Netzkommunikation: Mit Mailinglisten leben

  1. Dialogische Medien & politische Bildung
  2. Mailinglisten: Soziale Räume, technisch konfiguriert
  3. Listenkommunikation: Zwischen Plauderecke und Symposium
  4. Aktivlisten - Lernen im Netz
  5. Aktive Netze: Turbopolitik im Netz

2.
Mailinglisten: Soziale Räume, technisch konfiguriert

Als 1996/1997 das Internet ins Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit trat, hörte man oft die Frage nach der Killer-Anwendung: Welche Nutzung des Netzes würde es ebenso unvermeidlich "in den Markt drücken", wie dereinst die Textverarbeitung und die Tabellenkalkulation den persönlichen Computer? Die bereits zu diesem Zeitpunkt unzähligen Homepages der Universitäten und vieler privater Enthusiasten schienen die Frage der Marketingexperten nicht zu beantworten: Was, um Himmels Willen, ist der NUTZEN des Netzes? Für was wird eines Tages richtig Geld gezahlt werden?
 
Speziell die Konzentration auf die letzte Frage verstellte den Blick für die Tatsache, daß die "Killeranwendung" von Anfang an bereits vorhanden war: Email, der älteste aller Netzdienste, das dialogische Medium schlechthin.
 
Wie die Internet-Geschichte zeigt, nutzten die an der Entwicklung beteiligten Wissenschaftler die neuen Dienste (Email, FTP) von Beginn an zu wissenschaftlichen Zwecken, zum schnellen Austausch von Informationen, zum gemeinsamen Lernen. Und ihre Studenten erkannten sofort die "Nützlichkeit" dieser Medien, machten sie sich zu eigen und entwickelten eigenständig neue Dienste, wie z.B. das UseNet, in dem Minderheiten unzensiert diskutieren konnten.
 
Die Möglichkeit, eine Email gleichzeitig an viele Personen versenden zu können, führte zunächst zur Bildung von CC-Groups, ein optimales Kommunikationsmittel für feste Arbeitsgruppen war gefunden. Allerdings: CC-Gruppen aktuell zu halten, wenn die Gruppe fluktuiert, ist ein wenig aufwendig: Abgänge und Neuzugänge in der CC-Liste müssen von allen Mitgliedern mitvollzogen werden. Deshalb bot es sich an, diesen Vorgang zu automatisieren: Die Mailingliste entstand.
 
Mailinglisten: Kontakt-, Lern- und Arbeitsmedium
 
Mailinglisten gibt es in den verschiedensten Formen, deren Merkmale im besten Fall von der sozialen Funktion der Liste und den Wünschen der Teilnehmer bestimmt werden, oft aber auch auf technischen Voreinstellungen bzw. dem Willen des Veranstalters ('Owner') beruhen. (In verschiedenen Listen Mitglied zu sein und im Lauf der Zeit diese Rahmenbedingungen kennen und bewerten zu lernen, ist allein schon ein netzpolitisches Bildungserlebnis erster Güte!).
 
War es vor einigen Jahren noch das Privileg von Universitätsmitgliedern, Mailinglisten einzurichten, da nur sie über entsprechenden Serverzugang und Know-how verfügten, ist es mittlerweile jedem Netzteilnehmer möglich, eine Mailingliste zu gründen. Oft gehört eine Mailingliste zum Paket-Angebot besserer Provider, ist das nicht der Fall, kann man auf Dienste wie OneList zurückgreifen, die kostenlose Mailinglisten anbieten oder - wie kbx.de - eine Monatsgebühr erheben..
 
Listenpolitik mittels Technik
 
Die volle Selbstbestimmung über alle Merkmale und möglichen Features einer Mailingliste hat ein Veranstalter nur, wenn er selber die Liste einrichtet oder darüber bestimmen kann, wie der technische Administrator sie einzurichten hat. Hierzu ist zunächst das Wissen erforderlich, welche Einstellungen überhaupt möglich sind, denn immer konfigurieren diese Einstellungen nicht nur das Programm, sondern auch den entstehenden sozialen Raum!
 
An einigen Beispielen für mögliche Konfigurationen kann das leicht gezeigt werden:

  • Zugang zur Liste: Technisch ist es möglich, den Zugang JEDEM zu ermöglichen, der die Listenadresse kennt. Der Eintritt erfolgt vollautomatisiert über eine "Subscribe-Mail" des Interessenten. Der Veranstalter/Administrator erhält lediglich eine Mitteilung, daß ein neuer Nutzer beigetreten ist. Die Alternative ist der moderierte Zugang: Ein Interessent kann zwar subscribieren, benötigt allerdings ein "ok", eine Freischaltung durch den Veranstalter, bevor er mitlesen und schreiben kann.
     
  • Schreibrechte: Technisch kann ermöglicht werden, daß jeder in die Liste schreiben kann, der die Adresse kennt - auch OHNE Mitglied zu sein. In der Regel ist das Schreibrecht auf die eingeschriebenen Teilnehmer beschränkt, doch kann es auch auf den Eigentümer, bzw. auf von ihm benannte Personen beschränkt werden. Im letzteren Fall handelt es sich nicht mehr um ein dialogisches Medium, sondern wird zum Newsletter mit althergebrachter "Einer-an-viele"-Struktur.
     
  • Filterung, Moderation: Diskussionslisten sind in der Regel unmoderiert: Sendet ein Mitglied eine Mail an die Liste, erhalten wenig später alle Teilnehmer die Botschaft. Diese unkontrollierte und unzensierte Form erzeugt am stärksten die Anmutung eines sozialen Raums, in dem man sich auch als "anwesend" fühlt, wenn gerade keine Botschaften kommen. Anders die moderierte Liste: Jeder Beitrag geht zunächst an den Veranstalter, der ihn überprüft und dann freischaltet - oder auch nicht.
     
  • Verteilzeitpunkt: Auch eine inhaltlich nicht moderierte Liste kann vom Veranstalter auf ein festes zeitliches Intervall beschränkt werden: Alle Emails der Mitglieder gehen zunächst an den Veranstalter, der sie in einer einziger Mail zusammenfaßt und z.B. einmal wöchentlich an alle verteilt. Der dialogische Charakter tritt hier ebenfalls tendenziell in den Hintergrund, da die Teilnehmer nicht mehr spontan aufeinander regieren können. Manche Listen bieten beide Varianten an: Echtzeit-Verteilung und/oder wöchentliche Zusammenfassung (Digest)
     
  • Transparenz/Anonymität: Schon für den Beitritt zu einer Liste kann der Eigentümer festlegen, ob ein einfaches "subscribe Listenname" genügt, oder ob der Interessent einen Namen angeben muß. Jederzeit kann er sich vom Listenprogramm eine Teilnehmerliste ausgeben lassen und hat so den Überblick - ob dies auch den anderen Listenmitgliedern offen steht, ist eine Frage der Voreinstellung. So verfügt etwa das Majordomo-Programm über den "Who"-Befehl: jeder Teilnehmer einer Liste kann mittels einer Mail ans Verwaltungsprogramm mit den Worten "who listenname" die aktuelle Mitgliederliste beziehen. Allerdings nur, wenn dieses Feature nicht abgeschaltet wurde, um den Mißbrauch der Mailadressen zu verhindern. Das soziale Bedürfnis, zu wissen, mit wem und vor wem man spricht, wird hier zugunsten von Sicherheitsinteressen geopfert. Technisch ist es auch möglich, daß ein Mitglied beim Listenbeitritt festlegt, ob es auf der Who-Liste erscheinen will oder nicht - doch setzt diese Variante Wissen voraus, weshalb viele Administratoren die Abschaltung vorziehen.
     
  • Vorgefertigte Texte: Jedes Listenverwaltungsprogramm bietet dem Administrator die Möglichkeit, vor und nach den Beiträgen der Teilnehmer weitere Texte automatisch mit jeder Mail generieren zu lassen. Sogenannte 'Header' und 'Footer' können Zusatzinformationen zur Listennutzung bieten, den Verweis auf die Listenhomepage im Netz - aber auch von Dritten gebuchte Werbung. Auf letztere Weise finanzieren manche Anbieter kostenloser Mailinglisten ihre Dienste.
     
  • Reply-Adresse: Mails, die von den Teilnehmern in die Liste "gepostet" werden, erreichen jeden anderen Listenteilnehmer. Jedoch: Will man auf eine solche Mail antworten, und dabei die einfache "Reply"Funktion" jedes Mailprogramms nutzen, kommt es darauf an, was im Listenprogramm für diese Reply-To-Adresse voreingestellt wird: Die Mailadresse der Liste (also das kollektive Gespräch, woher auch der Beitrag kam) oder die Privatadresse des Autors, die in die Privatheit des Zweierdialogs führt. Für beide Einstellungen gibt es Argumente - doch werden sie mangels Know-how, bzw. eines entsprechenden Bewußtseins der Umsetzung von Sozialität in Technik in der Regel gar nicht erst wahrgenommen.
     

Alle genannten Beispiele zeigen, wie sehr vorhandenes oder fehlendes Know-how die Möglichkeiten mitbestimmt, soziale Räume im Netz zu gestalten und sich in ihnen souverän zu bewegen. Technisch ist alles möglich und was fehlt, kann jemand programmieren. Die Bedingungen und Features, die man vorfindet, hat jemand SO und nicht anders gewollt. Dies ins Bewußtsein der 'User' zu bringen, ist nicht nur politisch bildend, wie zu Zeiten der Massenmedien: Kritisches Bewußtsein ist nicht mehr ausschließlich darauf angewiesen, Kritik am Bestehenden zu formulieren und Forderungen in Richtung übermächtiger Adressaten aufzustellen, sondern kann mittels der Netztechniken unmittelbar Alternativen schaffen. Gefällt mir deine Liste nicht, mach' ich eine eigene auf....
 

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 von
 Claudia Klinger

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