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Kommunikationsstrukturen
 
Um Informationen zu erzeugen, tauschen Menschen verschiedene bestehende Informationen aus, in der Hoffnung, aus diesem Tausch eine neue Information zu synthetisieren. Dies ist die dialogische Kommunikationsform. Um Information zu bewahren, verteilen Menschen bestehende Informationen, in der Hoffnung, daß die so verteilten Informationen der entropischen Wirkung der Natur besser widerstehen. Dies ist die diskursive Kommunikationsform.
 
Diese schematische Antwort macht zwei Dinge sofort deutlich: (a) Keine der beiden Kommunikationsformen kann ohne die andere bestehen, und (b) die Unterscheidung zwischen den beiden Formen ist eine Frage des "Abstandes" des Betrachters vom Betrachteten.
 
(a)Damit ein Dialog entstehen kann, müssen Informationen verfügbar sein, welche in den Beteiligten durch den Empfang vorheriger Diskurse angesammelt wurden. Und damit ein Diskurs entstehen kann, muß der Verteiler der Information (der "Sender") über eine Information verfügen, die in einem vorherigen Dialog hergestellt wurde. Die Frage nach der Präzedenz von Dialog und Diskurs ist daher sinnlos.
 
(b): Jeder Dialog kann als eine Serie von Diskursen betrachtet werden, die auf Tausch aus sind. Und jeder Diskurs kann als Teil eines Dialogs angesehen werden. Beispielsweise kann ein wissenschaftliches Buch, isoliert betrachtet, als ein Diskurs interpretiert werden. Im Kontext anderer Bücher kann es als Teil eines wissenschaftlichen Dialogs interpretiert werden. Und von einem weiteren Abstand aus kann man es als einen Teil jenes wissenschaftlichen Diskurses ansehen, welcher seit der Renaissance strömt und die westliche Zivilisation kennzeichnet.
 
Aber obwohl Dialog und Diskurs einander implizieren und obwohl die Unterscheidung zwischen beiden relativ zur Betrachtung ist, handelt es sich um eine wichtige Unterscheidung. Die Teilnahme an einem Diskurs ist eine völlig andere Situation als die an Dialogen. (Eine Frage grundsätzlicher politischer Natur.) Die allgemein bekannte Klage, "man könne nicht kommunizieren", ist hierfür ein gutes Beispiel.
 
Was die Leute meinen, ist selbstredend nicht, daß sie an einem Mangel an Kommunikation leiden. Nie zuvor in der Geschichte hat die Kommunikation so gut, so intensiv und so extensiv funktioniert wie heute. Was die Leute meinen, ist die Schwierigkeit, echte Dialoge herzustellen, das heißt, Informationen im Hinblick auf neue zu tauschen. Und diese Schwierigkeit ist gerade auf das gegenwärtig so perfekte Funktionieren der Kommunikation zurückzuführen, nämlich auf die Allgegenwart hervorragender Diskurse, welche jeden Dialog zugleich unmöglich und unnötig machen.
 

Vilém Flusser: Kommunikologie, S.16

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