Netzkommunikation: Mit Mailinglisten leben

  1. Dialogische Medien & politische Bildung
  2. Mailinglisten: Soziale Räume, technisch konfiguriert
  3. Listenkommunikation: Zwischen Plauderecke und Symposium
  4. Aktivlisten - Lernen im Netz
  5. Aktive Netze: Turbopolitik im Netz

3.
Listenkommunikation: Zwischen Plauderecke und Symposium

Neben den technischen Rahmenbedingungen sind eine Reihe sozialer Komponenten von beachtlichem Einfluß auf jegliche Gruppenaktivität in Mailinglisten. Teils handelt es sich ähnliche Aspekte, die auch im physischen Raum zu berücksichtigen sind, wo immer Menschen zusammenwirken - doch sind sie dort ganz selbstverständlich und unbewußt gegeben, was in einem so neuen Medium nicht der Fall ist.
 
Offene und geschlossene Listen
 
Die im folgenden angesprochenen Punkte treffen vor allem auf Listen zu, deren soziale Grundgesamtheit nicht oder nur wenig definiert ist: Fluktuierende Teilnehmer, die sich zu bestimmten Themen zusammenfinden, der Normalfall einer "offenen Diskussionsliste". Ob es sich dabei um beliebige Interessenten aus dem Netz handelt oder z.B. um den Freundeskreis einer Bibliothek, alte und neue Besucher einer Bildungseinrichtung oder eine Berufsgruppe, die Erfahrungen und Know-how austauscht, ist für die angesprochenen Gesichtspunkte egal. Anderes gilt nur für feste Gruppen: für Fremde geschlossene Listen von Projekt- und Arbeitsgruppen, Vereinen oder Mitarbeitern einer Institution. In diesen Fällen definiert der bereits vorhandene soziale Zusammenhang auch Form, Inhalt und Grenzen der Listenkommunikation und die Probleme "offener" Listen treten nicht auf.
 
Nettikette
 
Jede Liste braucht Vereinbarungen über die Art und Weise, wie man kommunikativ miteinander umgeht - im allgemeinen und im besonderen. Als "Knigge" fürs Allgemeine kann man auf die Nettikette zurückgreifen, deren Regelwerk vielfach modifiziert im Internet an vielen Stellen zu haben ist. Die Benimmregeln des Netzes sind in der Praxis entstanden und verändern sich wie alle Traditionen mit der Zeit.
 
Für den konkreten Bedarf können Listenveranstalter weitere Regeln festlegen - etwa kann das Versenden von Attachments in der einen Liste erwünscht, in einer anderen verpönt sein. Die Wahl der Worte "erwünscht" und "verpönt" anstatt "erlaubt" und "verboten" ist dabei nicht zufällig: Eine Mailingliste kreiert ja aus sich heraus keine Organisation mit Gesetzeswerk und Strafinstanz. Es existieren keine Mittel, Fehlverhalten von Einzelnen zu sanktionieren, außer durch schlichte Mißfallensbekundung per Mail an die Liste. Einzig der technische Administrator hat die reale Macht, ein Mitglied auszuschließen - evtl. hat sie auch der Veranstalter, sofern der TechAdmin auf seine Weisungen hört, muß sich aber unter Umständen anschließend umfangreich rechtfertigen.
 
Da die Verstoßung aus der Gruppe das einzige Mittel ist, kommt es in der Praxis höchst selten zur Anwendung. Die Mitglieder halten sich normalerweise aus eigenem Interesse an die Regeln, sporadische Ausnahmen werden nolens volens toleriert - unter soviel Gemurre wie nötig, um Teilnehmer, die sich daneben benehmen, wieder zu kooperativem Verhalten (oder zum freiwilligen Verlassen der Liste) zu bewegen.
 
Listen-Infos tradieren
 
Da eine Mailingliste häufig neue Mitglieder aufnimmt, ist es nötig, für ihre Bekanntmachung und für die Tradierung der geltenden Regeln zu sorgen. z.B. kann eine Listenhomepage diese Funktion erfüllen und weit mehr als das: Eine Präambel mit Sinn und Zweck der Liste, Dokumente zum Thema, Linklisten mit weiteren Quellen, ein 'Surfboard' zu den Homepages der Teilnehmer, das HOME im Web unterstützt in jedem Fall die Gemeinschaftsbildung (neudeutsch: Community-Forming), muß allerdings gepflegt werden.
 
Leitung und Pflege
 
Einfach eine Mailingliste gründen und auf kooperative Teilnehmer hoffen, genügt nicht. Jemand muß sich als Veranstalter oder freiwillig Mitverantwortlicher um die Liste kümmern. Zunächst, um eine ausreichend große Mitgliederzahl zu werben, damit Gespräche in Gang kommen. Später dann, um Neumitgliedern den Eintritt zu erleichtern, Listentraditionen zu vermitteln, bei Verstößen gegen die Nettikette einzugreifen, Offtopis im Rahmen zu halten und vieles mehr. Auch ist manchmal ein bewußter Input erforderlich, um ein eingeschlafenes Thema wieder neu spannend zu machen - es kommt auf die Art der Liste an. Will eine Institution, eine Bildungseinrichtung, ein Unternehmen eine Liste etablieren, sollte ein klarer Verantwortlicher diese Funktion übernehmen. In frei assoziierenden Listen sind es oft die älteren Mitglieder, die von selbst in diese Funktionen hineinwachsen.
 
Zwischen Kommunikations-GAU und Schweigen
 
Die Teilnehmer einer Mailingliste teilen sich grob in zwei Gruppen: ca. 3 - 10 Prozent mailen häufig und führen intensive Gespräche. Der Rest - die sog. Lurker - schweigt und liest nur mit. Das Ganze hat eine Anmutung von "Podiumsdiskussion", allerdings kann man das Publikum nicht überblicken und die Podiumsteilnehmer können jederzeit wechseln. Jeder Versuch, erheblich mehr Mitglieder zum mitreden zu bewegen, ist erfolglos und wäre sogar kontraproduktiv: eine Liste mit 120 Mitgliedern würde einen "Traffic" von 7200 Mails pro Tag erzeugen, wenn die Hälfte der Mitglieder täglich eine Mail schickte. Jedes Mitglied müßte 60 Mails/Tag lesen - zu viel! Andererseits kommen Diskussionen in Listen unter 80 Mitgliedern nur schleppend in Gang: die "Aktiven" 3 - 10% sind in absoluten Zahlen dafür einfach zu wenige Personen. (Ausnahme auch hier: feste Gruppen, z.B. Seminarteilnehmer, die von einem Leiter motiviert werden).
 
Es gibt Listen, die 5 Mails pro Woche herumschicken, aber auch solche, deren laufende Diskussionen 30 und mehr Mails pro Tag ergeben - hier muß jeder Teilnehmer zwangsläufig die Kompetenz erwerben, im eigenen Mailprogramm Ordner anzulegen, in die sich die Listenmails automatisch sortieren.
 
Die "Umwelt" ist technisch
 
Im physischen Raum wird viel vom Wetter und von der Verkehrslage geredet - in Mailinglisten ist dem entsprechend die technische Umwelt allgegenwärtiges Thema. Es ist unvermeidlich, daß immer wieder Gespräche über die eingesetzte Technik aufkommen:

  • Probleme mit dem Mailprogramm
  • Probleme beim Weitergeben von Dokumenten
  • Fragen zur Errichtung von Webseiten
  • sonstige Fragen zum Internet
  • Diskussionen um die Veränderung der Listen-Voreinstellungen

Es kommt gar nicht selten vor, daß solche (OFFTOPIC-)Diskussionen das Gespräch zum eigentlichen Listenthema völlig lahmlegen.
 
Offtopics: soziale Geräusche
 
Neben den Ablenkungen durch die technische Umgebung ergeben sich häufig auch andere Abweichungen vom Listenthema. Jemand macht einen Witz, acht Leute witzeln zurück, 10 Leute mahnen, man möge zum Thema zurückfinden, ein Mitglied kündigt den Austritt an, andere machen ihm Vorwürfe, doch wegen so einer kleinen Ablenkung nicht gleich zu gehen.... Schnell schaukelt sich ein Mailaufkommen hoch, das den Unkundigen wundert oder auch verärgert, doch nach mehrfachem Beobachten ein Bewußtsein von den Automatismen sozialer Prozesse schaffen kann, wie es mittels Interaktionen im physischen Raum nicht so einfach zu erwerben ist!
 
Schlußendlich gehört zum Thema "Offtopic" auch die Feststellung, daß aus Nebenthemen oft die wahren Highlights einer Mailingliste werden: Was viele Leute interessiert und spannende Vertiefungen verspricht, wird vielfach geduldet, ja gefördert, selbst wenn es 'offtopic' ist - ganz wie im "richtigen Leben".
 

 

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 von
 Claudia Klinger

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