Thema: Alltag

Claudia am 16. Oktober 2003 — Kommentare deaktiviert für Der Neue

Der Neue

Gestern ist er angekommen. Schwitzend wuchtete der Postbote die beiden Pakete zu mir in den dritten Stock. Ich kritzelte meinen Namen auf das rutschige Display, das er mir hinhielt, und schon war ich allein mit ihm: ein Dell Dimension 8300 Premium Class-PC mit 1024 MB RAM Arbeitsspeicher und zwei 128 Gigabyte-Festplatten. Ein Quantensprung! Mein letzter Rechner, auf dem ich diesen Text noch immer tippe, ist schon über vier Jahre alt, begnügt sich mit Windows 98 (zu alt für die meisten Viren) und zwei 18-GB-Platten. Er stürzt gelegentlich ab, tut aber ansonsten seinen Dienst klaglos. Vor ihm hatte ich mir jeweils alle zweieinhalb Jahre die „Next Generation“ zugelegt, doch für die Arbeit für und übers Netz reicht der Jetzige völlig aus, ich spürte keinen „Upgrade-Bedarf“: weder spiele ich grafikintensiven Spiele, noch schneide ich Filme, ich gucke keine DVDs, und auch für die Bildbearbeitung tut’s ein Pentium 3 gut. Bilder fürs Web können nun mal keine Daten-Monster sein, sonst würden sie nicht durch die Leitung passen.

Trotzdem, die Zeit war reif! Schon lange hatte ich keine Lust mehr, neue Programme auszuprobieren oder Dinge, mit denen ich früher mal spielte, wie z.B. Soundbearbeitung, wieder ins Laufen zu bringen. Never touch a running system! Die Bilder, die meine neue Digicam mit den 5 Mio Pixel macht, kann ich ohne Wartezeiten nicht bearbeiten, zudem steht zu befürchten, dass zeitgemäße Programme Windows 98 bald nicht mehr unterstützen. Aber das wichtigste: Computertechnisch zu veralten bedeutet auch, sich vom Mainstream der Anwender abzukoppeln: nicht mehr zu erleben, was sie erleben, und sei es die neueste trickreiche Attacke irgendwelcher bösen Würmer. Wenn ich ein Uralt-System fahre, kann ich irgendwann meinen Kunden keinen Rat mehr geben, weil ich keinen Schimmer habe, was auf ihrem System abläuft. Es gibt viele Gründe für einen zeitgemäßen PC, Gründe, die ich allerdings nicht mal abwägen musste, denn „der Neue“ ist ein Geschenk: Lob und Dank dem großzügigen Spender, der damit meine Kreativ-Arbeit unterstützen will!.

Nun steht er also da, noch immer unausgepackt. Die Größe der Aufgabe schreckt mich erstmal: ein unbekanntes Betriebssystem, das schon „sehr anders“ sein soll, wie eine Kollegin sagte, das Installieren der Programme, ohne die ich nicht arbeiten kann, das Umschaufeln der Daten, das „Reparieren“ von XP, das erst mal eine Reihe mittlerweile erschienener Sicherheits-Patches von Microsoft braucht, bevor man sich damit ins Netz wagen kann; das Einrichten der Norten Internet Security-Tools – jede Menge Arbeit! Und allerlei Gefahren: Noch unwissend und unkundig im Umgang, muss ich mit diesem System mitten in den Krieg der Viren-Programmierer gegen die Anti-Viren-Programm-Entwickler treten. Bisher lebte meine alte Gurke ohne Schutzprogramme, Böses kam nur über Anhänge von E-Mails herein, und nicht „irgendwie“ über die Leitung. Da ich kein Microsoft-Mailprogramm benutze, war ich weitgehend geschützt, wenn ich diese Anhänge nur einfach ignorierte, bzw. die Mails löschte. Ein einziges mal hatte ich versehentlich auf einen Virus geklickt, merkliche Probleme gab das aber erst in dem Moment, als ich ein Virenschutzprogramm installiert hatte und den Feind loswerden wollte. Aufgrund dieser Erfahrung hatte ich es dann wieder deinstalliert: Wenn der Virus den Feind nicht sichtet, schloss ich, hat er keinen Grund, aktiv zu werden. Ich verweigerte mich den Fronten und lebte friedlich und ungestört.

Gott sieht’s

Damit ist es jetzt zu Ende. Mit XP kann man sich ohne hochgefahrene Schutzschilde gar nicht erst ins Netz wagen, sagen mir kundige User, man wäre sofort „verwurmt“. Zu Ende auch die Zeit, in der mich das Betriebssystem FRAGT, ob es ein Problem an Microsoft melden soll – XP fragt nicht mehr, sondern steht in fortlaufendem Kontakt mit dem Imperium. Mehr noch: es bedeutet die technische Ermöglichung totaler Überwachung, denn XP sendet immer wieder eine Identifikationsnummer übers Netz, die meinen Computer kenntlich macht. Was immer ich tue, Microsoft weiß, WER es war. Wenn man dazu noch bedenkt, dass Google die Suchvorgänge aller Nutzer open end speichert, mit IP-Nummer natürlich, so dass zumindest die Telekom nachvollziehen könnte, was ich wann gesucht habe, kommt man sich schon ziemlich beobachtet vor: von Giganten umstellt, die mich bald besser kennen können als ich mich selbst.

Aber ich tue ja nichts, was ich zu verbergen hätte! Der Gedanke liegt nahe, tröstet mich bisher auch ganz gut über die ganze Problematik hinweg, doch ich ahne, dass das nicht ausreicht. Kann nicht morgen schon die Gesellschaft sich so verändern, dass das, was ich bereits getan habe, in den Bereich des Illegalen oder zumindest Unerwünschten fällt? Ist nicht schon bald zu erwarten, dass die Daten, die ich vom alten auf den neuen PC mitnehme, mal eben von irgendwem durchgecheckt werden, ob nicht irgendwelche Copyright-Verletzungen vorliegen? Wobei das Copyright ja immer restriktiver wird: bald sind alle Dateien verdächtig, die alt genug sind, um noch keine Informationen über Nutzungsrechte zu enthalten.

Alles in allem bedeutet der Umstieg auf „den Neuen“ tatsächlich in vieler Hinsicht einen Quantensprung, und zwar einen, der nicht nur Freude macht. Ich werde wieder neu lernen müssen, wie ich das System bändige und zur Not austrickse, um mir ein Minimum an persönlicher Autonomie zu retten. Vielleicht installiere ich auf einer zweiten Partition Linux, damit ich das Netz noch betreten kann, ohne dass alles, was ich installiert habe, anfängt, „nach Hause zu telefonieren“.

Think positiv! Der Neue hat einen Pentium 4 2.80 GHz-Prozessor und 1024 MB Arbeitsspeicher: ich werde riesige Bilddateien bearbeiten können, als wären es kleine Webbildchen! Meine gelegentlich entstehenden Bildkompositionen werden dadurch in hoher Auflösung druckbar und verkäuflich – bald gibt’s hier vielleicht die „Serie Friedrichshain“, ausgedruckt auf Din-A3-Fotopapier, verpackt und zugesendet in den bekannten Papprollen. Könnte ein netter kleiner Nebenerwerb werden und mich motivieren, öfter in die Welt der Bilder einzusteigen.

Morgen werde ich den Neuen auspacken und die Sache in Angriff nehmen. Da ich mir keine Ausfallzeiten leisten kann, muss der alte PC bleiben, und zwar in voll funktionsfähigem Zustand. Bisher hab‘ ich mich immer von der Vergangenheit getrennt, den Alten verschenkt, auch damit ist es vorbei. Genau wie Microsoft mich über XP „am Halsband hält“ und Google und Telekom meine Netzbewegungen erforschbar machen, so hängt auch die neue Hardware am Service von Dell. Vier Jahre Vor-Ort-Service am nächsten Arbeitstag – hört sich gut an, aber bisher war ich gewohnt, meinen Rechner morgens in den Laden zu bringen und ihn abends repariert wieder abzuholen. Und eine „Pflicht zur Mitwirkung bei der telefonischen Fehlerdiagnose“ hatte ich auch noch nicht. Das wird jetzt alles aufwändiger, langwieriger, trotz Vor-Ort-Service. Also muss „der Alte“ bleiben, mein Gerätepark wächst.

Er steht jetzt vor der Tür, immer noch verpackt. Ich genieße die letzten Stunden ohne neue Probleme und Möglichkeiten – und klopfe auf Holz!

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Claudia am 04. Mai 2003 — Kommentare deaktiviert für Bilder der Liebe

Bilder der Liebe

Auf dem Flohmarkt, sonntags, Boxhagener Platz. Kein Antik- oder Kunstmarkt, sondern einer von der ursprünglichen Art, auf dem die Leute alles verkaufen, was sie nicht mehr brauchen – und das, was sich dann so ansammelt, wenn sie das Verkaufen weiter betreiben wollen. Da meine Wände noch immer recht kahl sind, halte ich Ausschau nach Bildern. Unwichtig ob Kunstdrucke, Poster, ÖÖlgemälde, vergrößerte Fotos, zusammengeklebte Collagen oder ausgedruckte Digitalwerke, unwichtig auch, wer wo und wann das Bild geschaffen, abgekupfert, geklaut oder variiert hat. Ich durchwandere den Markt im Uhrzeigersinn und scanne die Stände, die Tapeziertische und die Decken auf dem Boden systematisch nach Content. Inhalt für die bisher weißen Wände, auf die ich täglich mehrmals schaue.

Keine bestimmten Vorstellungen helfen mir beim Suchen. Ich weiß nicht, ob ich ein Abbild der Natur, etwas ganz Abstraktes, eine Stadtansicht, womöglich gar Bilder vom Menschen suche. Nur weiß ich recht schnell, wenn ich ein Bild sehe: DAS will ich NICHT!

So geh‘ ich von Stand zu Stand und erlebe jede Menge „Das nicht!“-Resonanz. Natürlich frag ich mich schon bald, was eigentlich nicht passt, warum mir einfach keines der vielen Fotos, Poster, Drucke und Gemälde gefallen will. Auch solche nicht, die weder stümperhaft noch uninteressant, ja, vielleicht „richtig gute Kunst“ sind. Aber: will ich da täglich drauf schauen? Die innere Probe auf den Ernstfall übersteht bisher keines. Es ist eine ganz andere Situation, als wenn man einfach nur so „Bilder kaufen“ wollte, in einer Hobby-artigen Sammlerhaltung, die bestimmte Vorlieben pflegt und das Beutegut zuhause in Rollen stapelt.

Nein, ich will Bilder für mich, Bilder zum selber ansehen, nicht zum zeigen. Und was ich ständig sehe, beeinflusst mein Sein, malt die Farbe an die Wände meiner Existenz, beeinflusst meine Stimmungen und Gefühle. Es muntert mich auf oder zieht mich herunter, lenkt ab oder unterstützt die Konzentration, stärkt den Willen oder unterminiert ihn.

Ich tue gut daran, sorgfältig zu wählen. Das bedeutet nicht, zu mir selbst in eine therapeutische Haltung zu treten und mir gewisse Bilder zu „verschreiben“. Sondern nur, auf die Regungen zu achten, die der Anblick in mir hervor ruft und zu fragen: will ich DAS? Will ich das jeden Tag, im Fall der weißen Wand gegenüber meinem Arbeitsplatz gar alle paar Sekunden?

Die besten Bilder auf dem Flohmarkt dieses Sonntags hat einer, der polnische Plakatkunst verkauft. Wow, dagegen können unsere gängigen Veranstaltungsplakate einpacken! Ein ganzer Stapel großer Poster wird vor mir auf- und umgeblättert: Plakate zu Opern, Theaterstücken, Lesungen, politischen Veranstaltungen, Symposien und Ausstellungen – und jedes ein echtes Kunstwerk! Es ist mühsam, so einen Stapel großformatiger Bilder, es sind gewiss über 150, eins ums andere zu zeigen und umgedreht abzulegen. Auch deshalb bin ich ausgesprochen kaufbereit, sollte eines darunter sein, dass mich „anspricht“.

Das Schreien der Bilder

Die Bilder sprechen mich tatsächlich fast alle an. Allerdings nicht so, wie ich minütlich von der Wand gegenüber angesprochen werden will, muss ich mit Bedauern feststellen. Die allermeisten dieser wunderbaren Werke der grafischen Kunst stellen in Frage, klagen an, verunsichern oder machen Angst, vermitteln das Gefühl von Ohnmacht und Wut, stimmen aggressiv oder verzweifelt, erheben Forderungen oder machen sich abgründig über etwas lustig. Manche spielen mit dem Ekel, andere mit Gewalt, manche auf verstören-wollende Art mit Sex, wieder andere bleiben so cool, dass man die Wand gleich weiß lassen könnte – oder schwarz.

Ich kaufe schließlich eines, das mir besonders ausdrucksstark erscheint, wohl wissend, dass ich es vermutlich nicht aufhängen werde. Ein schwarzer Vogel im Flug, gemalte Silouette – in ihn hinein rast ein roter Vogel mit riesigem Schnabel und durchdringendem Blick, der das Zentrum des Bildes darstellt. Es macht agressiv, keine Frage. Und damit ist es ein Fehlkauf, einzig dem Verkäufer zuliebe geschehen.

Mit meiner Rolle unterm Arm mach‘ ich mich auf den Heimweg. Immerhin weiß ich jetzt, was ich suchte und nicht fand: Bilder, die etwas feiern und heiligen, nicht angreifen oder in Frage stellen. Bilder der Freude und Dankbarkeit, Bilder des Staunens und Bewunderns – Bilder der Liebe, kurz gesagt.

Gibt es solche Bilder? Ganz bestimmt gibt es sie, der Fundus der Bilder der Menschheit ist riesig. Ich erinnere mich spontan an einige Nähnadeln im Heuhaufen, die mir schon begegnet sind, Landschaften, Frauen, Paare in tantrischer Vereinigung, Götterbilder, erotische Szenen, die über das Erotische hinaus in eine andere Dimension weisen, auch abstrakte Kompositionen mit intensivem Gefühlswert. Es gibt sie im Fundus käuflicher Bilder, wenn man Titel und Autor kennt, doch sicher auch „ohne Titel“ auf vielen Festplatten und in Schubladen, wo alles verbleibt, bzw. verschwindet, von dem man vermutet, es sei unverwertbar. Oder mit dem man sich nicht an die ÖÖffentlichkeit wagt, warum auch immer.

Der Geist, der stets verneint

Ich verstehe, warum es so wenige solcher „Bilder der Liebe“ gibt. Zum einen stehen mir gewisse „spirituelle Kompositionen“ aus dem Eso-Markt vor Augen, die zeigen, wie schnell etwas, das mit aller Kraft harmonisch, schön und auf jeden Fall „positiv“ sein will, zum Kitsch gerät. Und mir fällt die Werbung ein. Dort gibt es eigentlich alles, was fehlt – nur dass es eben nicht um das Gute, Schöne und Wahre, sondern um die Güte und Schönheit der Ware geht. Nicht um Liebe, sondern ums Haben- und Jemand-Sein-wollen.

Es ist kaum möglich, den kritischen Geist mit all seiner Zersetzungskraft einfach zu überspringen und zu naiven Darstellungen aus voraufgeklärten Zeiten zurück zu kehren. Die dunklen Seiten der Welt können und sollen nicht geleugnet werden, doch kann ein „anprangern“ oder beweinen nicht einziger Inhalt eines „Bildes der Liebe“ sein. Noch viel weniger das „reine Spiel mit der Wahrnehmung“, das in der Kunst den Inhalt zeitweise abgelöst hat.

Ich hoffe trotzdem, auf meiner Suche nach dem Content für die blanken Wände noch fündig zu werden, hab‘ ja auch noch kaum geforscht. Wer mir Tipps geben will oder Bilder zeigen, ist herzlich eingeladen, ins Forum zu posten oder zu mailen.

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Claudia am 26. Februar 2003 — Kommentare deaktiviert für Nach dem GAU

Nach dem GAU

Wer glaubt, ich sei vom Erdboden verschwunden, weil mir allzu langes Fasten nicht bekommen wäre, irrt: der gemeine Computer-Gau hat mich ereilt, und zwar am Dienstag, den 18.Februar. Ich schaltete morgens wie immer das Gerät an, nichts Böses vermutend, denn am Vorabend war ja noch alles ok gewesen. Doch ein längerer Blick auf den schwarzen Screen bringt das kalte Grausen: Schutzverletzung!!! Starten im „abgesicherten Modus“ wird empfohlen, und noch während ich überlegte, ob ich das Angebot annehmen soll, versuchte Windows, sich zu laden und brach erneut ab: Schutzverletzung am Modul GDI.EXE. Starten Sie neu!

Tja, der PC ließ sich aber gar nicht normal ausschalten, ich musste ihm echt den Strom abwürgen, um es aufs Neue zu versuchen. Wieder und wieder schaltete ich ihn ein, und ebenso gleichmäßig landete ich in derselben Katastrophe. Nur die Adressen der Schutzverletzungen, die angeblich irgendwie kaputten Dateien und Module, änderten sich ständig. Sah gar nicht gut aus!

Ich rief einen lieben Freund zu Hilfe, ein ausgesprochen kundiger Windows-Experte mit viel Erfahrung in Anwenderschulung, Diagnose und Betreuung ganzer Netzwerke. Zwar stand er gerade selber im Stress und musste EIGENTLICH einen eng terminierten Textauftrag abarbeiten, kam aber zu meiner großen Erleichterung trotzdem nachmittags vorbei, startete den PC, landete bei der Schutzverletzung, wählte „schrittweise Eingabe“ und erlebte selber, wie Windows sich beim Starten immer wieder aufhängte. Mehr noch: Er fand per DOS-Befehl (=alter Betriebssystemkern aus der Vor-Windows-Zeit) auch eine Festplatte mehr als vorher, es gab jetzt C, D UND F!

Aha! Mir war jetzt klar, dass es nicht nur um eine kurze, mit ein paar Mausklicks behebbare Störung ging, sondern um eine großkalibrige Nerverei. die sich zu Stunden und Tagen dehnen würde: in den Monitor starren, immer wieder „etwas Neues probieren“, mit CDs und Disketten herumfuhrwerken – natürlich ohne Netzanschluß, also darauf angewiesen, alles Nötige physisch am Ort zu haben: die Mega-Katastrophe!

Andrerseits: D. war wieder mal da und wir hatten uns viel zu erzählen. Als erstes berichtete er mir, dass er nur dann Zeit habe, diesen Schlamassel zu bereinigen, wenn ich dafür Teile seiner Text-Arbeit übernähme. Aber sicher doch, mal was anderes! Schließlich sollte er wegen mir keine Einkommensverluste erleiden, wenn er schon so lieb war, mein renitentes Gerät wieder befrieden zu wollen. Also textete ich in den nächsten drei Tagen unterhaltsame Quizfragen zum Thema „Männer & Frauen“, und zwar nicht mit Winword, sondern ich schrieb sie mit der Hand auf Papier. Eine echte Erholung vom Alltag, geistig und körperlich! Wen hat der Märchenprinz denn nun wach geküsst? Dornröschen, Rotkäppchen oder Rumpelstilzchen??? Wie entfernen sich die meisten Frauen überflüssige Haare? Wann gilt eine Ehe als zerrüttet? Was war das „Kranzgeld“ und das „Jus primae noctis?“ Und was trug SIE in den 50ern so Auffälliges unterm Rock? Das sind doch mal lebensnahe Fragen, ich hatte richtig Spaß dabei, außerdem musste ich nicht dauernd aufrecht vor einem Monitor sitzen – wie angenehm.

Starten Sie neu!

Drei Tage gingen ins Land und immer werkte D. einige Stunden am Gerät: prüfte und analysierte, scannte und kopierte, vereinigte die softwäremäßig zu mehreren Partitionen zerhackte Festplatte C: wieder zu einer einzigen Platte, rettete meine dort befindlichen Daten, deren Sicherung auf D: leider nicht mehr ganz frisch war; sicherte auch mein Mailprogramm mit sämtlichen Kundenkontakten der letzten Jahre, und mühte sich schließlich redlich, Windows neu zu installieren – leider nur mit geringem Erfolg. Am Abend des zweiten Tages war ich schon alleine geblieben, um den Rest noch selber drauf zu spielen, als der Bildschirm schon nach der zweiten Installation einfror, ohne dass ich irgend etwas „Schlimmes“ getan hätte. Ich startete neu, kam aber nicht mehr weit: „SCHUTZVERLETZUNG am Modul User.exe, starten Sie neu!“.

Aha. Ich vermutete jetzt einen Hardwarefehler. Glücklicherweise war diesmal die Festplatte nicht wieder zerlegt, doch gelang es nun auch meinem unermüdlichen Helfer nicht mehr, Windows zu installieren. Es wollte einfach nicht. Also noch mal ein Virensuchprogramm über die Platten gucken lassen, ob sich vielleicht im Boot-Sektor der Teufel selber verbirgt: kryptische Fehlermeldungen, Speicherprobleme – ich war ja schon zufrieden, dass meine Daten sicher auf D: lagen und schlug nun vor, das Teil jetzt im Laden abzugeben, wo die Hardwarebastler ihre Künste üben. Wenn mal so was ist, gehe ich immer schon zu *INDAT: morgens bringen, abends holen, manchmal geht’s sogar noch viel schneller.

Diesmal war es allerdings Freitagabend – ich könne ihn Samstag ja gern vorbei bringen, meinte der freundliche Servicemensch. aber da würden sie höchstens noch mal von außen drauf gucken, weil Samstags kein Techniker da sei. Es wurde also Montag, meine PC-freie Zeit begann, sich wie ein richtiger Urlaub anzufühlen, ich verzichtete sogar eineinhalb Tage auf den Besuch im Internet-Café, um in die Mailboxen zu sehen. Die drei Kunden, die aktuell etwas von mir wollen, hatten mir gottlob ihr Mitgefühl signalisiert und nicht etwa Stress gemacht – eigentlich war der Ausnahmezustand, in den mich dieser GAU versetzt hatte, gar nicht mal so schlecht.

Montag hatte ich ihn wieder – und mittlerweile verspürte ich sogar wieder LUST auf PC! Ich las freiwillig die letzten drei Nummern Internet World, was ich die letzen Monate kaum mehr getan hatte, amüsierte mich köstlich mit dem Buch von Thomas Wirth „Über gutes Webdesign“, ja, ich freute mich auf ein frisch aufgebautes und aufgeräumtes Equipment, von dem aller Ballast und aller überflüssiger Datenmüll verschwunden sein würde. Tatsache ist, ohne IHN bin ich unvollständig und regelrecht behindert. Wichtige Teile meines Gedächtnisses, und zwar die, die mir das Überleben in dieser Gesellschaft halbwegs angenehm ermöglichen, befinden sich auf Festplatte und nicht etwa in der Wetware meiner Gehirnwindungen. Was meine Kontakte zu Mitmenschen angeht, so falle ich erst mal voll aus dem eigenen Netz, wenn ich vom Internet-Zugang abgeschnitten bin – wer ist heut schon noch mit seinen physischen Nachbarn befreundet! Und arbeitslos bin ich ohne Gerät sowieso, das Schreiben mit der Hand ist ja nicht wirklich eine konkurrenz-fähige Lösung.

All das nahm ich in dieser guten Woche Zwangsurlaub wahr, ohne es positiv oder negativ einzustufen. Bereit, den Ausnahmezustand zu genießen, ging ich in das nette, aber meistens leere Lokal gegenüber und ließ mir vom Macher seine Geschichte erzählen. Es gibt da Pasta und Suppen, Frühstück und Kuchen, Wein und klassische Musik – auf allen Tischen brennen Teelichte, es ist hell und freundlich und die Preise sind beeindruckend niedrig. Ich traute mich in den leeren Raum, denn ich hatte ja mit Peter schon eine Mail über *seine Website gewechselt, bestellte Pasta mit Pesto (3,60) und freute mich, dass sich nun auch andere herein wagten. „So voll ist es sonst nie“, meinte der Gastgeber. Ich wünsche ihm, dass sich das ändert, jedenfalls werd ich die Suppen alle mal probieren.
Aufhellungen

Und noch etwas ist mir aufgefallen: morgens im Treptower Hafen, an der Anlegestelle der weißen Flotte, gibt es ein Stück vermauertes Ufer, wo oft Eltern mit Kindern die Schwäne und Möwen füttern. Auch jetzt war da ein Vater mit einem kleinen Kind, sie packten einen Sack mit gesammelten Brotkrumen und Toast aus und warfen die Stückchen in die Luft und ins Wasser. Ich liebe es, diesem hektischen Treiben zuzusehen, die eher schwerfälligen Schwäne haben Mühe, überhaupt etwas abzubekommen, denn sie sind umgeben von schwarzen Teichhühnern, die ihnen alles wegschnappen und dazu schnalzende Laute ausstoßen. In der Luft wirbeln unzählige Möwen herum, richtige Ellenbogennaturen, die einander noch den letzten Fetzen abjagen, wenn sie können. Sie sind hübsch, aber irgendwie ausdruckslos und deshalb ein wenig gespenstisch. An diesem Morgen nun fielen mir die Stockenten auf, ganz gewöhnliche Stockenten, nur schillerten ihre Köpfe in der Morgensonne in einem nie zuvor gesehenen grellgrünen Neonschein, so dass ich sie nur anstaunen konnte. Es war mir bisher nie aufgefallen, obwohl ich die Enten oft sehe – aber eben nicht in der Morgensonne!

Der Morgen war eher nicht die Zeit der gemeinsamen Spaziergänge mit Manfred, doch jetzt lebe ich allein, war sogar ohne PC, warum also nicht? „Alles verändert sich, wenn du dich veränderst!“, sangen einst Ton, Steine, Scherben – auch die Stockenten, wie man sieht, mit denen es übrigens noch nicht vorbei ist. Nur wahre Dichterinnen und Dichter halten sich an einem besonderen Grün lange fest, und ich gehöre eher nicht zu ihnen. Vater und Tochter hatten mittlerweile ihr Brot weitgehend verteilt, ich trat den Rückweg an, war schon ein paar Meter gegangen, da sah ich die Stockenten im Sonnenlicht VIOLETT schimmern. Verdammt, dachte ich mir, wo sind denn jetzt die grünen hin? Ich blieb stehen und checkte sie alle durch: ihre Köpfe leuchteten eindeutig violett, nicht ein einziger noch grün. Ich ging zurück – und das Rätsel klärte sich auf: unter direktem Sonnelicht schimmern sie grün, auf der verschatteten Seite glänzen sie violett. Und das Ganze changiert ins farblos dunkle, leuchtet also nur sporadisch auf.

Das Wunder sind nicht eigentlich die Stockenten. Sondern dass ich echt 48 Jahre alt werden muss, um zu bemerken, wie sie aussehen. Offensichtlich hab‘ ich nie zuvor hingesehen, es gab immer WICHTIGERES. Meine Vorhaben zum Beispiel, meine Probleme und Befürchtungen, meine Wünsche und Träume – so langsam lichtet sich dieser öde Dschungel ein wenig und ich bin gespannt, was noch alles in Sicht kommt.

Ach ja, fast hätte ich’s vergessen: INDAT hat die Speichermodule gewechselt und das Netzteil. 129 Euro und die Kiste lief wieder. Im Prinzip – Aufbau und Neuinstallation aller Geräte und Programme hat noch bis heute gedauert. Und ab morgen mach ich eine VIEL bessere Datensicherung, ganz bestimmt!

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Claudia am 05. Januar 2003 — 1 Kommentar

Beobachtung: der hundertprozentige Flop

Gestern war ich auf der Post, ein Paket aufgeben. Die Filiale ist in einer überdachten Passage, Läden, Restaurants und ein Hotel bilden eines dieser recht auswechselbaren „Essembles“, in denen man heute Stadt erleben soll. In der Mitte des Platzes, um den sich alles ordnet, führt eine Treppe ins Untergeschoß, vermutlich zu den Tiefgaragen. Mensche liefen eilig hin und her – und auf einmal sah ich mehrere große Kuverts auf den Boden fallen. Die Passanten gingen einfach weiter, niemand schien es zu bemerken. „Hallo“, rief ich laut einer Frau hinterher, die gerade auf die Treppe zusteuerte, „haben Sie diese Umschläge verloren?“ Mir schien, sie war die nächste, die dafür in Frage kam. Die Frau schaute mich ganz kurz an, dann guckte sie auf den Boden und ging weiter – wie ein Roboter! Ich dachte mir noch nichts weiter, sondern rief noch einmal lauter und bestimmter, denn offensichtlich hatte sie nicht gemerkt, dass sie GEMEINT war. Noch einmal ein irritierter Blick, ganz so, als hätte sie etwas Schlimmes verbrochen, sie errötete heftig, senkte wieder den Kopf, beschleunigte die Schritte und verschwand im Untergeschoß.

Ich war perplex! Wieder einmal hatte ich erlebt, was mich jedes Mal ein bißchen verstört: Jemanden spontan ANGESPROCHEN, und derjenige schafft es nicht, darauf in einer „normalen“ Art und Weise zu reagieren. Sie hätte doch bloß den Kopf schütteln brauchen! Vielleicht mit einem Anflug von Lächeln, aber darauf will ich ja gar nicht bestehen. Dass die Menschen notorisch schlecht gelaunt mit Leidensmienen durchs Leben gehen, wundert mich nicht mehr, es gehört hierzulande einfach zum guten bzw. schlechten Ton. (=Alles Leben ist Leiden, und wer lächelt und zum Anderen freundlich ist, ist gewiss ein Heuchler oder nicht ausreichend informiert.) Nein, das meine ich jetzt nicht, sondern diese echten Ausraster, die mir das Gefühl geben, da drüben sei eigentlich gar kein Mensch, sondern etwas irgendwie Grusliges.

Schwitzen, aber schweigen

Ich erinnere mich mit Schrecken an den Wintertag, an dem ich in einen U-Bahn-Wagen einstieg, aus dem mir so extreme Hitze entgegen schlug, dass ich fast rückwärts wieder rausgesprungen wäre. Statt dessen sagte ich laut zu den vielen Menschen, die vor mir dicht an dicht in den Gängen standen, der nächste nur eine halbe Armlänge von mir weg: „Himmel, ist das heiß hier! Ist die Heizung kaputt?“. Einige schauten kurz in meine Richtung und dann zu Boden, es blieb still. Noch einmal legte ich nach, fragte: „Was ist los, merkt Ihr denn nichts ??“ – ein bißchen lauter und erstaunter jetzt, schließlich war ich von den vielleicht 40 Grad Raumtemperatur einigermaßen irritiert. Aber wieder keine Reaktion, sie standen wie eine Wand aus Schweigen und einigen war für Augenblicke anzusehen, dass es sie verstörte, sie irgendwie „betreten“ machte, als hätten sie Grund zur Angst oder würden sich schämen. Dann erstarrten die Gesichter wieder, jeder schaute am anderen vorbei, irgendwo in die Ferne oder an eine Wand.

Ja, was haben die denn alle, um Himmels willen??? Sie reagieren wie das Publikum im Theater, wenn die Schauspieler versuchen, ohne Vorwarnung jemanden in die Handlung einzubeziehen. Oder wie Gäste auf einer Party, wenn ein Spiel beginnt, zu dem JEDER etwas beitragen muss. Manche wirken so verstört, als wären sie eben noch gemütlich im Kino gesessen und hätten erst beim Blick in die Mündung einer Pistole plötzlich begriffen: DIES IST WIRKLICHKEIT!

Eine Art Stupor ist das. Kein irgendwie geartetes Fehlverhalten, sondern der AUSFALL von Verhalten überhaupt – und dann die Gefühle, die dem folgen: Scham, Angst, peinlich-berührt-sein, und schließlich das „militante“ Wegsehen. Man möchte vergessen, dass „so etwas“ jemals passiert ist, wünscht sich weit weg, an einen neuen Anfang, mindestens.

Und selbst genauso…

Oh ja, ich hab es auch an mir selber schon erlebt, zumindest ganz ähnlich: spät Abends am Boxhagener Platz, ich laufe den breiten Gehweg entlang zwischen dem Gebüsch, das den Innenraum des Platzes begrenzt und der Baumreihe zur Straße hin. Es ist menschenleer, mir entgegen kommt ein Mann mit einer Bierflasche in der Hand. Wird er mich anpöbeln? Mir die Handtasche abnehmen? Mich anbetteln und vollabern? Es ist so düster, ich gehe schnellen Schrittes auf ihn zu – und als er dann vor mir stehen bleibt und den Mund aufmacht, hebe ich schon die Hand zu einer abwehrenden Bewegung, schüttle den Kopf, will ihn einfach nur aus der Welt haben, ganz egal, wer er ist und was er will. Er sagt seinen Spruch auf, eher schüchtern, will mich um einen Euro anschnorren mit einer wenig originellen Geschichte – doch ich sage nichts, reagiere nicht, gehe einfach weiter, bin irgendwie peinlich berührt, weil ich spüre, dass mein Verhalten verrückter ist als seines. Ein sozialer Flop, aber volle Kanne!

Programm „Sozialverhalten“ abgestürzt

Gemeinsam ist diesen Erlebnissen neben dem menschlichen Versagen in einer konkreten Situation das Unvermögen, bzw. der Unwille, daran noch irgend etwas zu ändern, es sozusagen zu „heilen“. Man könnte sich ja entspannen und – aus dem Stupor bzw. der Verweigerung erwachend – ein normaleres Verhalten anknüpfen, etwas Verbindliches sagen, lächeln, einen Witz machen, winken – was auch immer. Aber genau DAS geschieht nicht, und das ist das eigentlich gruslige: Wir gehen hier nicht menschlich mit anderen Menschen um, indem wir ihnen als Person begegnen und die Folgen unserer Handlungen oder Nichthandlungen verantwortlich auf uns nehmen – sondern wir handeln, als wären wir Teil eines Programms: einmal „abgestürzt“, gibt es kein Weiterkommen mehr, allein ein Neustart hilft. Wenn die Gesichter in Ignoranz erstarren, ist das die innere „Cancel-Taste“ bzw. der Blue Screen: Mit DEM bzw. in DIESER Situation hab ich’s verpatzt, Mist – die nächste bitte!

Sich wegzappen aus einer Situation – das ist es, was hier versucht wird. Der Andere, an den man aneckt, bzw. der einem auf irgend eine unberechenbare Weise plötzlich nahe tritt, wird als Gegenüber negiert. Warum?

Nicht aus Feindseligkeit, vermute ich, sondern aus Erschrecken darüber, dass im jeweiligen Augenblick der innere Film ganz plötzlich unterbrochen wird, das übliche Vor-sich-hingrübeln, wünschen, lästern, planen, urteilen, interpretieren, fürchten und begehren. Ihhhh, da ist ja noch eine Welt „da draußen“, oh Gott, die will ja was von mir – nix wie weg hier!

Es geschieht einfach so, ist nicht etwa böse Absicht. Und deshalb auch nicht durch gute Vorsätze zu ändern. (Wie übrigens das meiste Versagen und sogar die meisten übergriffe auf andere Personen!) Ich beschreibe diese verstörenden Verhaltensausfälle denn auch nicht in der Hoffnung, die eigene Moral zu bessern oder bei anderen ein schlechtes Gewissen zu erzeugen – sondern einfach, weil ich diese Erlebnisse bemerkenswert finde. Interessanter jedenfalls als Geschichten von Außerirdischen, die jemanden entführt und untersucht haben sollen – das wär nämlich vergleichsweise menschlich!

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Claudia am 03. Januar 2003 — Kommentare deaktiviert für Gutes Neues!

Gutes Neues!

Ein bißchen spät, der Neujahrseintrag, aber mir war einfach nicht nach Diary in diesen stillen Tagen und Nächten, die so sehr zum nachdenklichen Nichts-Tun einladen. Und Nachdenken ist eigentlich auch schon zu viel gesagt, ich meine so ein inneres Verharren, schlichtes Aussetzen, das bloße Dasein genießen – es war jedenfalls schön!

Anders als in den letzten Jahren kommt jetzt allerdings kein Alltag zurück: mein liebster Freund ist dabei, auszuziehen und ich hole gerade Kostenvoranschläge für meinen Umzug in der letzten Januarwoche ein. (Braucht jemand zwei Bäderliegen? Ein fast unbenutztes Keyboard? Einen Jahrgang Internet World?) Am 15. gibt’s den Mietvertrag und Ende Januar werde ich umgezogen sein. Himmel, was für eine Veränderung! Zwar geht’s nur einen halben Kilometer weiter, über meine geliebte Modersohnbrücke mit dem tollen Weitblick auf die Skyline Berlins hinüber ins Rudolfkiez unterhalb der Oberbaum-City. Da es jedoch meine erste „Single-Wohnung“ seit zwölf Jahren sein wird, ist es doch eine große Umstellung – nicht mal einen Fernseher werde ich zu Anfang haben, mal gucken, vielleicht schaff‘ ich ja gar nicht erst einen an.

Hab ich Vorsätze? Fürs neue Jahr oder überhaupt? Ich wünsche mir, nicht so schnell von neuen Routinen verschluckt zu werden, das ist das einzige. Indem alles Gewohnte und lang Bekannte sich in letzter Zeit von mir verabschiedete, kommt ein anderes Lebensgefühl auf, das – wenn ich mich ihm zuwende – weit wunderbarer ist als alles, was mich „üblicherweise“ durch den Alltag begleitet. Der nächste Tag, die nächste Stunde, der nächste Augenblick kann das „ganz Andere“ bringen – es ist nichts Konkretes, einfach ein Gefühl, das mir sehr gut gefällt – es IST schon das Ganz Andere! Und doch werde ich vermutlich bald bemerken, dass ich wieder eine Reihe „verläßlicher Routinen“ einübe, die mich durch die Tage tragen, weil es einfach bequemer ist, sich nicht ständig mit dem „alles-ist-möglich“ zu konfrontieren. Mal sehen, vielleicht gelingt es ja, den Freiraum der „gefühlten Unsicherheit“ zumindest zu erweitern.

Und die Krise? Das soziale Netz? Der Standort? Ich kann alles in allem einfach nicht begreifen, dass hierzulande bei einem – verglichen mit vielen anderen Weltgegenden – geradezu obszönen Reichtum die Laune derart im Keller ist, und zwar nicht erst seit der „Krise“. Die Weinerlichkeit, das Selbstmitleid, das Gejammere, die ständigen Schuldzuweisungen an Andere, diese Mut- und Ideenlosigkeit – man hat allen Grund, ein Misantrop zu sein! Allerdings: seit kurzem macht es mir keinen Spaß mehr, und da ich bei meinem „Blick auf die Welt“ immer von mir ausgehe, hoffe ich, dass es nicht nur mir so geht. Zeiten der Veränderung sind doch auch sehr spannende Zeiten – und vielleicht ist der Konsumismus ja doch nicht das letzte Wort zur Frage nach dem richtigen Leben gewesen?

Mir scheint, heut‘ will mich die Muse nicht richtig liebevoll küssen, ich wende mich also besser dem zu, was anliegt: Steuer 2001, oh je! Knietief steh ich im Papierkram, noch zwei, drei Stunden vielleicht. Wie ich das hasse und deshalb immer wieder vor mir her schiebe, schrecklich!!!

Ich wünsch Euch ein wunderbares 2003 und freu‘ mich über gelegentliche „Besuche“ an dieser Stelle. Ach ja, ein interessanter Spruch ist mir in einem Mail-Footer begegnet: „flexible Weisheit wird genutzt, unflexible zur Schau gestellt…“ – es lohnt, darüber ein wenig zu meditieren.

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Claudia am 20. Dezember 2002 — Kommentare deaktiviert für Weihnachten IV: Durch die Wüste zu den Sternen

Weihnachten IV: Durch die Wüste zu den Sternen

Draußen dröhnt ein Preßlufthammer. Wieder reissen Arbeiter das Pflaster auf, das gerade mal ein paar Wochen seit der letzten Baustelle hinter sich gebracht hat. Zwar nehme ich den Lärm wahr, wenn ich einen Eindruck meiner Umwelt aufschreiben will, doch im Grunde berührt er mich nicht. Seit der Rückkehr aus Mecklenburg im Mai 2001, dem Land der großen Stille und Weite, ist diese Veränderung erstaunlich stabil: Lärm geht einfach durch mich hindurch, da ist nichts mehr, dass sich dagegen sträubt und sagt: Was für eine rücksichtlose Schweinerei! Wie soll ich da bloß arbeiten?

Die eingetretene Veränderung hab‘ ich nicht „gemacht“, beabsichtigt, gewünscht oder gar herbei geübt. Es war auf einmal so, ohne dass ich es auch nur bemerkte. üblicherweise nimmt das Bewußtsein die Abwesenheit eines Ärgers ja gerade NICHT wahr. Erst duch die Beschwerden meines Lebensgefährten ist mir dann aufgefallen: wo ist eigentlich MEIN „Leiden am Lärm“ hin gekommen?

Und hier ist sie nun, die Wegscheide: Soll ich jetzt etwa danach SUCHEN? Soll ich „in mich gehen“ bis ich das verlorene Leiden wieder finde? Soll ich in die hinterletzten Winkel meiner Psyche schauen, ob nicht vielleicht eine bloße VERDRÄNGUNG vorliegt oder ob ich mir das nur EINBILDE? Ob also mein Eindruck des Nicht-vom-Lärm-Betroffen-Seins vielleicht nur Illusion, Selbstbetrug und Heuchelei ist???

Habe ich nicht die Pflicht zu solcher Suche, wenn mir Wahrheit etwas bedeutet? Jahrzehntelang dachte ich so, suchte also ständig nach Unter- und Hintergründen und fand auch immer genug: unter der Oberfläche des alltäglichen So-Seins (meines, deines, unser aller…) liegt eine unerschöpfliche Mine, man kann bis in alle Ewigkeit Gold und Scheiße finden, alles Gefundene mit Staunen betrachten, es gar ausstellen – und dann?

Wer solche Erkundungen niemals angestellt hat, ist gut beraten, bei der näheren Untersuchung eines Leids nicht nur im Äußeren nach den Ursachen zu forschen, keine Frage! Diese Denkweise kann sich allerdings – auf Dauer gestellt – verselbständigen: das beobachtenden Hinterfragen wird zum Selbstzweck und raubt die Kraft und den Willen zum Handeln in der Welt. Sie wird grau und wüstenhaft, ihre Blumen verdorren, ihre Düfte verschwinden und verlieren alle Lockungen, ihre ureigenen Schönheiten verkommen zu weniger als Nichts, zur bloßen Spiegelung eines Ich, das nichts mehr außer sich selbst für wahr und betrachtenswert hält: verliebt in sein Elend weint Narziss seine Tränen am Rand des Brunnens der Wirklichkeit, spiegelt sich darin und seufzt: All das bin ICH!

Wer zur Welt und zu sich selbst immer schon eine negative Einstellung pflegt, wird kein Problem damit haben, in dieser Lebenshaltung bis zum Ende aller Tage zu verharren. Schließlich ist die Welt voller Schrecken und Ungerechtigkeit, ist Fressen und Gefressen werden, ist Kampfzone, vor der uns auch der Sozialstaat nicht mehr wirklich retten kann, wie wir derzeit zur Kenntnis nehmen müssen. Was stünde dem Geistesmenschen besser an als ein Leben im Modus der Klage und Anklage?

Hier müssen wir jeder für sich die je eigene Antwort finden und entscheiden, ob wir unser Glück oder unser Elend schmieden wollen – und damit letztlich auch das „der Welt“. Persönlich ziehe ich das Erstere vor, denn ich habe etwas bemerkt, das ich nicht mehr ignorieren kann: Ich FINDE de Wahrheit nicht nur vor, ich SCHAFFE sie auch! Je leerer ich bin, desto besser sehe ich: schon die geringste Erwartung eines bestimmten innerpsychischen Fakts kann diesen Fakt von der bisher nur gedachten Möglichkeit in die folgenreiche Wirklichkeit katapultieren. (Ein Phänomen, das nicht nur erkannt werden, sondern – es liegt auf der Hand! – auch ANGEWENDET werden kann.)

Wohlgemerkt, ich sage nicht, dass ich die Wirklichkeit NUR schaffe und dass es gar nichts zu finden gäbe! Nach meiner Erfahrung gibt es beides, aber in einem von mir letztlich nicht vollständig analysierbaren Geflecht – wer kann schon sagen, wo „ich“ endet und „Welt“ anfängt??? Im Grunde ist alles Teil der Oberfläche des einen Seins – um es mal ein bißchen mystisch auszuzdrücken. Wie weit „meine“ Wirkungen reichen, kann ich nur von Fall zu Fall ausprobieren – nicht ein für alle Mal erforschen, in Gesetze fassen und mich dann darauf verlassen.

Genau das werde ich jetzt bewußter tun! Nichts macht tatsächlich mehr Freude, als sich ganz in etwas hinein zu geben, von Augenblick zu Augenblick den Impulsen zu folgen und dann zu sehen, was kommt, was ES GIBT. Lass die Füße entscheiden, wohin du gehst, sagt ein alter Weisheitsspruch – in diesem Sinne ist auch der Geist nichts anderes als Fuß: ist er in Erwartung einer Katastrophe, wird sich alles zur Ver-wirklichung der Katastrophe verdichten, ist er in Angst, werden immer neue Monster sich zeigen. Gibt er sich dem Haß und dem Ressentiment hin, werden „die Anderen“ immer feindlich wirken und niemals Freunde sein. Erwartet er jedoch das Glück, das Wunderbare, das Abenteuerliche, und ist voller Freude und Zuversicht, dann können auch die hellen Seiten zur Wirkung kommen, indem sie von der Möglichkeit in die Wirklichkeit umschlagen.

Grübeln und Herumrechten, Bedenken tragen und ohne Ende Motive hinterfragen, mit vorgestanzten Wirkungen rechnen und Absicherungen gegen alle denkbaren Unwägbarkeiten anstreben – all das ist der Grauschleier über dem Leben, ist die selbst gebaute Käfiglandschaft, in der wir (ich, du und alle, die das allzu gern so machen!) dann jammernd auf nicht allzu hohen Stangen sitzen und die Krätze kriegen.

Anstatt zu sehen, dass die Tore immer offen stehen und zu fliegen.

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Claudia am 14. Dezember 2002 — Kommentare deaktiviert für Weihnachtsstimmung ?

Weihnachtsstimmung ?

Ein paar Tage ohne Diary verbracht, dafür umso aktiver das Webwriting-Magazin angeschoben. In den nächsten Tagen wird sich da einiges tun. Das Log auf Seite 1 scheint zu gefallen und ich bekomme viele positive Mails. Dass ein Leser auf den Nielsen-Artikel auch gleich mit einer Virus-Attacke reagiert hat, gehört wohl dazu: Manchen fehlen eben die Worte, ihre andere Meinung anders auszudrücken.

Aber genug davon. Es ist Mitte Dezember, noch zwei Wochen bis zum dunkelsten Tag des Jahres. Trotz Weihnachtsbeleuchtung, die auch hier im Dorf Gottesgabe Volkssport ist, will eine weihnachtliche Atmosphäre nicht aufkommen. Die warmen Stürme, der Matsch, der alle unversiegelten Oberflächen zu Gummistiefelfallen macht, die orkanartigen Böen, die hier im Schloßwald ein beeindruckendes Dröhnen hören lassen: Weihnachtsstimmung ist das nicht gerade.

Was aber wäre denn Weihnachtsstimmung? Ich erinnere mich daran, wie es mir als Kind schon ab zehn zunehmend PEINLICH wurde, wenn der Event namens „Bescherung“ auf die Jahr für Jahr gleiche Weise zelebriert wurde. Fast bin ich vor Scham in den Boden versunken, wenn wir drei Kinder am sogenannt heiligen Abend mit einem Glöckchen zu Konservenklängen von „Ihr Kinderlein kommet“ ins geschmückte Weihnachtszimmer mit brennendem Lichterbaum geklingelt wurden. Wie in der Auslage eines Warenhauses hatten meine Eltern die Geschenke arrangiert:

Bescherung, altes Foto

Alles war natürlich schon ausgepackt, denn allzu viel Verpackungsmüll verträgt sich nicht mit echten Wachskerzen am Baum. Trotzdem standen hinter dem Baum noch zwei Eimer mit Wasser, man weiss ja nie!

Auch wir Kinder hatten erstmal „staunend davor“ zu stehen. Denn erst mußte das Lied zu Ende gesungen sein, bevor es uns erlaubt war, „jubelnd“ auf die Geschenke zu stürzen. Erlaubt? Ich jubelte schon, ehe ich überhaupt alles gesehen hatte, denn ich wollte dieses „Kinderjubeln“ schleunigst hinter mich bringen, das meine Eltern offenbar so sehnlichst erwarteten. Was mir an der ganzen Sache so peinlich war und von Jahr zu Jahr immer peinlicher wurde, konnte ich gar nicht sagen. Man hätte Weihnachten jedenfalls ersatzlos streichen können, ich wäre erleichtert gewesen. Doch so gab ich zur Zufriedenheit meiner ahnungslosen Eltern das „jubelnde Kind“, Jahr für Jahr wieder, bis mir der Geist des Protestes von 1968 endlich eine Sprache gab, um meinem Unmut Ausdruck zu verleihen: konsumorientierter stockspießiger Scheiß! Alles Lüge!

Damit war erstmal Schluß mit Weihnachten und ähnlichen „hohlen“ Ereignissen, denen ich mich fortan zu verweigern suchte. Wenn das absolut nicht ging (jetzt zeigte sich der Zwangscharakter der Sache: ich MUSSTE mitmachen!), dann stand ich allenfalls mäkelnd dabei und verdarb den anderen wenigstens erfolgreich die Stimmung. Mit jeder Geste schwitzte ich meine Kritik aus, dass nämlich weder Kerzenduft noch Lichterglanz, weder die gefüllte Riesenpute noch die Zwangsbeschallung mit Weihnachtsliedern darüber wegtäuschen könne, was in unserer Familie IN WAHRHEIT Sache war: blanker Hass und Machtkämpfe Tag für Tag, halt so ein ganz normales Familienleben.

Seither ist viel Zeit vergangen, so richtig warm bin ich mit Weihnachten nie geworden, zumindest nicht in seinem mehr denn je dominanten Shopping-Event-Charakter. Das eigentliche Anliegen solcher Feste kann ich heute verstehen und gutheißen. Sie sollen nicht etwa eine üblicherweise schlimme zwischenmenschliche Realität für einen Tag oder für Stunden einfach nur verbergen, mit Glitzerkram und Hulligully zuschütten. Sondern sie sind als Ausdruck eines Konsenses gemeint, der in Worten lauten könnte: Ja, wir wissen, dass wir alle Egoisten sind und DER ANDERE uns normalerweise nicht viel bedeutet. Dieses Fest ist Ausdruck unserer Unzufriedenheit mit diesem Zustand: Wir leben mal für ein paar Stunden, wie wir es „eigentlich“ gerne hätten, wenn…. tja, wenn wir nicht solche Bestien wären, wie wir es nun mal sind.

Gerade von dieser weihnachtlichen Wahrheit spüre ich allerdings wenig im Bewußtsein meiner Mitmenschen. Die meisten glauben von sich, sie seien ganz wunderbare Typen, stets bereit zu helfen und über alles zu reden, immer auf der Seite des GUTEN, Wahren und Schönen. Und wenn ausnahmsweise mal nicht, dann sind Andere oder „die Umstände“ schuld. Diesen Glauben möchte kaum jemand erschüttert sehen und ein erfolgreich inszeniertes Weihnachten mit maximalem Warenumschlag gehört eben einfach zum Leistungsspektrum erfolgreicher Individuen.

Der Bericht hier wäre unvollständig, ohne anzufügen, dass ich „trotz alledem“ auf Weihnachten konditioniert bin. Ich mußte feststellen, dass ich glitzernden Baumschmuck, den Duft angesengter Tannennadeln, jubelnde Familien und die großen Fressen zu Weihnachten irgendwie mag. Die sinnlichen Einzelheiten des Weihnachtsszirkus‘ sind tief in mich eingeschrieben, in die Schicht, die nicht diskutiert, sondern nur fühlt und reagiert. Und DARÜBER reg‘ ich mich heute nicht mehr auf, sondern genieße es, soweit das im Überangebot der dreimonatigen Kommerzweihnachten überhaupt noch möglich ist.

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Claudia am 16. August 2002 — Kommentare deaktiviert für Kleine Neigung in Richtung Sterben

Kleine Neigung in Richtung Sterben

Ein Gefühl der Schwäche um den Solar Plexus, so etwa, wie nach drei Wochen Grippe – oder bilde ich es mir nur ein? Es ist mitten in der Nacht, ich bin nochmal aufgewacht und die Realität hat nicht so ganz dieselbe dichte und schwere Qualität wie am Tag. Sie ist weicher, flexibler, mehr von meinen Vorstellungen, Gedanken, Wünschen und Träumen abhängig – muss ich jetzt aufpassen, was ich für Vorstellungen entwickle? Die Imagination des Siechtums ist erstaunlich, hat aber im Moment nichts Erschreckendes. Im Gegenteil. auf einer subtilen Ebene ist es abwechslung, neue Empfindungen wecken den Geist aus dem Schlaf des allzu Bekannten und ich wundere mich, warum rund um Krankheit, Sterben und Tod soviel gejammert wird.
Manche Gedanken sind verboten. Das kommt mir gleich in den Sinn, wenn ich sowas hinschreibe. „Bekomm du erstmal selber deinen Krebs!“, denkt man sich, wenn man sowas liest – jedenfalls würde ich so denken, da bin ich mir sicher.

Noch immer fühl‘ ich mich schwach, fiebrig, ich will einen Kräutertee mit Zitrone und Honig, will ein bißchen bedauert und gepflegt werden, aber weit nach Mitternacht paßt das nicht so recht. Eigentlich paßt es nie, wenn ich ehrlich bin, deshalb will ich ja auch einen Krankenbesuchsverein gründen. Jedes Mitglied hätte das Recht auf einen Krankenbesuch pro Tag und ist im Gegenzug selber bereit, andere zu besuchen. Bei den vielen alleine Lebenden in Berlin, so denk ich mir, wär das gar nicht so falsch. Vor hundert Jahren hat es sowas schonmal gegeben, hab‘ ich mal gehört.

Bis jetzt bin ich zu gesund, um das wirklich anzugehen. Wo es keinen „versteckten Gewinn“ des Krank-Seins gibt, ist das auch kein Wunder. Dass ich mich schwach fühle, ist eine Folge der Zelt-Übernachtungen am letzten Wochenende in Mecklenburg. Es war kalt, es war feucht, ich fror in der ersten Nacht und wie immer hab‘ ich nicht wirklich auf so etwas geachtet. Na, mitten in der Nacht war es auch nicht mehr zu ändern und immer noch besser, als mit anderen im selben Zimmer zu schlafen. Dieses Jugendherbergsgefühl gefällt mir lange schon nicht mehr und das Schnarchen des Mitmenschen raubt mir den letzten Nerv, nein danke!
Jetzt also schon eine Woche „grippaler Infekt“: Schwitzen, Schwachheitsgefühle, Trägheit, gelegentlich Aspirin, mit schlechtem Gewissen, versteht sich. Und Träume von der Hinfälligkeit, wie jetzt.

Makabre Gedanken, Erinnerungen an das Schreibwochenende, wo mir Krankheit und Tod unübersehbar begegneten. Die Schwester einer Teilnehmerin hatte gerade ihre Diagnose bekommen: Lungenkrebs. Mit dem Rauchen hat sie daraufhin aufgehört – während der anstehenden Operation wird erst klar werden, wieviel von der Lunge entfernt werden muß. Zwanzig Prozent, sagen die arzte, könne sie ja locker durch das Nicht-Mehr-Rauchen ausgleichen. (Immerhin, plappert mein altes Raucherinnenbewußtsein, Nichtraucher können das nicht!) Ihre Schwester ist erschüttert, aLLE sind betroffen, man senkt die Stimmen und fühlt sich sehr sensibel. Man hätte gerne Tränen in den augenwinkeln.
Zum Ende fahre ich nicht gleich nach Hause, sondern erst noch mit unserem Gastgeber an die Ostsee, M. besuchen, eine andere Teilnehmerin dieser Jahrzehnte alten Schreibgruppe. auch sie konnte nicht kommen, hatte gerade ihre OP: Eierstockkrebs, in die Bauchhöhle gewachsen, drittes Stadium. Die erste Chemo hat sie hinter sich. Ihr halb fertig ausgebautes Haus in einem kleinen Dorf nahe der Ostsee ist wunderschön – genau die Idylle, von der der Städter träumt. Unverbaubarer ausblick in die offene Weite, Felder, am fernen Horizont der Wald, ein großer Garten, Obstbäume, Wiese – und noch kein richtiger arger mit den Nachbarn.

Das Haus ist die ehemalige Dorfschule. Genug Platz also für M., die sich das Ganze vor zwei Jahren gekauft und seither dran herumgebaut hat. Endlich weg aus Berlin, zum Jahreswechsel dann auch das ersehnte Ende der Berufsarbeit. M. ist 60, schlank, sie begrüßt uns mit einer Bemerkung zu ihren jetzt kurzen Haaren. „Ich dachte, ich treff dich ganz ohne“, sag ich, während ich sie umarme, denn ich will gleich klar stellen, dass wegen mir über die Hauptsache nicht geschwiegen werden muss. Über den Krebs, den Skandal, die angst, das mögliche Ende. M. lacht und sagt, kurze Haarbüschel, die sich in der Wohnung verteilen, seien jedenfalls nicht so nervig wie lange Strähnen.

Wir sitzen im Schatten, trinken Kaffee, M. hat Kuchen aufgetaut, der Kater streicht uns um die Knie. Viele Leute bieten jetzt ihren Besuch an, erzählt M. auch über längere Zeit. aber das wolle sie nicht, sie sei am liebsten alleine in den Tagen rund um die Chemo. Da könne sie ungestört schlaff herumliegen, müsse sich um niemanden kümmern. Oh Gott, denk ich mir, immer diese fraulichen Pflichten, tief eingraviert in unser Bewußtsein. Der aNDERE ist immer wichtiger! Die perfekte Gastgeberin reicht am Rand des eigenen Grabes schmackhafte Häppchen….
Im Dezember war sie noch beim arzt gewesen. Hat sich da schon irgendwie schlecht gefühlt, aber es wurde nichts gefunden. Erst viele Monate, verschiedene arzte und etliche Untersuchungen mit scharfem Gerät später wurde der Krebs entdeckt – im dritten Stadium, kurz vor den Metastasen also. Da war sie schon sehr viel dicker geworden, hatte kiloweise Wasser eingelagert. Schließlich die Operation. „Ich hab nicht gewußt“, sagt M, „dass sie einen heutzutage schon am nächsten Tag unter die Dusche jagen. Wie zäh ein Mensch doch ist!“ Man habe allerlei ausgeräumt, den Eierstock sowieso, dann den Blinddarm, einen Teil des Darmgeflechts – 14 Nahtpunkte lang sei ihre Narbe am Bauch. Naja, genäht werde heut‘ auch nicht mehr, so mit Nadel und Faden, sondern GETACKERT.

„Wir können froh‘ sein, dass sie nicht kleben. Wie bei den Flugzeugen,“ sag ich und grüble über den technischen Fortschritt, so ganz hautnah.
Wie es wohl ist, wenn man vom eigenen Krebs weiß? Ich gehe davon aus, daß ich natürlich in Schrecken erstarre, erstmal. Dass es etwas ganz anderes ist, die definitive Diagnose zu bekommen als nur die Möglichkeit zu überdenken. Sicher, wir sterben alle und wissen nicht wann. aber wir leben so, als sei dem nicht so, oder? Fast täglich denke ich: Was wäre, wenn jetzt bald Schluß wäre? aber ich rechne damit, dass mich das nicht wirklich der Realität näher bringt. Und trotzdem: Mein Vater ist genauso gestorben, wie er gelebt hat – also wird das bei mir auch nicht anders sein.
Im Moment fühl‘ ich mich nicht nach Sterben, nur so angenehm schwach. Ein Geschmack von Hinfälligkeit und Niedergang, vermutlich wird sich das Grobe, die starken Eindrücke, zu immer feineren Wahrnehmungen verwandeln, wenn es mal Ernst wird. Na, vermutlich auch einfach so, man wird ja älter und das gehört zu den damit verbundenen Vorteilen: Wer alles schon kennt, dem bleibt nichts anderes übrig, als dasselbe ganz anders anzusehen.

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