich gern? Was tut mir weh? Wovor habe ich Angst? Wie hängen diese Empfindungen oder die Angst vor ihnen mit meinem sonstigen Fühlen und Denken zusammen?

Der Körper, Freude und Schmerz

Freude ist nichts Abstraktes, zum Beispiel. Freude spürt man im Brustraum und um sie zu fühlen, muss er beweglich genug sein, um mehr oder weniger tiefes Atmen zu gestatten – im Fall der Freude ein Mehr. Die Zwischenrippenmuskulatur darf also nicht zum unflexiblen Panzer erstarrt sein, die Lungen müssen das volle Atmen kennen/können, nicht nur in den unteren zwei Dritteln (wie sie von Rauchern fast ausschließlich genutzt werden). Ich behaupte nicht, dass ein entsprechend flexibler Brustraum bereits die Freude garantiert, aber umgekehrt gilt eben: unterm Brustpanzer hat die Freude schlechte Karten, bzw. ist nur ein im tiefsten nicht befriedigendes Gedankenspiel.

Warum aber wenden sich so wenige ganz konkret den Umständen des eigenen Wohlbefindens zu? Eines der größten Hindernisse liegt aus meiner Sicht auf dieser körperlichen Ebene, bzw. deren psychischer Integration ins Selbstempfinden. Dort – wie auch überall sonst – gehen wir dem Schmerz aus dem Weg und suchen das Wohlgefühl. Ja, auf keiner anderen Ebene wirkt das so natürlich und selbstverständlich. Überall sonst machen wir womöglich Kompromisse und zahlen mit seelischen Schmerzen, aber physisch gesehen ist uns jedes Mittel Recht, dem Schmerz nicht begegnen zu müssen.

Das macht nicht nur jeder für sich allein so, dass wird auch von klein auf eingelernt bzw. anerzogen. Jedes Kind verbrennt sich mal die Finger, spürt den Schmerz und lernt: DA sollte ich besser nicht hinfassen! Soweit ist alles ganz natürlich, denn Schmerz hat eine informatorische Funktion und dient der Orientierung in der Körperwelt. Dann aber gerät das Kind schnell in die Fänge der „Niemals-Schmerzen“-Kultur: Überall soll es aufpassen, an seine Verletzlichkeit denken und sich entsprechend verhalten. Lustvolles muss unterlassen werden, um möglichen Gefahren auszuweichen. Um jedes trotzdem eingehandelte Wehwehchen wird ein großer Aufstand gemacht und bald schon gibt’s gegen alles eine Pille oder Spritze: Fieber, Husten, Halsweh, Kopfschmerzen, Zahnweh, Bauchweh, Menstruationsbeschwerden – später dann vielleicht auch gegen Nervosität, gegen Angst, Schlaffheit und schlechten Schlaf. Und dann vielleicht noch gegen Falten, Übergewicht und Erektionsprobleme. Es endet beim alten Menschen, der seine zehn bis zwölf verschiedenen Tabletten täglich braucht, nur um „eingestellt“ zu bleiben. Von außen eingestellt, das Wort trifft es gut!

Sich einstimmen

Können wir uns denn nicht selber auf das Leben einstellen? Von innen, statt von außen? Uns einfach weiter entlang an unseren Empfindungen von Schmerz und Lust in ihren tausend Gestalten orientieren, wenn wir durch die Ebenen unterwegs sind? Warum den Blick abwenden und „das Physische“ Experten überlassen, die aufgesucht werden, wenn etwas nicht zu stimmen scheint? Warum sich nicht gleich auf das einstimmen, was da so alles los ist, Angenehmes wie Unangenehmes?

Dies zu tun, bedeutet, den Schmerz anzusehen. Egal, wo er auftritt. Ihn immer wieder ansehen, sich versuchsweise anders verhalten und dann fragen: Ist er immer noch da? Hat er sich verändert? Oder einfach mal abwarten: Wie lange bleibt das so? Verändert sich mein Empfinden, je länger ich hinschaue?

Ich erinnere mich, als Kind eher ein forscherisches Interesse am Schmerz gehabt zu haben. Wieviel halte ich aus? Wann muss ich „Stopp!“ sagen? Es gab Kinderspiele der härteren Art, um das auszutesten. Das war spannend und aufregend, niemand hat geklagt oder sich beschwert, solange keine Erwachsenen anwesend waren. Auch das aufgeschürfte und schnell heilende Knie bosselten sich viele selber wieder auf, um mal zu fühlen, wie das so ist. Noch mit meinen ersten Liebespartnern probierte ich (außerhalb jeglichen erotischen Tuns) aus, wer den sich verstärkenden Biss des Anderen in die Handkante länger erträgt.

Doch bald schon verliert sich dieses ganz unbelastete Interesse in den Fängen der Niemals-Schmerzen-Kultur und an seine Stelle tritt Angst und Abwehr. Da Angst und Abwehr unangenehm sind, verschwindet im Zuge des Heranwachsens die Wahrnehmung der physischen Ebene mit all ihren schlecht oder gar nicht kontrollierbaren Empfindungen dann fast ganz. Nur wenn etwas mal richtig weh tut, wird es noch bemerkt und schnellstens beseitigt. Das erfolgsorientierte, rechnende Denken tritt an Stelle der Empfindungen und Gefühle, der Mensch ist vernünftig geworden, kann problemlos kratzende, schwitzige Kunststoff-Klamotten tragen und hat Versicherungen. Schließlich driften pro Tag zehn E-Mails herein, die den auf der Suche nach lustvollem Sex befindlichen Männern raten, Pillen und Pumpen einzusetzen, um „die richtige Größe“ zu erlangen. Als wäre es das!

Fühlend navigieren

Es ist Zeit, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Das Fühlen, nicht das Denken, ist der Wegweiser zu jenem MEHR, das wir im Innersten ersehnen, wenn wir uns fragen: „Wozu das alles?“ oder „Was soll ich tun?“. Um aber fühlend und spürend zu navigieren, muss ich mir das Fühlen erst wieder zurück erobern, in all seinen vielfältigen Formen. Dazu gehört zuvorderst die Wahrnehmung der physischen Ebene, inklusive ihrer groben Aspekte, also einschließlich Feind Nr.1: Schmerz.

Das Üben dieser umfassenden Wahrnehmung, das Nicht-mehr-Ausweichen vor dem, was vielleicht ängstigt, bringt vielfältige Einsichten: ich spüre und sehe, WIE ich mich krank oder unglücklich mache, in dieser oder jener Hinsicht. Es bleibt auch nicht auf der groben Ebene stehen, sondern entfaltet sich in alle Lebensbereiche, immer besser spüre ich, was gut tut und was nicht, was jetzt „das Richtige“ ist – aber nur, wenn ich auch auf die Stimme höre, den Weisungen folge, die „von innen“ kommen: zunächst vom Körper, doch bald schon von anderen Ebenen. Jede einzelne Seelenverbiegung erzeugt ihren ganz spezifischen „Schmerz“, den ich ganz genau bemerken und mich also fragen kann: Steht es dafür? Muss das sein? Will ich das wirklich? Oder verzichte ich nicht besser auf das Zu-Erreichende und entscheide mich gleich für „weiter wohl fühlen“, hier und jetzt?

Mit diesem Wohl-Fühlen ist NICHT das Wohlgefühl als „Wellness“ gemeint, sondern das „im Einklang“ sein. Sich nicht passend machen wollen, wo es nicht von selber passt, sondern darauf lauschen, was ist, und tun, was anliegt. Was getan werden will. Zur Not auch ohne es mittels logischen Denkens begründen und kommunizieren zu können – also tatsächlich im Vertrauen auf etwas Unsagbares. Sich dem immer weniger denkend, abwehrend und absichernd entgegen zu stellen, sondern mehr und mehr darauf zu „hören“, macht das ganze Leben wieder zu dem faszinierenden Abenteuer, das es – eigentlich – immer schon war.

Mein Yoga-Lehrer, den ich nach zwölf Jahren im Dezember letzten Jahres während einer übungsstunde Türen knallend verlassen habe, sprach manchmal vom „Hören des tonlosen Tons“, während wir da lagen und auf den Atem achten sollten. Ich lauschte ins Nichts und hörte leider auch nichts, allenfalls ein Rauschen, wenn der Atem durch die Teer-verengten Brustbereiche strich.

Ob er DAS gemeint hat? Das, auf das zu hören, einzig glücklich macht?

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Claudia am 03. April 2003 — 1 Kommentar

Vater UND Mutter ehren

Viele Lehren hat mir mein Vater mit auf den Weg gegeben. Zumindest hat er sich nach Kräften bemüht, mir etwas aus seiner Lebenserfahrung zu vermitteln, manchmal regelrecht einzutrichtern. Aus dem Stand fallen mir jede Menge Sprüche ein:

  • Kind, denk an deine Rente!
  • Schlag doch zurück, wenn du angegriffen wirst!
  • Männer sind Schweine und wollen immer nur das eine.
  • Vergiss den Gummi nicht!
  • Geld regiert die Welt.
  • Wer sich für andere engagiert, wird ausgenutzt.
  • Lass dir nichts gefallen!
  • Beschwer dich an der richtigen Stelle!
  • Um sein Recht muss man kämpfen!
  • Nichts ist umsonst!

„Niemals Aktien! Wenn, dann nur festverzinsliche Wertpapiere“, sagte er noch auf dem Sterbebett, als ich mir gerade überlegte, vielleicht doch ein paar Internet-Werte zu erstehen.

Bald war ich froh, es nicht getan zu haben. Nicht, weil ER das gesagt hatte, sondern weil mir Geldspekulationen zutiefst fremd sind. Diese Fremdheit ist allerdings auch schon eine Folge seiner „Geld-regiert-die-Welt“-Indoktrination. Diese, wie auch die meisten seiner anderen „Weisheiten“, hab‘ ich nie geglaubt, sondern immer auf Verdacht erst mal das Gegenteil für wahr gehalten. So ein Idiot konnte einfach nicht recht haben: Als cholerischer Quartalsalkoholiker war er in meiner Kindheit und Jugend der Terrorist der Familie, der Hass-Gegner schlechthin. Mein erstes Ziel im Leben war, aus seinem Machtbereich endlich zu entkommen und ich setzte es sofort um, sobald die Gesetzeslage es gestattete.

Wie sehr ich da bereits „Vatertochter“ war, wie weit mein Innenleben und meine Haltung zur Welt durch ihn, bzw. den Widerstand gegen ihn geformt worden war, realisierte ich erst viel später. Aber das ist eine andere Geschichte. Entgegen allen Erwartungen eine mit Happy End: Noch bevor er starb, liebte ich ihn. In aller Freiheit. Und half ihm per Telefon, seine „Beschwerden an den Bundeskanzler“ auf seiner Festplatte wieder zu finden, von deren Dasein und Struktur er keinerlei Vorstellung hatte.

Ohne viele Worte

Meine Mutter sagte nicht viel. Wie auch, ER redete ja immer und erzählte, wie es in der Welt zugeht und was man davon zu halten hat. Sie tat ihr bestes, um uns drei Schwestern vor seinen hässlichsten Seiten zu beschützen. Allerdings war ihre Macht beschränkt: War er besoffen genug, dass es ihm egal war, was sie von ihm dachte, weckte er uns nachts um drei auf, wollte uns mit halben Brathähnchen beglücken und gemeinsam noch einen drauf machen. Er wurde dann stinksauer, wenn das nicht so abging, wie er es sich wünschte – und wir zitterten vor Angst angesichts seiner Unberechenbarkeit. Auch, wenn er uns nicht aus den Betten holte, sondern nur durch die Wohnung polterte, laut singend: „Auf auf Matrosen, streckt eure müden Leiber! Die ganze Pier steht voller nackter Weiber!“, grübelten wir nicht über den Sinn dieses uns unverständlichen Liedes, sondern hofften nur inständig, er möge nicht ins Kinderzimmer kommen, nicht schon wieder.

Meine Mutter sagte also nicht viel. Ich liebte sie (und liebe sie heute noch), ohne Frage. Sie wirkte nicht durch Worte, sondern durch ihr Handeln, ihr Da-Sein und So-Sein. „Als Frau“ konnte sie mir allerdings kein Vorbild sein: So einen Kotzbrocken wie meinen Vater jahrzehntelang ertragen? Ich konnte es nicht verstehen und war mir ganz sicher, so etwas nie, nie, niemals im Leben auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Neben der Liebe war da also ein Vorwurf, einer der mir als „Vorwurf“ gar nicht bewusst wurde. Dass es damals in den 50ern und frühen 60gern noch keine „allein erziehenden Mütter“ gab und sie einfach keine Alternative für sich und uns sah, konnte ich als Kind nicht begreifen. Ich sah nur ihre Machtlosigkeit, manchmal auch ihre Verachtung, wenn ER gerade mal wieder „neben dran“ war. Eine schweigende Verachtung ohne für mich sichtbare Konsequenzen. Meine Welt war nicht in Ordnung.

Vaters Sprüche, selbst wenn ich sie mir mal anhörte, waren leider wenig hilfreich in Situationen, in denen es mir richtig dreckig ging. Die Angst vor der Kinderbande im Hof, später die Schwierigkeiten, in den pubertären Peer-Groups akzeptiert zu werden, bei alledem konnte er mir mit seinen Wehr-dich-doch-Sprüchen nicht helfen, ja, er machte es noch schlimmer, denn ich fühlte mich einmal mehr als unfähige Versagerin: ängstlich, schwach, und doch so begierig, dazu zu gehören.

Einsamkeit

Es gab niemanden, an dem ich mich wirklich orientieren konnte, von dem ich hätte lernen können, wie man sich in der Welt zu Recht findet. Wie ich es anstellen muss, dass „die Anderen“ mich mögen; wie ich mich verhalten sollte, wenn mein Vater besoffen auf mich einredete oder ausrastete, weil ich eine Mathe-Aufgabe nicht erklären konnte (ich war GUT in der Schule, aber für ihn reichte es nie). Was tun, wenn mich die Jungs auf dem Hof in ein Gebüsch schleppten und abtasteten? Was darüber denken? Da ich mit niemandem wirklich reden konnte, versuchte ich es bereitwillig sogar mit „Gott“, der mir als Ansprechpartner im Kommunionsunterricht anempfohlen wurde – ohne Erfolg. Gott antwortete nicht, obwohl ich ihn dringend gebraucht hätte, also gab ich den Glauben auf.

Meine einzige Zuflucht waren Bücher. Über Pipi Langstrumpf, griechische Heldensagen, nordische Märchen, englische Krimis, Karl Mai und andere Abenteuerschinken: ich verschlang die halbe Bibliothek und niemand redete mir rein, was ich da lesen durfte und was nicht. Ich orientierte mich an der „kleinen Dot“ und an Winnetou, liebte Tierbücher über alles, und in der beginnenden Pubertät las ich Geschichten von Mädchen, die nicht ausgehen und sich nicht schminken durften – genau wie ich.

So einsam wie als Kind war ich später niemals mehr. Im nachhinein kann ich sehen, dass mich das in gewisser Weise stark machte: Wenn man das Schlimmste schon hinter sich hat, ist man nicht mehr so sehr erpressbar. Auch, dass mein erwachendes Denkvermögen letztlich ganz allein auf sich selbst gestellt blieb, weil die sich üblicherweise anbietenden Erziehergestalten (Eltern, Großeltern, Lehrer, Pfarrer, „Freunde“) mir kein Vertrauen einflößten oder machtlos waren, hat mich ganz gut auf eine Welt vorbereitet, in der nichts sicher ist.

Wenn ich all das so erzähle, wundert es mich selbst, dass dieser Kindheit ein spannendes Leben folgte, in dem ich mich immer besser zu Recht fand. In dem ich es schaffte, mich niemals lange zu verbiegen, weder in einer Beziehung, noch in einer Arbeit, noch zugunsten einer Religion, einer politischen oder spirituellen Lehre. Natürlich heiratete ich nicht – kein Wunder bei dem Beispiel! Ich probierte alles aus, worauf ich Lust hatte, und ich ging, wenn es nur noch Leiden und Elend war. Klar, ich hatte auch meine selbst geschaffenen Sackgassen, in denen ich recht lange Zeit brauchte, um endlich die Kurve zu kriegen – aber das war schon zu einer Zeit, wo man für sein Gesicht selbst verantwortlich ist.

Wechsel der Blickrichtung

Eine positive Kraft trägt mich durch alle Tiefen. Niemand kann mich „im Kern“ wirklich beschädigen. Woher kommt das? Wem danke ich das? Ich will jetzt nicht darauf hinaus, dass es diesen „Kern“ gar nicht gibt, dass da „nichts“ ist, wenn man die Zwiebel des „Ich“ immer weiter schält und immer neu erkennt: auch diese Schale bin nicht ICH. Diese Erkenntnis selbst ist ja, psychologisch gesehen, auch erstmal eine „Tiefe“. Das verkraften zu können, muss jemand angelegt haben – wie komme ich dazu? Warum fühle ich „innen“ keine Angst?

Was die Welt da „draußen“ angeht, hat mein Vater mich geformt, im Schlechten wie im Guten – ob ich nun seine Lehren ablehnte oder annahm. Und je besser ich mich in der Welt (trotzdem, gegen ihn, anders!) zu Recht fand, desto friedlicher wurde unser Verhältnis – bis ich sehen konnte, was ihm in seinem Leben durch sein So-und-nicht-anders-Sein alles entgangen war. Geld regiert die Welt? Er war lebenslänglich unglücklich, nicht genug zu haben, raffte sich andrerseits aber auch niemals auf, seinen ÖÖffentlichen-Dienst-Job an den Nagel zu hängen, um welches zu verdienen. BAT 4b, der Karrieregipfel. Man darf niemandem vertrauen? Er hatte keine wirklichen Freunde. Ebenso verhielt es sich mit seinen anderen Weisheiten: er zementierte damit sein eigenes Unglück, seine Mangelsituationen, seine Unzufriedenheit. Auf einmal spürte ich Mitgefühl, freute mich, dass es ihm in seinen letzten Jahren nicht schlecht ging, als er mit dem Wohnmobil und seiner zweiten und dann dritten Frau durch Europa kurvte. Ja, auf einmal konnte ich auch sehen, was ich alles von ihm gelernt hatte – weder waren es nur Worte, noch war alles nur Schrott. Das „Lass dir nichts gefallen, beschwer dich an der richtigen Stelle! Um sein Recht muss man kämpfen!“ hab ich auf meine Weise schon gebrauchen können – und manches mehr.

All das ist jedoch nur „außen“. Um mit dem Außen konstruktiv umzugehen, muss etwas von innen dazu kommen. Etwas, das bleibt, wenn die ganze Welt in 1000 Stücke zerspringt. Es ist mir unmöglich, dafür Worte zu finden, ich glaube, es ist nicht „sagbar“, man kann es nur fühlen.

Um es fühlen zu können, braucht es aber einen Hinweis. Jemanden, der die Aufmerksamkeit in die richtige Richtung lenkt: nach innen. Und das möglichst nicht erst mit 40 in der Selbsterfahrungsgruppe oder beim Meditationskurs, sondern früher. Sehr viel früher.

Spät, aber nicht zu spät

Erst jetzt kann die Vatertochter, die ich immer gewesen bin, sehen, dass DAS von meiner Mutter kommt. Sie, die Machtlose, hat nicht viel gesagt. Sie war liebevolle Zuflucht, konnte aber „da draußen“ nicht helfen. Und doch: ETWAS hat sie gesagt, immer, wenn es mir dreckig ging, wenn ich Angst vor den Anderen hatte und wenn ich nicht wusste, was tun: „Kümmer‘ dich nicht um die Anderen, mach, was du für richtig hältst!“. Egal, um was es ging, niemals hat sie versucht, mir etwas vorzugeben, sondern mich immer darauf hingewiesen, ich solle „nach mir selber gehen“. Für sie war es kein Problem, dass ich das Jura-Studium abbrach – vielleicht machte sie sich Sorgen, sicher. Aber nie hätte sie mir gesagt, es sei falsch! Ich war ja „nach mir selber“ gegangen.

So komme ich erst spät dazu, meiner Mutter zu danken. Sie hat darauf verzichtet, mir konkrete Vorstellungen über das richtige Leben einzupflanzen und statt dessen dem „ich selbst“ eine Chance gegeben. Hat so einen Samen in meine Kinderseele gesät für die Zeit, wenn „die Welt“ und die Kämpfe da draußen nicht mehr das spannendste Thema sind. Und mir doch auch Vertrauen vermittelt, in diesen Kämpfen nicht zu verzweifeln.

Das ist keine Leistung, mag man vielleicht denken. SO hat sie vermutlich nicht groß darüber nachgedacht, es war kein wohl kalkuliertes „Erziehungshandeln“. Sie war einfach selber so, sie kannte es nicht anders.

So ist das Vater-Denken: Nur bewusste Leistung zählt, für das bloße Dasein und So-Sein darf man keine Liebe erwarten. Dieses Denken treibt die Liebe aus der Welt aus und ersetzt sie durch Bonuspunkte.

Ich bin froh, dass ich es heute besser weiß. Dass ich auch anders fühlen kann. Eben dank meiner Mutter, der ich diesen Beitrag aus ganzem Herzen widme.

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Claudia am 03. April 2003 — Kommentare deaktiviert für Allein Sein

Allein Sein

Zwei Monate sind es jetzt schon seit dem Umzug an den Rudolfplatz. Zwei Monate alleine wohnen, zum ersten Mal seit vielen vielen Jahren. Ich wusste länger schon, dass es Zeit ist, aufzubrechen, doch als es im Sommer und Herbst 2002 angesichts völlig unterschiedlicher Wohn- und Lebenswünsche dann konkret wurde, hatte ich schon ein bisschen Bammel: Würde ich mich nicht einsam fühlen, wenn diese beiläufige Zweisamkeit Zimmer an Zimmer, das gemütliche Kochen und Essen, das Kaffee-Trinken, Fernsehen, Plaudern nicht mehr die Grundstruktur meines Real Life ausmachen würde? Würde ich vielleicht verwahrlosen, wenn „der Andere“ nicht mehr durch sein bloßes Dasein eine disziplinierende Wirkung ausübte?

Kein Tag in dieser Wohnung hat diese Ängste bestätigt. Es war richtig, mich endlich einmal in einen eigenen Raum zu begeben, wo es nur ganz allein mir selber überlassen ist, was ich darin anfange. Die Zweisamkeit, die hinter mir liegt, war voller gegenseitiger Achtung, Wertschätzung und liebevoller Rücksichtnahme. Nichts, wovor man mit Grauen wegrennt, im Gegenteil! Das Allein-Sein jetzt ist etwas gänzlich anderes, ermöglicht eine völlig neue Lebensweise: Keine Routinen, keine vermuteten Erwartungen, niemand ist da, der aufgrund langjähriger Erfahrung ganz genau weiß, WER ich bin. Also kann ich die Tatsache wieder zur Kenntnis nehmen, dass ICH das NICHT weiß. Und das ist wunderbar! In jedem Moment bemerke ich – wenn ich will – die offene Weite: Was tu ich jetzt? Welchem Impuls folge ich? Welches Dasein wähle ich als Nächstes, welche Rollen und Masken setze ich dazu auf?

Freiheit. Ich spüre große Freiheit. Ganz anders, als etwa Mitte zwanzig, als ich auch schon mal alleine wohnte, doch eigentlich nie allein sein konnte. Meine Wohnung war mir damals nur Absteige, Stauraum, Postadresse – und manchmal liebevoll geschmückte Empfangshalle für einen netten Gast. Mit mir alleine konnte ich nichts anfangen, ja, ich fühlte mich unruhig und getrieben. Es trieb mich zu Gleichaltrigen, man hing gemeinsam in Wohnungen und Kneipen herum, redete viel, hatte zu allem eine Meinung, diskutierte, bis die Köpfe rauchten – dazwischen fanden und zerstritten sich Paare, inszenierten Beziehungsstress, also noch mehr Gesprächsstoff – und dazu Drogen in 1000 Gestalten.

Wir wussten nichts mit uns anzufangen und taten alles, um das nicht zu spüren. Sich ständig unter Leuten aufzuhalten gab uns den Anschein von Halt, Sicherheit, „Jemand-Sein“. „Spontane“ Aktionen wie das nächtlich beschlossene „Komm, wir fahren jetzt nach Paris“ vermittelte den Anschein von Freiheit. Doch das Gefühl der Getriebenheit und Unruhe blieb, auch, wenn man dann in Paris angekommen war.

Heute stelle ich entzückt fest: Nur das Ankommen bei sich selbst ist ein wirkliches Ankommen. Kein naher oder ferner Ort, kein noch so liebevoller anderer Mensch, kein tolles Gedankengebäude und keine „Leistung in der Welt“ kann das Loch stopfen, die Leere füllen, die Getriebenheit beenden, die Suche stoppen. Nur eine Umwendung der Blickrichtung ist nötig: nach „innen“, statt nach „außen“ – die Anführungszeichen geben einen Hinweis darauf, was für eine riesige Abenteuerlandschaft des Unerforschlichen sich hier auftut.

Und wie im Märchen wandert man ganz alleine, trifft Zauberer, Feen, freundliche und feindliche Geister und Gottheiten. Lernt – wie im Märchen – die Macht kennen, die darin liegt, dem Unbekannten Namen zu geben. Oder – und das ist fast noch spannender in meinem Alter – die bekannten Namen von allem und jedem wieder weg zu nehmen. Die Zwiebel des „Life as we know it“ zu schälen, in der Ahnung, dass dieses Beginnen in ein grundstürzendes „Nichts“ führt, vor dem man unsäglich erschrecken würde, wenn es so weit ist. Das Nichts, aus dem die Fülle kommt, die Fülle all der Möglichkeiten, die wir durch unser Denken und Sagen, Tun und Nicht-Tun Wirklichkeit werden lassen.

In diesem Metier gibt es zwei Arten von Gurus, zwischen denen ich lange hin- und hergerissen war: Die einen weisen auf das Nichts hin und geben Tipps, die Zwiebel zu schälen, die anderen auf die Fülle der Möglichkeiten, die unsere Freiheit ausmachen – die Möglichkeit, etwas anderes zu wählen als das gemütliche Elend, in dem man so gerne klagend verharrt.

Damit bin ich durch. Es gibt da keine wahrere Wahrheit, kein richtigeres Verhalten, keine wirklichere Wirklichkeit. Es liegt an meiner Tagesform und Laune, meinen Impulsen im Augenblick, was mich gerade mehr fasziniert: das „schälen“ oder das „kreieren“.

Nichts und niemand auf der Welt hindert mich daran, das eine zu tun und das Andere nicht zu lassen.

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Claudia am 13. März 2003 — Kommentare deaktiviert für Vom Leiden frei?

Vom Leiden frei?

Es ist der dreizehnte März, 7.33 Uhr, und die Morgensonne scheint von rechts (Osten) auf meinen Balkon. Dies ist eine Nordseite-Wohnung, von der die Vormieterin erzählte, dass sich die Morgensonne immerhin im Juni zwischen sechs und acht Uhr früh kurz zeige – und nun kommt sie schon jetzt, wie schön.

Meine Welt und mein ganzes Leben verändert sich drastisch. Nicht unbedingt von heute auf morgen, aber seit ein paar Monaten zerlegt sich alles, was lange Bestand hatte. Kein Stein bleibt auf dem anderen, keine Gewohnheit oder Errungenschaft bleibt, wie sie war. Wohnen, Arbeit, Beziehungen und Freundschaften verwandeln sich, ja sogar das Essen und Trinken bis hin zum Körpergefühl ist anders: Sieben Kilo weniger machen einen Unterschied, der in jeder Bewegung zu spüren ist.

Und alles geht wie von selbst. Nicht, dass ich etwas geplant oder konkret gewünscht hätte: der Entschluss vom letzten Herbst, in Zukunft alleine zu wohnen, der von außen so selbstbestimmt wirkt, war nur das Ja zu einer länger schon offenkundigen Not-Wendigkeit. Nicht ICH wende die Not, ich folge nur.

Wem? Da ist niemand mehr. Kein Mensch und auch keine „Lehre“, an der ich mich ausrichte und festhalte. Nicht, dass ich irgendwie dagegen wäre, das zu tun, es funktioniert einfach nicht mehr.

Wie fühl‘ ich mich dabei? Gelegentlich ist es geradezu euphorisch: Ich wandere in der Wohnung herum und empfinde Glück, frag mich verwundert, woher es kommt: Müsste da nicht etwas oder jemand sein, eine Ursache? Aber es findet sich nichts, nichts, was ich benennen könnte. Doch weil ich es gewohnt war, für alles Ursachen zu sehen, kann ich nur staunen.

Natürlich gibt es auch Tiefs, Verunsicherung, Einsamkeitsgefühle – sie kommen und gehen und auch von ihnen kann ich nicht sagen, WARUM sie sich zeigen. Und vor allem nicht, warum sie wieder gehen. Ich bemerke sie, forsche nach möglichen Ursachen, hänge mich vielleicht mental für kurze Zeit an das, was mir dazu gerade einfällt, hege „Meinungen“, drücke sie aus – aber schon wenig später zerrinnt wieder alles. Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor, einfach so.

Was folgt daraus? Müsste das nicht bedeuten, dass mich alles cool und gleichgültig lässt, unberührt über den Wassern schwebend, wohl wissend: die Zeit nimmt alles Übel mit sich weg, genau wie alles Gute, Wahre, Schöne? Sollte ich – zumindest in meiner Kommunikation – immer von diesem erlebten Wissen ausgehen und die konkreten Höhen und Tiefen nicht mehr Ernst nehmen? Sie nicht mehr ausdrücken vor allem, damit sich niemand betroffen fühlt und womöglich meint, ich sei NUR so – und daraus falsche Schlüsse zieht?

Geht nicht. Es gibt keinen Weg zurück ins berechnende Denken. Wenn sich in mir etwas aufstaut, muss ich es ausdrücken, um es gehen lassen zu können. Mag es den Gipfel der Unvernunft bedeuten, mag es falsch und unberechtigt sein, mag es mich als Idiotin erscheinen lassen (was ja ganz besonders schmerzt!) – was raus muss, muss raus. Eindruck und Ausdruck müssen im Fluss bleiben – und auch „Denken“ hat keine höhere Qualität, sondern ist etwas, was mir ganz genauso zustößt wie eine Empfindung oder ein Gefühl, ist also Teil des Eindrucks, der im jeweiligen Augenblick oder nach einer kleinen Zeit der Einwirkung zum Ausdruck drängt.

Sich diesem Fluss verweigern, ihn kanalisieren wollen, bedeutet Elend und Leiden. Das Gute und Schöne existiert dann nur noch in der Zukunft, also in der Vorstellung. Die Gegenwart ist zubetoniert durch berechnendes Handeln, von Wünschen und Ängsten gesteuert. Immer im Versuch, durch Wohlverhalten nirgends anzuecken oder positive Reaktionen anderer zu erleben, verfehle ich dann genau das, was ich eigentlich wünsche: die Freiheit vom Leiden.

Diese Freiheit verwirklicht sich nicht dadurch, dass ein Rezept, ein Verhaltenskanon gefunden wird, wodurch das Leiden ein für allemal in Schach gehalten werden kann, sondern allein durch das Akzeptieren dessen, was ist. Eben auch, wenn es leidvoll ist. So schnell, wie es sich wieder verändert, wenn ich nicht dran klebe, kann ich manchmal kaum gucken!

Ist das jetzt ein Rezept? Denken und Reden entlang dieses Themas endet immer im Paradox. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es unmöglich ist, so etwas einfach zu lesen und zu übernehmen. Ganze Bibliotheken weißer Worte begleiteten schließlich meinen Weg ins Elend, konnten mir nicht aus der Verstrickung ins rechnende Denken und berechnende Handeln heraus helfen. Es ist erst dann genug, wenn es eben genug ist. Jeder Versuch, etwas grundlegend zu ändern, ist ja genau wieder das beschriebene „Berechnen“, das nur immer tiefer in den Sumpf führt.

Die größte Behinderung bei alledem – nachdem Wünsche und Ängste ihre Macht bereits verloren haben! – ist jedenfalls das Bemühen, doch immer noch „ein gutes Bild abzugeben“. Ich möchte aus dem Augenblick leben, ja sicher, aber andererseits sollen doch alle sehen, dass ich nicht so eine unbewusste Idiotin bin, die vom „richtigen Leben“ nichts weiß.

Und DAS funktioniert nicht. Nie.

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Claudia am 12. März 2003 — Kommentare deaktiviert für Die Wahrheit: ein Flop

Die Wahrheit: ein Flop

Es ist gelegentlich spannend, sich über Weltanschauungen auszutauschen – aber im Grunde sind das, zumindest bei mir, Momentaufnahmen. Auch die Philosophie folgt dem aktuellen Bedarf, will rechtfertigen und in einen größeren Zusammenhang einbetten, was ist, und öfter noch, was man sich wünscht. Von daher ist es interessant, auch mal zu fragen: Warum hat einer diese oder jene Philosophie? Welche Not lindert er damit?

Man glaubt, Weltanschauung sei Wahrheit, zumindest aus der Suche nach ihr geboren, wenn auch immer unvollkommen. Was aber ist Wahrheit?

Wahrheit, so die traditionelle Anschauung, ist die Übereinstimmung des Denkens mit den Sachen. Wenn aber auch das Denken eine „Sache“ ist, oder die Sache eine Anschauung – was dann?

Dies ist vielleicht DIE Erkenntnis des dritten Jahrtausends. Und das gesamtgesellschaftliche Initiationserlebnis ins Abdanken der Wahrheit war die New Economy, der Börsenhype. Nun verharren alle in der Depression und Stagnation, weil erkannt wurde, dass der Glaube die Werte erschafft – und ebenso schnell wieder vernichtet. Einen Weg zurück gibt es aber nicht, kein Zurück zu den „fundamentalen Werten“. Und Sparen allein ergibt keine florierende Wirtschaft.

Das Problem: dass man den Glauben nicht beliebig erschaffen kann. Ich weiß, manche denken anders, aber mir gelingt es nicht. Nicht „einfach so“, indem ich etwa beschließe, nun etwas anderes zu glauben als das, was mir bisher als wahr erschien.

Der Glaube muss aus den Herzen kommen. Und das bedeutet, dass verobjektiviertes, instrumentalisiertes, einzig der Rendite verpflichtetes Handeln keinen Glauben produzieren kann, der Werte schafft.

Das müsste eigentlich das Ende des Kapitalismus bedeuten, wie wir ihn kennen. Aber naja, das Jahrtausend hat ja erst angefangen.

Wie entsteht Glaube? Ich meine nicht den religiösen Glauben, sondern den, der uns z.B. ein neues Projekt starten lässt – mitten in der Depression. Den, der uns frei macht, heute Geld auszugeben, im Vertrauen darauf, dass morgen wieder etwas herein kommt.

Ich weiß es nicht. Aber ich weiß zunehmend besser, was hindert. Die „Wissensflut“ steht ganz vorne in der Reihe: diese Unmengen Konzepte, Ideengebäude, Vorschriften, Ge- und Verbote, Traditionen und Moden, Warnungen, Analysen, Szenarien, Handlungsanleitungen – alles, was ich mir von außerhalb zusammen klaube, weil ich grad nicht weiß, wo es lang geht. Oft bedeutet das die reine Zeitverschwendung, schlimmer noch: Verwirrung. Denn ich schaue auf unzählige „Infos“ und Ratschläge, aber nicht mehr auf das, was mich zur jeweiligen Ratsuche motiviert. Ein flüchtiges Unwohl-Sein, ein kleiner Frust, eine gewisse Unsicherheit – und schon wenden wir uns ab und beginnen, uns zu in-formieren: von fremden Inhalten innerlich ausrichten zu lassen.

Ein Konzept, ein Gedankengebäude ist eine Verallgemeinerung einer Lösung, die einmal oder auch öfter in einer bestimmten Situation richtig war. Davon auszugehen, dass dies nun immer stimmt, ja, dass dieses Rezept nun schon vorab in die Strukturierung des Lebens einfließen müsse, ist verrückt. Vor allem ist man dann nur noch am Konzepte abgleichen: oh, das war wohl doch das falsche, es hatte vielleicht einen Fehler, nehmen wir halt Version 1.2. Und auch das wird wieder Fehler haben, genau wie das nächste.

Reden oder Schweigen?

Was im Einzelfall jeweils „richtig“ ist, lässt sich nicht aus dem Denken allein entnehmen. Ein Beispiel aus dem Beziehungsleben: Was tun im Fall eines Konflikts? Die Harmonie ist zum Teufel, man hat ein „Problem“, die schöne Welt der Zweisamkeit droht zu zerschellen – wie verhalte ich mich? Jahrzehntelang war ich der festen Meinung, es sei auf jeden Fall angesagt, darüber zu reden: Sich auseinander setzen, die Dinge KLÄREN. Standpunkte austauschen, Verständnis für den Anderen gewinnen, verhandeln, Abstriche von Ansprüchen machen, möglichst gerechte Kompromisse schließen, auch mal streiten und sich wieder versöhnen – wir redeten und redeten, Tage und Nächte lang: Die „Beziehungsdiskussion“ war schon bald der weit größere Horror als das, was sie jeweils ausgelöst hatte.

Irgendwann, im Rahmen einer mehrere Wochen dauernden Kräfte zehrenden Auseinandersetzung, hatte ich meine „Erleuchtung“. Ein Frühlingstag, ich stand mit meinem Gefährten auf dem Chamissoplatz, wir hatten den Arbeitsplatz verlassen, um die Kollegen mit unserem schon Tage andauernden Streit zu verschonen. Ein Moment der Ruhe, die Sonne kam heraus. Jeder erwartete vom anderen den nächsten verbalen Angriff, eine Art Showdown – ich hatte jedoch ein totales Energie-Tief und fragte ihn erst mal nach einer Zigarette. Wir rauchten. Schwiegen. Schauten uns an. Er sagte: „Du meinst, es gäbe Besseres? Zum Beispiel, mit der Liebsten einen Spaziergang in der Sonne machen?“ Er reichte mir den Arm, ich hakte mich unter – wir lächelten uns an. Es war vorbei.

Für mich eine grundstürzende Erfahrung: Ohne Worte, ohne eine mühsam ausdiskutierte „Problembearbeitung“ war der Konflikt auf einmal verschwunden. Es war sogar schwierig, sich zu erinnern, was eigentlich los gewesen war: Nichtigkeiten!

Die Realität hatte mich belehrt, ich dachte also um. Machte die Erfahrung zu einem neuen Konzept: Nicht drüber reden, einfach leben. Ärger, Wut, Frustrationsgefühle, Leiden aller Art: nichts unternehmen, es verschwindet von selber, wenn ich keine Energie rein stecke. Und der nächste Mann, dem ich nahe kam, sagte es noch deutlicher: wenn erst geredet werden muss, ist eh schon alles zu spät.

Hatte ich jetzt die Wahrheit gefunden? Das RICHTIGE Leben? Immerhin lebte ich lange ohne Diskussion und ohne Streit. Es erschien mir weit angenehmer als in den Zeiten des Beziehungs-Clinchs. Kein Kämpfen mehr, wie schön! Unmerklich aber schlich sich das Elend wieder ein: auf einmal steckte ich in einem Miteinander, das fast nur noch ein stummes Nebeneinander war. Jeder nahm sich zurück, unterdrückte und ignorierte eigene Wünsche und Impulse, sah über alles hinweg, was die so hoch geschätzte Friedlichkeit und Freundlichkeit hätte gefährden können – bloß keine Auseinandersetzungen! Und irgendwo in einem Winkel der Seele baute sich ein Druck auf, der letztlich die Veränderung unausweichlich machte. Das neue Konzept war ebenso falsch wie das alte.

Böses weißes Mehl

In den kleinen Dingen praktiziere ich gerade versuchsweise die schrankenlose Konzeptlosigkeit. Es ist wunderbar! In Sachen Ernährung hat es mich bisher sogar vor dem angeblich unausweichlichen Jojo-Effekt nach dem Fasten gerettet. Tag um Tag hab‘ ich Lust auf diese ungesunden Bäcker-Stückchen: böses weißes Mehl mit viel Zucker und nicht wenig Fett. Und Tag um Tag kauf ich mir eins oder auch zwei, verzehre sie mit Genuss, putze allenfalls die armen Zähne hinterher und mach mir ansonsten keinen Kopf. Und siehe da: ich nehme nicht zu, hab sogar noch ein bisschen abgenommen. :-)))) Nun lässt der Zuckerstück-Hype auch langsam nach, was gewiss nicht der Fall wäre, würde ich mir die Teile versagen!

Wir sind umstellt von Vorschriften, die in ihrer Widersprüchlichkeit geradezu lächerlich sind – und alles WIRKT, gelegentlich, und ebenso oft auch nicht! Da kann ich doch gleich bei dem bleiben, was als Impuls aus mir kommt, das ist wenigstens Realität. Wenn ich sie nicht zum Rezept mache, zum Konzept abstrahiere, kommt alsbald wieder etwas anderes, was zumindest schlimme Schäden vermeidet. Wogegen so mancher Makrobiot oder Urköstler tatsächlich abwartet, bis ihm Haare und Zähne ausfallen, bevor er seine Ernährungsweise nicht mehr an der reinen Lehre ausrichtet.

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Claudia am 08. März 2003 — Kommentare deaktiviert für Die Guten gibt es nicht

Die Guten gibt es nicht

Je älter ich werde, desto mehr werden mir bestimmte Denkgewohnheiten bewusst, die meinem Leben eine Form geben. Es sind keine Wahrheiten, sondern geistige Filter, die aus „allem, was ist“ nur das in meine Wahrnehmung einlassen, was ich mir wünsche.

Zuvorderst – das fängt gleich bei der Geburt an – wünsche ich mir freundliche, liebevolle Mitmenschen, friedliche Lichtgestalten, die mich lieben und achten, die sich um mich kümmern, wenn es mir nicht gut geht und die mir ein Pflaster auf die Wunden kleben, die das Leben schlägt.

Sobald dann das Denken einsetzt, und die eigene Bedürftigkeit nicht mehr nur als Gefühl und Empfindung, sondern in Gedankengestalt zu Bewusstsein kommt, ist es mit dem Wünschen alleine nicht mehr getan. Wenn ich von anderen erwarte, edel, hilfreich und gut zu sein, muss ich davon ausgehen, dass ich auch selber so bin – wie könnte ich es sonst einfordern?

Ich bin ok

Damit entsteht der Filter gegenüber dem eigenen So-Sein: ich glaube fest an meine eigenes „Gut sein“ und bewerte nun Gedanken, Gefühle und Taten im Rahmen dieser Vorgabe. Meist gelingt es, insbesondere in jungen Jahren, sich selber völlig in Ordnung zu finden – aber ach, die böse Welt pfuscht ständig in dieses friedlich und freundlich gemeinte Dasein, so dass man sich doch gelegentlich verteidigen muss. An der durchweg positiven Selbsteinschätzung kann das lange nicht rütteln – bei mir hat es bis Mitte dreißig gedauert, bis ich realisieren konnte, was ich für eine Schreckschraube geworden war: immer nur den eigenen Vorstellungen vom richtigen Leben hinterher rennend, mit gegen Null tendierender Aufmerksamkeit für Andere. Dabei kaum in der Lage, jemandem richtig zuzuhören, geschweige denn, die Bedürfnisse anderer, ihre Standpunkte und Sichtweisen ernst zu nehmen.

Das Aufschlagen auf dem Boden der Wirklichkeit war hart aber hilfreich. Es war, als wiche ein inneres Terror-Regime von mir, das meine sämtlichen Lebensäußerungen bestimmt hatte. Meine ununterbrochenen Anstrengungen, selber über alle Zweifel erhaben zu sein, alles richtig zu machen, die besten Absichten zu pflegen und immer perfekt und unangreifbar zu wirken, hatten genau ins Gegenteil geführt und mich noch dazu blind dafür gemacht, es zu bemerken.

Als es schließlich vorbei war, begann eine paradiesische Phase. Endlich mal einfach nur leben, neugierig hinsehen, was ist, anstatt zwingen zu wollen, was sein soll – der ganze Verlauf hatte nichts mystisches und doch fühlte ich mich wahrhaftig erleuchtet! Das Licht hatte meine dunkle Seite ins Bewusstsein gehoben und in meinem Leben gab es tatsächlich niemanden mehr, dem gegenüber ich sie glaubte, verleugnen zu müssen. Was für eine Entspannung!

Paradoxerweise machte mich dieses neue Bewusstsein der eigenen Fehlerhaftigkeit friedlicher und freundlicher. Ich lief ja nicht mehr in einer Rüstung herum, immer zum Kampf bereit, nach Feinden Ausschau haltend, die meinem Gut-Sein im Wege stehen könnten. Endlich interessierte ich mich wirklich für andere Menschen, jenseits des bloßen Nutzens, den sie für mich haben mochten.

Auf einmal war ich ein Nichts und hatte nichts dagegen. Ich konnte jetzt die anderen kämpfen sehen, konnte die Filter und Scheuklappen wahrnehmen, die sie – in der mir so gut bekannten Weise! – von der Wirklichkeit abtrennten. Zum ersten Mal hatte ich Mitgefühl, wissend um meine Ohnmacht, durch diese Mauern zu dringen. Denn niemand kann jemand anderen, der fest entschlossen ist, sein aktuelles Selbstbild aufrecht zu erhalten, irgendwie „aufwecken“. Das geschieht nur von innen her, wenn genug gelitten wurde. Bei manchen nie.

Ich lernte also eine neue Einsamkeit kennen – doch mit ihr kam zum ersten Mal die Fähigkeit, alleine zu sein, ohne das irgendwie falsch zu finden. Ohne daran zu leiden. Es gibt ja nicht nur die Menschen in ihren jeweiligen Verstrickungen, die Welt selber ist ein riesiges Wunder. Ein Vogel, eine Wolkenformation, Licht und Schatten, der Frühling, der Atem – ich nahm auf einmal das Leben war, in einer viel umfassenderen Weise als je zuvor.

In den Sand geschrieben

Es war die Zeit, als mir plötzlich auffiel, dass ich die verstreichende Zeit nicht mehr „seit“ rechnete (seit dem Abitur, seit dem Umzug nach Berlin, seit dem Studienabschluss…), sondern da auf einmal ein „bis..?“ vor mir stand. Das war neu! Ohne dass ich bewusst „umgedacht“ hätte, war mir das Gefühl der eigenen Endlichkeit zugewachsen. Ohne dass das irgend eine Art Stress ausgelöst hätte, im Gegenteil. Es war eine weitere Form noch tieferer Entspannung!

Denn früher hatte ich bei allem, was ich tat, immer mit der Ewigkeit gerechnet – unbewusst. Ich strebte in jeder Hinsicht nach „Endlösungen“ – sei es bei der Renovierung der eigenen Wohnung, beim Verhandeln über einen Vertrag, bei der Ausgestaltung einer Arbeitssituation – und natürlich auch in der Politik, soweit ich daran teil nahm: das Bemühen war auf das Absolute gerichtet: hier und jetzt etwas Perfektes schaffen, etwas, das allen Zweifeln und Unwägbarkeiten stand halten würde, egal, was kommt. Was für sinnlose Kraftakte, alles in allem!

Jetzt wusste ich: mein Leben schreibt sich in den Sand. Wie schön, mich dabei nicht mehr aufführen zu müssen, als würde immer alles in Marmor gemeißelt!

Es wundert nicht, dass seitdem alles viel leichter geht. Ohne den Automatismus von Kampf und Krampf, ohne feste Vorstellungen, wie die Dinge zu sein haben, ist es leicht, in den Fluss zu kommen: mitzuschwimmen mit eigenen und fremden Impulsen, sehen, was geschieht, nicht immer alles zwingen wollen. Dann ERGIBT sich auf einmal unglaublich viel – einfach so!

Die wirklich schlimmen Leiden sind nie mehr wieder gekommen: die Angst, zu versagen, zum Beispiel. Die heftigen Alpträume. Die Angst vor Einsamkeit und Verlassenheit. Das nächtliche Zähneknirschen und der Traum von der Prüfung, bei der man auf einmal alles vergessen hat. Auch der extreme Ehrgeiz, wie ich ihn von früher kenne, ist ohne Abstriche in die Reihe der schlimmen Leiden zu stellen – auch er ist weg. Mit ihm verging auch die Verachtung einfacher Menschen und körperlicher Arbeit, die ich mir im nachhinein als echte Sünde ankreide, bzw. als große Dummheit.

Und was ist jetzt? Welche alten oder neuen Leiden suchen mich heute heim?

Nun, auch ohne Illusionen über mich selbst zu hegen, wünsche ich mir unverdrossen freundliche, liebevolle Mitmenschen, friedliche Lichtgestalten, die mich lieben und achten, die sich um mich kümmern, wenn es mir nicht gut geht und die mir ein Pflaster auf die Wunden kleben, die das Leben schlägt.

Und bin dann enttäuscht, wenn mal das Licht auf ihre dunkle Seite fällt.

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Claudia am 17. Januar 2003 — Kommentare deaktiviert für Und wieder: Wegwerfen, wegspenden, loslassen

Und wieder: Wegwerfen, wegspenden, loslassen

Neben mir stehen jetzt sechs gepackte Umzugskisten, vier kleine, 40 mal 60 Zentimeter und zwei große, 80 lang. Daneben ein Rucksack und noch zwei Taschen, voll mit kleinen Dinge – meine Buddhastatuensammlung, zum Beispiel. Naja, Sammlung, es sind jetzt sieben. Daneben die Fotoausrüstung meines Vaters, eine bestimmt 30 oder gar 40 Jahre alte Rico-Spiegelreflex mit allerlei Zubehör, in Geld betrachtet fast wertlos – nie werde ich sie benutzen, doch ich will sie auch nicht entsorgen, noch nicht. Er hat mir auf vier Seiten eine Gebrauchsanweisung dazu geschrieben, es ist der einzige Brief, den ich noch von ihm habe. Er beschreibt nicht nur die Kamera, nein, es ist eine Anleitung zum Fotografieren überhaupt, auf vier Seiten, zügig durch alle Aspekte bis hin zum Umgang mit dem Verkäufer, wenn man die Papierabzüge reklamiert. Rechtschreibung und Grammatik war dabei weniger wichtig, die Tochter ist schließlich nicht die Behörde. Tja, so war er. Und ich hab‘ viel von ihm!

Unterm Bett liegt das 400-Mark-Keyboard, kaum benutzt und wieder originalverpackt. Hab mir überlegt, es zu spenden, wie den guten Meter Bücher, der nicht mehr ins Regal gepasst hat, mich dann aber doch dagegen entschieden. Könnt ja sein, dass ich nochmal Lust auf die 128 Midisounds habe, vielleicht schließe ich das Board in der neuen Wohnung wieder an. Zweimal zwei PC-Lautsprecher mit integriertem Verstärker stehen auch noch hier herum. Mindestens ein Paar muss ich behalten. Derzeit lebe ich ohne Sound, völlig still im Hier und Jetzt, nur gelegentlich das Quaken des Handys, wenn es Strom tanken will.

Am Dienstag bekomm‘ ich den Schlüssel zur neuen Wohnung, dann kann ich mit dem Umziehen anfangen. Samstag kommt * Erkan-Transport (sehr empfehlensert!) und holt die großen Sachen, das andere mach‘ ich selbst. Es sind ja nur etwa 500 Meter, einmal rüber über die S-Bahn-Geleise, dort, wo man so wunderbar weit bis zum Funkturm sehen kann, dann noch ein paar Schritte bis zum Rudolfplatz, direkt im * Stralauer Kiez, praktisch eine Insellage.

Jedes Mal ein bisschen weniger ?

Seit ich Webtagebuch schreibe, ist dies mein dritter Umzug. Ich kann also nachlesen, wie es mir 2001 erging, als ich voller Freude in die Metropole zurück kehrte, die ich 1999 so völlig überdrüssig verlassen hatte. Da finde ich zum Beispiel den Eintrag Mal wieder: Materie, der davon handelt, wie man das Sammeln, Horten und Anhäufen vermeiden bzw. sich abgewöhnen kann – und wie ich mich im einzelnen mühe, immer weniger zurück zu behalten. Ein Endlos-Thema, denn auch schon beim Umzug aufs Land, im Juni 1999, wollte ich jede Menge Ballast abwerfen (wer nachliest merkt: hier geht’s auch zurück ins historisch gewachsene Diary).

Ist da in Sachen Besitz nun ein Fortschritt festzustellen? Hat das „weniger werden“ geklappt ??? Ich hab mich ja nicht selber vergewaltigt und sozusagen „programmatisch“ alles mögliche weggeworfen. Nein, Dinge wie etwa Papas Kamera schleppe ich ohne Ärger mit, was weh tun könnte, wird nicht entsorgt, mag das auch noch so irrational sein. (Ich BIN schließlich nur in einem winzigen Bereich rational, warum also sollte ich mich da bezähmen.)

Wenn ich mal kurz drüber lese, stelle ich fest: 1999 hab ich sogar noch mehrere Jahrgänge Internet World und andere Magazine nach Mecklenburg umgezogen – in großen Schubern, was für ein irres Gewicht! Die hab ich diesmal dem Obdachlosenbuchladen um die Ecke vorbei gebracht, zusammen mit den bestimmt sechs Tüten bzw. Rucksäcken voll Bücher. Die Andenken, Fotos und Geschenke aus der persönlichen Vergangenheit, die ich bisher nie los werden konnte, hab ich durchsortiert und auf ein Zwanzigstel geschrumpft! Alte Familienalben, alle Negativfilme aus der eigenen Fotografierzeit – alles weg. Auch besitze ich keinen einzigen Brief mehr, nur eine Art „Rollo am Holzstab“, das ein Mann, in den ich vor etlichen Jahren verliebt war, aus unseren Frühlingsbriefen zusammenkopiert und gebastelt hat. Ich hatte das Teil schon in der Hand, die über dem Müll schwebte -. kurz zögerte – dann hab ich mal kurz reingelesen. Das hätt ich nicht tun sollen, jetzt hab‘ ich das romantische Papp-Memorial einer Frühlingsliebe noch ein paar Jahre!

Fortschritt auch bei den am meisten Ego-besetzten Artefakten: alle „früheren Werke“ sind jetzt den Gang alles Irdischen gegangen, die einst herausgegebenen Zeitungen, die Broschüren und Prospekte, auch sämtliche Texte aus unterschiedlichen Schreibgruppen und Workshops. Diesen ganzen Schmodder leichten Herzens endlich los zu lassen, tut ganz besonders gut.

Was bleibt? Die sechs Kisten werden noch etwa acht werden – zum leichteren Tragen durcheinander gepackt mit Büchern, Akten, Kleider und Geschirr – dazu die sieben Buddhastatuen. Geschirr und Klamotten konnte ich in den letzten Tagen auf genau das reduzieren, was ich auch tatsächlich trage und benutze, der Rest ging in die Kleidersammlung.

Möbel ? Nicht viel: Ein Bett mit höllisch schwerer Latexmatratze, zwei Billy-Regale, der Schreibtisch mit Stuhl und Aktenschrank, ein Sideboard und ein Kleiderständer (statt Kleiderschrank, dem ich mich immer schon verweigere), zwei leichte Stoffsessel mit rundem Tischchen, ein kleines Sofa, der Küchentisch mit zwei Stühlen, – sodann die Waschmaschine und der Kühlschrank, ein kleines Stand- und ein Hängeregal für die Küche. Drei Zimmerpflanzen, drei Balkonkästen – war es das? Ach ja, zwei Balkonstühle, auch für Gäste benutzbar, und ein paar kleine Teppiche. Himmel, es bleibt doch immer noch eine ganze Menge übrig, was mensch so durchs Leben schleppen muss in der technischen Zivilisation. Und um in dieser zu navigieren, ist natürlich der PC und das zugehörige Equipment nicht zu vergessen – ja, er ist die „Haupt-Sache“, denn der ganze Umzug ist um „Abbauen des Arbeitsplatzes, Aufbauen drüben“ herum organisiert, das wichtigste DER ANSCHLUSS, möglichst nahtlos und ohne zwischenzeitliche Unterbrechung.

Was die materiellen Gegenstände angeht, hab ich es mit diesem Umzug also nun wirklich dahin gebracht, praktisch jedes Ding zu kennen, das ich besitze – von den Küchenmessern über den Räucherstäbchenhalter bis zum Aktenlocher. Ich könnte also damit beginnen, mir „die letzen Dinge“ zuzulegen: alle diese bisher nur zufällig und ohne besondere Liebe erworbenen oder behaltenen Gegenstände nach und nach durch bewußt gewählte, schöne Dinge ersetzen, zu jedem eine eigene Beziehung aufbauen, Gegenstände mit Gesicht und Geschichte! Anderen ist das in die Wiege gelegt – sollte es mir JETZT noch gelingen, die Liebe zur materiellen Ebene zu entwickeln? Spät ist besser als nie, sag ich mir.

Schön, sinnlich, farbig?

Morgen in einer Woche werde ich also am Rudolfplatz aufgebaut haben, werde angeschlossen sein (toi toi toi!) und aus dem Fenster in die Weite sehen: über den Platz mit Kirche, Schule und Kinderspielplatz, über den Grüngürtel bis hinüber zu den S-Bahn-Geleisen. Seit vorgestern hab‘ ich den Mietvertrag, ich kann’s noch kaum glauben! Es sind 72 Quadratmeter, zwei große, ineinander übergehende Altbauzimmer, eins mit Balkon, das andere mit großem Erker. Renovieren muss ich nicht, alles ist ok, Rauhfaser weiß, abgezogene Dielen, nichts irgendwie schmuddlig, aber auch nicht so gesichtslos „topmodernisiert“ wie in der Wohnung, die ich verlasse.

Wird das jetzt der letzte Umzug oder geht’s in zwei Jahren wieder weiter??? Die Miete immerhin ist bis ins Jahr 2013 im Mietvertrag festgelegt. Und die Wohnung ist recht genau meine Wunschwohnung: ähnlich viel Platz wie jetzt, sogar mehr, denn ich hab wieder zwei Zimmer. Weitblick nach allen Seiten, Balkon, im dritten Stock und also auch richtig hell. Drei Minuten zur U- und S-Bahn, 15 Minuten ins Fitness-Center, nicht viel länger zum anderen Ufer der Spree in den Treptower Park – und direkt daneben ein interessantes Geschäftsviertel, die * Oberbaum-City.

Wünsche? Ich möchte die Wohnung gemütlich haben, es soll schön sein, sinnlich, farbig. Das ist ein neues Bedürfnis, eine neueAufgabe: bisher waren meine Umgebungen immer sachlich-funktional (im besten Fall!), ja kühl.. Ich bin gespannt, ob sich da etwas verändert, bzw. verändert hat. Keinesfalls will ich auf die Schnelle irgend etwas kaufen oder gestalten, nur damit es nicht leer ist! Eigentlich gefallen mir ziemlich leere Wohnungen sogar am besten.

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