Netzkommunikation: Mit Mailinglisten leben

  1. Dialogische Medien & politische Bildung
  2. Mailinglisten: Soziale Räume, technisch konfiguriert
  3. Listenkommunikation: Zwischen Plauderecke und Symposium
  4. Aktivlisten - Lernen im Netz
  5. Aktive Netze: Turbopolitik im Netz

1.
Dialogische Medien & politische Bildung

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Wir kennen zwei Arten des Lernens:

  • als Vermittlung bzw. Erwerb eines bereits vorhandenen Informationspools;
  • als Erarbeitung neuer Informationen aus zu sammelnden bzw. auszutauschenden Daten und Informationen.
  • Ersteres entspricht z.B. dem traditionellen Schulunterricht: Ein Wissender vermittelt seinen Gedächtnisinhalt an viele Unwissende. Die Gesamtheit des Wissens vergrößert sich nicht, sondern verteilt sich lediglich auf mehrere Träger.
    Neues Wissen entsteht mittels der zweiten Form: verschiedene Gedächtnisse tauschen ihre Bestände aus und im dialogischen Prozeß werden NEUE Informationen sythetisiert. Dieses Lernen kennen wir aus jedem guten Gespräch: jemandem "fällt etwas ein": eine andere Sicht der Dinge, ein neuer Aspekt, eine Idee, die so noch nicht da war, und im Gespräch wird dieses Neue von allen Seiten geprüft, ergänzt, das gemeinsame Wissen ist erweitert worden. Im schulischen Kontext ist diese Lernform z.B. im Projektunterricht intendiert, sofern er über bloßes Sammeln und Zusammenschreiben hinausführt.

    Medien

    Wer ist Vilém Flusser?Der 1991 verstorbene Medienphilosoph Wer ist Vilém Flusser?Vilém Flusser unterscheidet anhand des skizzierten Unterschieds diskursive und dialogische Medien. Die in der Wortwahl durchaus gewöhnungsbedürftige Unterscheidung diskursiv/dialogisch dient der Analyse menschlicher Kommunikationsstrukturen. Flusser arbeitet heraus, welch ein großes Entwicklungshindernis die Dominanz diskursiv verwendeter Medien (Radio, TV, Vorträge...) für die - damals noch nicht elektronisch vernetzte - Gesellschaft bedeutet:
    Den massenmedial vermittelten Diskursen der Eliten - etwa Politik, Wissenschaft, Kunst - fehlt die Rückkoppelung mit dem einzelnen Individuum, dem allenfalls das weitgehend einflußlose '"Geschwätz" mit Nachbarn und Arbeitskollegen bleibt. Der Einzelne ist demnach aus guten Gründen "politikverdrossen" und lebt sein Konsumentenleben jenseits effektiver Partizipationsmöglichkeiten im großen Kindergarten der Unterhaltungsindustrie.

    Netzkommunikation

    Seit Flussers allzu frühem Tod hat sich viel verändert: das mit aller Macht und in kürzester Zeit wachsende Internet verbindet die Individuen und stellt eine Kommunikationstechnik zur Verfügung, die ohne großen Aufwand dialogisch genutzt werden kann. Gleichzeitig - bzw. dadurch befördert - haben sich die gesellschaftlichen Prozesse und Erfordernisse derart beschleunigt, daß sie mittels traditioneller Diskurse nicht mehr ausreichend gesteuert werden können. Politik, Wirtschaft, Kunst und auch die Ebenen des Markts und der Arbeit müssen praktisch neu erfunden werden.
     
    Die Ereignisse warten nicht mehr darauf, daß eine etablierte Elite die Lage analysiert, die Handlungsmöglichkeiten dialogisch abwägt, in mehr oder weniger demokratischen Prozessen zu Einigungen kommt und dann das Ganze als Kommunikat ("da geht's lang!") massenmedial unters Volk bringt. Hinzu kommt: die alltäglichen Lebenswelten der Menschen sind derart auseinandergedriftet, daß von einer Gruppe, die rund um die Uhr kommunikativen Inzest betreibt (wie z.B. Politiker und andere Funktionäre), schon die Problemwahrnehmung kaum mehr zu erwarten ist.

    Schlußendlich: Konfliktthemen des Jahres 2000 sind keine Angelegenheiten mehr, die mittels ein paar Meetings der richtigen Leute am richtigen Ort in unschädliche Bahnen gelenkt werden könnten. (Man betrachte nur die Krise der Gesundheits- und Rentensysteme oder den kannibalisierenden Innovationsdruck bei technischen Produktlinien, ganz zu Schweigen von Umweltfragen und Neuverhandlungen zwischen Nord und Süd, Ost und West).

    Wo Funktionseliten tendenziell nicht mehr funktionieren, weil sie weder lenken noch schützen können, spürt das Individuum auf einmal den rauhen Wind des Chaos. Ihm bleibt nichts übrig, als

    • hartnäckig die Bestände zu verteidigen
    • sich eine Nische zu suchen
    • oder kreativ zu werden und zu lernen.

    Das erste Verhalten verschiebt die Probleme nur, die anstehenden Veränderungen werden um so größer und schwerzhafter, je mehr wir die Auseinandersetzung verweigern. Die Nische ist neutral - doch gibt es sie nun mal nicht für alle. Bleibt also vor allem das Lernen, der Versuch, Chancen zu erkennen und zu ergreifen, wo immer sie sich zeigen.

    Daß dies zuvorderst mittels dialogischer Medien geschehen muß, versteht sich von selbst. Wo jeder "erneuerte" Wissenskanon schon vor seiner Drucklegung überholt ist, reicht traditionelles Lehren und Lernen auf kaum einem Gebiet mehr aus. Wo "Learning by doing" vielerorts zum Standard wird, wo mehr und mehr die Schutzschilde filternder Hierarchie und vorgeschriebener Abläufe entschwinden, ist offene Kommunikation zwischen vielen - netzgestütztes Teilen, Tauschen und Lernen - der einzig mögliche Weg.

    Flusser hatte noch allen Grund zur Klage, daß unsere Dialogmöglichkeiten technisch in den Zeiten Roms verharren, wogegen die herrschenden Diskurse hoch aufgerüstet von allen Seiten auf uns einrieseln. Heute, nur wenige Jahre später, stehen uns mit Email und WorldWideWeb dialogisch verwendbare Medien auf höchstem technischen Niveau zur Verfügung. Es geht lediglich darum, sie auch SO zu benutzen.

    Politische Bildung: Netz-KnowHow

    Politische Bildung hat heute die Aufgabe, dabei zu helfen, die Vielen in die Lage zu versetzen, auf selbstbestimmte Weise die neuen Kommunikationstechniken für sich und die je eigenen Ziele und Zwecke zu nutzen. Es reicht nicht, aufzuzeigen, wie Internet-Medien für fremde Zwecke ge- und bisweilen mißbraucht werden. Und es genügt auch nicht, bis ins einzelne vorgedachte 'Erlebniswelten' von Profis ins Web stellen zu lassen und auf Teilnehmer zu hoffen, die wie Ratten im Labyrinth mit Programmen und Automaten interagieren. Es bedarf vielmehr der lebendigen Beispiele, wie NÜTZLICH und HILFREICH Netzkommunikation für den Einzelnen sein kann, wenn keine Gebrauchsanleitung oder Autorität, der man noch glauben könnte, zur Verfügung steht.
     
    Dieses Wissen und Können ist unersetzliche Voraussetzung dafür, daß in einer lebensweltlich "atomisierten" Gesellschaft die Menschen wieder lernen, sich zur Regelung und Aushandlung überindividueller Fragen selbständig zu vernetzen und gemeinsam aktiv zu sein. Am Beispiel des wichtigsten Instruments zur Vernetzung von Gruppen, der Mailingliste, soll das im weiteren gezeigt werden.
     

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 von
 Claudia Klinger

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