Netzkommunikation: Mit Mailinglisten leben

  1. Dialogische Medien & politische Bildung
  2. Mailinglisten: Soziale Räume, technisch konfiguriert
  3. Listenkommunikation: Zwischen Plauderecke und Symposium
  4. Aktivlisten - Lernen im Netz
  5. Aktive Netze: Turbopolitik im Netz

5. Aktive Netze:
Turbopolitik im Netz

Während es vor den Zeiten des Netzes nur wenige und aufwendige Möglichkeiten für "Betroffene" gab, sich zu organisieren und den bestehenden Verhältnissen entgegenzuwirken, bringt das Internet hier eine kommunikativ revolutionäre Veränderung.
 
Eine politische Aktion bestand traditionell aus folgenden Momenten:

  • Selbstorganisation: Sammlung ähnlich Betroffener, Diskussionen, Planungen
  • Einholung aller Informationen zum Thema - in der Regel auf dem Post- und Faxweg, in physischen Bibliotheken und Archiven
  • Vermittlung dieser Infos an alle Aktiven, Verarbeitung, Zusammenfassung
  • Diskussionsprozesse zur Herausbildung von Forderungen an Institutionen und Private
  • Klassische PR in Richtung Massenmedien, Pressekonferenzen, Artikel an Medien, Interviews...
  • Erstellung der Materialien für die Öffentlichkeit, Sammeln von Spendengeldern hierzu
  • Absprechen und Durchführen von Aktionen: Unterschriftenlisten, Demonstrationen, Protestbriefe, Podiumsdiskussionen, Anschreiben von Abgeordneten, Fraktionen, Parteien, Ministerien, ziviler Ungehorsam...

Der Aufwand an Räumlichkeiten, Ressourcen aller Art, Zeit und Geld ist erheblich und die 'interne' Abstimmung der Aktiven, bzw. mit weiteren, aber nicht aktiven Mitbetroffenen bedeutet Tonnen von Sand im Getriebe.
 
Eine Netzaktion funktioniert dagegen z.B. wie folgt:

  • Jemand beschließt, in einer Angelegenheit aktiv zu werden, die ihm/ihr über die Hutschnur geht.
     
  • Er/sie spricht darüber per Privatmail mit Freunden (CC an mehrere..), in den Mailinglisten, in denen er/sie länger schon Mitglied ist, sowie in Mailinglisten, Newsgroups und Webboards, die zu dem Thema Bezug haben.
     
  • Zeitgleich wird eine WebSite zum Thema erstellt, zunächst mit dem ganz individuellen Wissen und der entsprechenden Forderung des Initiators.
     
  • Der Herausgeber macht die Site mit den üblichen Mitteln bekannt: Suchmaschinen-Anmeldung, Rundmail an andere WebSite-Herausgeber, Postings auf Webseiten....
     
  • Die Website wird als Info-Unterlage von anderen aufgesucht, die mehr von der Sache wissen wollen - der Herausgeber sammelt zusätzliche Infos und entwickelt mit ihnen die WebSite weiter
     
  • Es finden sich Mitstreiter ein, die besonders viel beitragen, bzw. auf ihren eigenen Webseiten Links und Artikel zum Thema veröffentlichen.
     
  • Dem Initiator wird die Arbeit an der Aktionsseite zu viel - er erteilt einigen anderen Schreibrechte, die nun eigenständig den Infopool erweitern können. Zur Koordination dieser Arbeit wird eine Mailingliste eingerichtet.
     
  • Auf der WebSite wird ein Newsletter angeboten, der von jedermensch abonniert werden kann, um auf dem Laufenden zu bleiben. Ein Formular entsteht, auf dem die Besucher ihren Protest formulieren und an die Adressaten (Private, Institutionen...) automatisch verschicken lassen können.
     
  • Eine Unterstützer-Liste mit Links zu den Homepages der Unterstützer wird eingerichtet (eine Link ist ein Link, denkt sich so mancher, der sich hier einträgt...). Die Liste wächst beeindruckend schnell!
     
  • Grafisch kundige Unterstützer entwerfen Logos, Banner und Buttons, die über die Website herunterladbar sind. Die Kampagne bekommt jetzt auch visuell ein Gesicht. Evtl. wird die Aktionsseite auf eine prägnante, leicht zu merkende Domain verlagert....
     
  • Die Redaktions-Liste vergrößert sich, da weitere Aktive eingeladen werden, weitere Mailinglisten entstehen zu spezielleren Arbeitsaufgaben, sowie zur allgemeinen Diskussion des Themas. Mitmacher, die mit dem sich entwickelnden "Mainstream" der Aktion an bestimmten Punkten nicht einig sind, gründen eigene Listen und eigene Webseiten.
     
  • PR-Kundige stellen ihren Presseverteiler zur Verfügung und die klassischen Medien bekommen sämtlich eine professionell gemachte PR-Aussendung mit den wichtigsten Fakten, sowie dem Hinweis auf die Website. Auf der Website wird die Abteilung "Presse" eingerichtet, wo die erschienenen Meldungen ausgestellt werden und Presseleute neueste Infos und Hintergründe finden.
     
  • Nun beginnen die traditionellen Medien zu recherchieren - zunächst im Web, wo sie sehen, daß das Thema viele nicht kalt läßt. Sie beginnen, auch auf alten Kommunikationskanälen (Fax, Tel) die Adressaten des Protests (Manager, Verwaltungsleute, Politiker...) zu befragen, was dazu führt, daß diese sich spätestens jetzt dazu verhalten müssen.
     
  • Im schnell wachsenden Netz der Aktiven kommen Ideen für fantasievolle Aktionsformen auf, die sofort über Mail und Web in die Tag umgesetzt werden: Massenprotestmails legen Mail-Accounts lahm, 'Sit-Ins" blockieren die Webseiten der Adressaten, Kommunikation zum Thema findet in Bereichen statt, die dem Adressaten nicht gleichgültig sein können: z.B. auf den Webboards seiner Kunden oder in den Diskussionsrunden seiner Aktionäre.
     
  • Evtl. werden auf einmal auch Hacker aktiv, diskutieren das Thema und mögliche Aktionen in ihren Kommunikationszusammenhängen, oder werden einzeln tätig, ohne Absprachen mit irgend jemandem.

Wie unschwer zu erkennen ist, basiert die hier entstehende Turbopolitik der Netizens zum einen auf der schnellen Mailkommunikation vieler mit vielen, zum anderen auf der Allgegenwart und Verfügbarkeit von Webseiten. Webseiten funktionieren als Kristallisierungspunkte der sich entwickelnden Aktionsnetze - repräsentieren auf der anderen Seite aber auch die Adressaten und deren sämtliche Bezüge! Eine Website kann sich weder verstecken, noch ganz verschließen - dadurch verliert sie ihren Sinn.
 
Gegenüber traditionellen politischen Aktionsformen hat die Netzaktion den immensen Vorteil, nicht auf Einigungsprozesse warten zu müssen: Es gibt kein "Innen" und "Außen", keine festen Aktionsgruppen oder gar Hierarchien, die sämtliche Fragen ausdiskutieren müßten oder auch nur wollten. Es braucht keine Mehrheitsentscheidungen und kein Ringen um Konsens - alles entsteht (oder auch nicht) durch freie und fluktuierende Zusammenarbeit von Individuen, die das der Aktion zu Grunde liegende Interesse teilen. Niemand ist für die ganze "Kampagne" verantwortlich, denn niemand hat sie vorgedacht - sie verändert sich sogar und teilt sich u.U. in unterschiedliche Argumentationslinien mit je eigenen Forderungen und Adressaten auf. Jeder Sich-Beteiligende schöpft fantasievoll aus den je eigenen Ressourcen und Bezügen und fühlt sich einzig für diese verantwortlich.
 
Politikfelder
 
Daß die hier skizzierten Aktionsformen noch kaum als netzgestütztes "Politik machen" im Bewußtsein der massenmedial generierten Öffentlichkeiten stehen, liegt auf der Hand. Netzaktionen entstehen zunächst in Themenfeldern, die die Individuen existenziell berühren - und das sind sicher nicht die eher allgemeinen Themen, wie sie in den vielfältigen Gliederungen von Parteien und Parlamenten thematisiert werden. Es sind Netz-nahe Themen, die von aktiven Netz-Usern als brennende Probleme wahrgenommen werden, Themen, die in der Regel noch nicht befriedigend in der Gesetzgebung geregelt sind, weil z.B. weder Legislative noch Exekutive schon ausreichendes Problembewußtsein aufbringen oder unbedacht im Sinne altbekannter Großstrukturen urteilen (ganz zu schweigen von den beschränkten Möglichkeiten nationaler Rechtsprechung).
 
Noch wird nicht in der Tagesschau gemeldet, daß z.B. der Cyberwar der Kunstgruppe ETOY gegen den Spiele-Konzern e-Toys mithilfe weltweit verteilter Unterstützer in kürzester Zeit gewonnen wurde. Auch die vielen Streitigkeiten und Aktionen rund um das 'Recht auf Links' würden netzferne Menschen schon vom Verständnis her überfordern, ähnliches gilt für die Problemfelder Domainnamen, Providerhaftung, Copyright/Urheberrecht und vieles mehr.
 
Je weiter jedoch das Netz die Gesellschaft durchdringt und die Individuen verbindet, je umfassender sämtliche Einzelnen und Gruppen, Unternehmen und Institutionen, Vereine und Verbände auch im Web repräsentiert sind, um so verbreiteter wird auch "netzgestützte Turbopolitik" werden - nicht nur in Angelegenheiten des Netzes.
 
Netzaktionen sammeln, erforschen und bewerten, Mittel und Methoden betrachten und diskutieren, verantwortlichen Umgang damit lehren, ja, selber beispielhafte Aktionen anstoßen - hier ergibt sich ein weites Feld für die politische Bildung.

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 Claudia Klinger

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