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Dialogsituation der Vor(netz-)zeit

Die elitären Dialoge der Gegenwart sind ebensowenig mit den griechischen zu vergleichen wie die Pseudodialoge der Masse beim Fest oder Camping. Die Masse dialogisiert nicht im griechischen Sinn, weil sie ständig von Diskursen berieselt wird und daher nur über Informationen verfügt, die für alle ausgestrahlt wurden. Und auch die Elite dialogisiert nicht im griechischen Sinn, weil sie nicht auf einem für die ganze Gesellschaft gemeinsamen Marktplatz versammelt, sondern auf eine große Zahl miteinander nicht kommunizierender Kreise verteilt ist.
 
Jeder Dialog bedient sich eines spezifischen Codes, und diese Spezialisierung verzweigt sich in der Baumstruktur des elitären Diskurses. Man kann also von einer "Normierung" bei der heutigen Dialogsituation nicht sprechen, sondern muß zugeben, daß sich paradoxerweise alle Dialoge, inklusive der sogenannten "politischen", entpolitisiert und somit ihr Wesen verloren haben.
 
Auf der Ebene der Masse hat die Kommunikationsrevolution den Dialog durch die Ausarbeitung der Massenmedien vernichtet, und auf der Ebene der Elite hat sie ihn durch die Ausarbeitung der Baumdiskurse in kleine geschlossene und daher verfremdete Kreise zerrieben. Die einzige mögliche Kommunikation zwischen den uns lenkenden Dialogen ist deren Übersetzung in hochabstrakte Codes, beispielsweise den Computercodes, und darum gewinnt heute das Wort "kybernein" eine neue und unpolitische Bedeutung.
 
Noch wichtiger aber ist die Tatsache, daß jeder nur im Bereich seiner eigenen Spezialisierung am Dialog beteiligt ist. Im Bereich aller anderen Informationen ist er ein Empfänger von Diskursen wie alle anderen. Die sogenannte "Krise der Werte", von der so viel die Rede ist, läßt sich von hier aus verstehen.

Vilém Flusser: Kommunikologie, S.292

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