Claudia am 18. Juli 1999 —

Gottesgabe, Tag 4

Während ich in Berlin jeweils mittags einen Spaziergang in den nahe gelegenen Park unternahm, ist hier eher der Abend die Zeit zum Herumgehen. „Herumgehen“ – schon die Wortwahl zeigt, daß es hier eher seltsam wirkt, durch die Gegend zu laufen. Fast niemand tut das, wir begegnen keinem Menschen, wenn wir auf einem der drei möglichen Wege ein Stück vom Dorf weg in Richtung des nächsten laufen.

Auf dem Land geht man nicht spazieren, stelle ich fest. Das ist auch kein Wunder, denn die Häuser, an denen wir vorbeikommen, haben alle wunderschöne, aufwendig gepflegte Gärten. Der Landmensch arbeitet in seinem Garten oder sitzt dort und genießt das Erreichte – warum durch vergleichsweise öde Straßen wandern, entlang an ost-typisch endlosen Weizenfeldern?

Ich weiß, warum doch: der Blick in die Weite, in die ganz leicht gewellte Landschaft aus Feldern, kleinen Wäldchen und Alleen, hinten ein paar Windräder, die sich vor der untergehenden Sonne in den spektakulären Himmel strecken – obwohl es eine Kulturlandschaft ist, fühle ich in diesem Blick die Unabhängigkeit der Erde, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschen. Und das hat etwas beruhigendes. Was immer uns umtreibt, Liebesdinge, Geschäfte, Politik, die oft nervigen Kleinigkeiten des Alltags – was ist das schon, angesichts des Ganzen?

Mein Lebensgefährte hat den völlig zugewachsenen Garten gerodet. Es wird viel Arbeit machen, in dieser Wildnis wieder eine Reihe bepflanzbarer Beete herzurichten – wahrscheinlich werden wir schon bald auch weniger „herumgehen“….

Zur Welt der Symbole, zum Geschriebenen und zur ganzen Online-Welt empfinde ich eine nicht unangenehme Distanz: gut, daß es das auch gibt, aber es ist lange nicht alles. Natürlich weiß das jeder – aber in der Stadt fühlt man es nicht, dort ist fast alles Symbol, „Um-zu“, Bedeutugsträger – alle Aktivitäten scheinen auf etwas gerichtet, was später einmal kommen soll. Die ganze „Umwelt“ unterstützt mit ihren vielfältigen Eindrücken das stete Plappern im Kopf, das dauernde Kommentieren und Räsonnieren, Bewerten und Kritisieren. Das ist hier nicht so. Alles ist, wie es ist, da kommt nicht MEHR. Und es gibt nicht allzuviel dazu zu sagen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum Leute fragen: „Ja, wirst du es dort denn aushalten?“.

Mal sehen. Noch genieße ich es – und außerdem bin ich nicht hier festgenagelt. (In Berlin war ich das, wo es eineinhalb Stunden Fahrt durch schlimmsten Stadtverkehr erfordert, bevor man aus dem Häusermeer herauskommt.) Heute nachmittag werden wir zum ersten Mal nach Schwerin fahren (9 km), da ist sogar „verkaufsoffener Sonntag“…

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