Claudia am 25. Oktober 2007 —

Das Fallbeil

Aufstehen, kurz ins Bad, dann rüber in die Küche, Espressokanne ausspülen, neuen Kaffe rein, glatt streichen. Nun das Wasser in die untere Hälfte, Kanne zusammen drehen, wo ist das Feuerzeug? Ah, hier! Fehlt noch der Milchtopf, ein halber Liter, wie immer. Während Kaffee und Milch auf sich warten lassen, spüle ich ein paar Tassen und Teller von gestern abend. „Kung fu“ heißt vollständige Handlung, sagte mein Ex-Lebensgefährte immer, wenn ich das Spülen auf später verschob. Lange Zeit spülte ich sofort, ganz ohne innere Widerstände, stolz auf „Kung fu“ und wie weit ich es in den kleinen Dingen gebracht habe. Dann wieder langweilt mich das. Mal einen halben Tag einfach alles abstellen, nur den Monitor als Tor zur Welt anerkennen, mit einem Blick die Küche als auf dem Weg in die Verwahrlosung erkennen – huch, will ich das? Bin ich das? Drohe ich, wieder so zu werden? Blödsinn, es gibt keinen Weg zurück, selbst wenn ich Sorgen hätte, wenn ich leiden würde wie ein Schwein, würde ich doch spätestens morgens das dreckige Geschirr spülen. Dann erst recht.

Mit der physischen Verwahrlosung kann ich höchstens noch kokettieren, kleiner privater Protest gegen das Sinnvolle und das Streben danach, obwohl doch am Ende alles aus ist. Mein innerer Kritiker meldet sich zu Wort, kommt mit spirituellen Weisheiten, zeigt mit dem Finger nach oben, doch lass ich mich heute nicht einlullen und kontere mit kürzlich angelesenen Erkenntnissen aus der Hirnforschung: hey, es ist doch jetzt bekannt, wie der Geist entsteht! Alles nur komplexe Verschaltung, feuernde Neuronen, Ausweitung der Speicherkapazität, so dass nicht nur das Erleben, sondern auch Bilder dieses Erlebens abgespeichert werden können: Voilá – and the universe proudly presents: Bewusstsein, sogar Selbstbewusstsein! Der „Beobachter“ als Funktion einer Art zweiten Festplatte – nettes Feature, aber kein Fahrschein zur Transzendenz. Lass mir also meine kleinen Spiele mit dem Sinnlosen und sei froh, dass ich nicht wirklich abdrifte, sondern brav weiter funktioniere. Nicht mal die Laune sinkt.

„Da ist ein Knoten!“, sagte neulich mein Liebster, als er sich liebevoll an meiner linken Brust zu schaffen machte. Ich registrierte für einen Moment das Sausen des Fallbeils, blickte in den Abgrund, der sich da auftat, und dachte: Aha, nun geht es also los, ab jetzt ist Schluss mit lustig! Sagte dann zu ihm: „Na, da muss ich wohl in den nächsten Tagen mal zum Arzt“ und signalisierte, dass mir ein Themawechsel gut passen würde. Dem Sterben entgehe ich nicht, das stimmt. Aber soll ich mir deshalb diese schöne geile Stunde vermiesen lassen? Ich änderte meine Haltung, richtete mich auf und umarmte ihn. Seine Hände interessierten sich weiter für meine Brüste, während ich meine Entschlossenheit beobachtete, vom Abgrund abzusehen, mich abzuwenden, einfach einzutauchen ins Alltägliche – schließlich kann ich mir mittlerweile meine Geistesinhalte weitgehend wählen, wofür soll das gut sein, wenn nicht für solche Gelegenheiten? Ich würde mich später kümmern, jetzt sollte gefälligst alles weiter gehen wie gewohnt.

„Hm – es war wohl nur das zusammen gedrückte Gewebe in der anderen Stellung!“ Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich sah das Fallbeil wieder im Nichts verschwinden. Und tschüss – bis demnächst! So oder so ähnlich wird es also sein, wenn ich die „finale Diagnose“ vernehme, das „Urteil“, das ja doch immer schon gefällt ist seit ich geboren bin. Für die kurze Minute hab‘ ich mich ganz gut gehalten, stelle ich anerkennend fest. Gleichzeitig ist da aber zuviel Erleichterung, als dass ich mir meines inneren Friedens allzu sicher sein könnte. Nun, es wird Gelegenheit geben, die Erfahrung zu vertiefen, das ist sicher.

Der Kaffee ist jetzt fertig, die Milch kurz vor dem Überkochen. Beides fülle ich in die Thermoskanne, die ich mit ins Zimmer nehmen werde. Dann treibt meine Schwachblase mich nochmal kurz ins Bad: Himmel, schon wieder ist das Klo verstopft! Jetzt habe ich die Wahl, die Schüssel über den Tag immer wieder mit Wasser voll laufen zu lassen und das beste zu hoffen, oder ich greife mit dem ganzen Arm in die Scheiße und bereinige das Hindernis mechanisch. Letzteres wäre wohl eher „Kung fu“, vollständige Handlung.

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Diskussion

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11 Kommentare zu „Das Fallbeil“.

  1. Kung Futsch! … oder es lebe die unordentliche Welt. Klar mag ich Ordnung, beginne die Vorbereitung des Mittagessens lieber auf sauberen Tischen, schlafe lieber in einem gemachten Bett ein. Aber es gibt die Momente, wo ich mich gerne mal des Schweizer-Liedes „Wo Berge sich erheben“ erinnere. Es gibt die Momente, wo ich eine Aufgabe rechtzeitig anpacken sollte. Und tausend Ausreden finde, warum ich damit noch nicht beginnen kann. Gluecklicherweise gehoerten die in letzter Stunde gemachten Wuerfe immer zu den besten. Ich bin der Ordnung gegenueber kritisch eingestellt … machte man mich doch als intersexuelles Wesen in fruehen Jahren – ohne mich je zu fragen – ueber eine Operation zu einem „geordneten“ Menschen. Und verschaffte mir dadurch lebenslaenglich Unordnung.

    Claudia, ich kann mir vorstellen wie dir war. Denn mich hat man genau dort operiert, damit ich ein „normaler“ Mensch werde. Es war kein Krebsverdacht, es waren nur die genormten Vorstellungen von Aerzten und Eltern.

    Es lebe die Unordnung! Ich bin in meinem Leben wieder da angekommen, wo ich in kein Klischee passe. Und seither kann wieder atmen. Fuehl ich mich zuhause

  2. Liebe Claudia,
    über die alltägliche Oberfläche schreibt es sich doch leichter als über das Fallbeil und sein immer im Hintergrund Vorhandensein,
    also hier nur schnell mein praktischer Tip: Statt immer wieder Wasser, lieber ein oder zwei schöne große Flaschen böse Cola ins Klo und recht lange ziehen lassen (mind. 1-2 Stunden), dann erreichst Du meist auch eine vollständige Handlung.
    Und anläßlich dieses Postings bemerke ich, daß ich auf Deiner jeden Tag angesurften Seite schon lange nicht mehr zu den doch stets sehr von mir erwarteten Artikeln kommentiert habe. Und darum jetzt nur mal als kleines Anstatt:
    vielen Dank für die vielen guten Stunden vorm Monitor mit Deinen Gedanken. Und bis bald
    Ruth

  3. Danke für den Tipp, liebe Ruth! Ich hab die mechanische Methode gewählt – Cola würd ich auch ungern dafür opfern! :-) In der Spüle werd‘ ich das aber mal probieren, wenns soweit ist!

    Wenn du einen RSS-Reader benutzen würdest, könntest du ohne her surfen mitbekommen, wann es einen neuen Artikel gibt! Hier ins Diary schreibe ich nie, um die „Frequenz“ aufrecht zu erhalten, sondern definitiv nur, wenn es fließt. Heute früh hab‘ ich damit erst gar nicht gerechnet…

    Sei herzlich gegrüßt!

  4. Nur ein Tipp zur mechanischen Methode: eine harte, aber flexible, lange (1 – 1.50 m) Spirale, wie sie auch Rohrreinigungsdienste verwenden. Ich weiß nicht genau, wo du so etwas kaufen kannst, ich würde es mal in altmodischen Eisenwarenläden versuchen. Damit geht das auch ohne allzuviel Kontakt Hand+Arm mit ‚Verfüllmaterial‘ und ohne Chemie, sondern mit geduldigen Hineindrehen. Okay, das Gefühl und den Geruch nimmt dir das auch nicht…

  5. Ich steck den Arm erst in eine Plastiktüte :-) Du hast recht, die Spirale kenn ich, aber bisher erschien es mir überarrangiert, extra so ein Teil zu kaufen für eine doch recht seltene Verwendung. Sollte es sich häufen, denk ich wieder drüber nach…

  6. Ich giesse etwas fluessige Schmierseife ins Lavabo. Lass es einwirken … spuelen. Und alles ist wieder frei.

    Erinnert mich … ich war mal in einem Transsexuellenforum. Da haben sich die doch tatsaechlich seitenlang ueber Klopapier unterhalten *Grins*

  7. Ja – der Vergleich hat was! Ist schon interessant, welches Thema aus dem Artikel in den Kommentaren diskutiert wird und welches nicht.

  8. @ Mohnblume:

    Was ist Lavabo ?

  9. @ SuMuze

    Lavabo (Ritus)

    Lavabo (v. lat. lavare: waschen) bezeichnet den symbolischen Ritus der Händewaschung eines Priesters im katholischen Gottesdienst.

    Ein Ministrant gießt bei diesem Ritus etwas Wasser über die Fingerspitzen des Priesters und fängt dieses mit dem Lavabotablett auf. Ein zweiter Ministrant reicht dem Priester das Lavabotuch zum Abtrocknen der Hände.

    Die Bezeichnung Lavabo für diesen Ritus stammt von dem ersten Wort des lateinischen Gebets, das ein Priester bei der Händewaschung im tridentinischen Ritus spricht: Lavabo inter innocentes manus meas… („In Unschuld will ich meine Hände waschen“). In der erneuerten Liturgie heißt es hingegen: Lava me, Domine, ab iniquitate mea („Herr, wasche ab meine Schuld“).

    HaHaHa

  10. Herzlichen Dank für die Auskunft, Mieze.
    Ja, da kann Schmierseife wahrhaftig nicht schaden: einwirken lassen, spülen, und alles ist wieder frei..

  11. … ja, und in der Schweiz nehmen wir das oft nicht immer so ganz genau. Also dort, in einigen Dialekt-Bereichen ein ganz normaler Ausdruck fuer ein gewisses Oertchen … verzeiht mir meinen Ausrutscher *grins*