Fragen und Antworten: FAQ zum Digital Diary (1999)

Immer wieder fragen mich Leute nach diesem Tagebuch:

und schließlich immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von

Warum?

Als ich im Frühling 1996 meine ersten Webseiten veröffentlichte, orientierte ich mich an traditionellen Formen. Zuerst mit einer kleinen Textsammlung, fast nur mit Gedichten anderer Autoren. Dann überkam mich die Lust, meine Erlebnisse und Gedanken über das Netz ins Web zu bringen und das Cyberzine Missing Link entstand. Kurze Artikel, verschiedene Rubriken, hübsch ordentlich, fast wie ein Printmagazin. Auch an einem „Webdiary“ schrieb ich mit, eine Kette von miteinander verbundenen Seiten vieler Autoren, die sich alle um das Netz als Thema drehten.

Bald langweilte es mich, designerisch gesehen, mich immer brav an die Struktur von Missing Link zu halten. Wenn mich ein neues Thema bewegte, mußte ich u.U. eine neue Rubrik einführen – oft wurde sowas zum Redesign des ganzen Cyberzines, was nur geht, wenn man viel Zeit hat.

Also publizierte ich das Projekt Glück. Es hatte keine feste Form mehr, jeder Beitrag ist ein bißchen anders gestaltet. Leider hatte es noch einen Namen: mancher Text paßte einfach nicht zum Thema „Glück“, bzw. nur mit Hängen und Würgen. Auch wollte ich nicht jeden Text so hoch ansetzen: ein RICHTIGER Kurzessay… manchmal drängt es mich nur zu ein paar kurzen Bemerkungen.

Im Frühjahr 1998 hörte ich – mal wieder – mit dem Rauchen auf und beschloß, zur Stabilisierung ein Nichtrauchertagebuch im Web zu führen. So lernte ich diese Form schätzen, die eigentlich gar keine Form ist: man schreibt, wann und was man will. Das „was?“ war hier allerdings zu eng gefaßt, das Thema Nicht-Rauchen ist nicht unerschöpflich und so hörte ich nach drei Monaten wieder damit auf (und begann nach einiger Zeit sogar wieder zu rauchen).

Mittlerweile war ich sehr beschäftigt, hatte Webdesignaufträge und kam nicht mehr dazu, in meinen Projekten wie bisher weiter zu schreiben. Doch mir fehlte was, und so begann ich dieses allgemeine Tagebuch – just for fun. Geschrieben hab‘ ich nämlich schon immer, lange vor Webzeiten, allerdings nie ein Tagebuch. Auch das hier ist kein traditionelles Tagebuch, sondern nur eine recht formlose Form für Texte, die manchmal einfach kommen wollen.

Für wen?

Für mich, für alle, und das heißt: für niemand. Anders als in der Welt der Bücher und gedruckten Artikel, wo es immer eine Zielgruppe und ein bestimmtes Regal im Bücherladen gibt, läßt sich das im Web tatsächlich verwirklichen. Es kostet nichts außer Zeit – also braucht es auch keine Rechtfertigung und muß sich schon gar nicht „rechnen“.

Aber ich weiß, die Frage geht tiefer. Jahrelang konnte ich für mein eigenes Empfinden nicht „richtig“ schreiben. Immer war der Gedanke an eine Zielgruppe, ein konkretes Gegenüber so dominant, daß meine Texte dadurch nicht locker flossen. Überlegungen wie „versteht der oder die das auch richtig?“ verleiteten mich zu ungeheuer weitschweifigen Erläuterungen und die Texte wirkten gestelzt.

1991 lernte ich meinen Yogalehrer Hans Peter Hempel kennen. Er ist Professor für Politikwissenschaft und Philosophie an der TU Berlin und schreibt ungeheuer viel. Es gibt kaum ein Thema, das er nicht in Gestalt eines mitteldicken Essays als „graue Literatur“ an Freunde und Schüler verteilt hat. Was den Yoga angeht, faßte ich sofort Vertrauen: wenn ein solcher Schreiber und Denker dazu kommt, Yoga zu machen, dann muß was dran sein!

Schon bald begann ich, ihm Briefe zu schreiben. Keine persönlichen Briefe, sondern Texte über mein Erleben im Yoga und über nahezu alle Aspekte meines Lebens. Er beantwortete diese Briefe nie, wir sahen uns ja jede Woche – aber manchmal nahm er Bezug auf die Fragen, die mich bewegten, wenn er vor der Übungsstunde über Yoga sprach.

Ich schrieb diese Briefe über Jahre, mal zwei pro Woche, mal nur einen im Monat und lernte auf diese Weise, den Gedanken an das konkrete Gegenüber zu verlieren. Denn ich schrieb ja nicht an Hans-Peter, sondern an den Yogalehrer in ihm – und Yoga umfaßt alles, das ganze Leben. Das Schreiben wurde eine Methode der Selbsterforschung, eine gute Art, sich über Dinge denkend klar zu werden.

Als einige Jahre später die Briefe seltener und seltener wurden, konnte ich auf einmal schreiben: für mich, für alle, für niemand. Ich bin Hans-Peter Hempel unendlich dankbar, der mir durch sein Nicht-Antworten dieses Geschenk gemacht hat.

Persönliche Dinge?

Eine heikle Sache: ganz ohne persönliche Erlebnisse sind Texte wie meine hohl, weil sie ja gerade nicht als journalistisch oder akademisch-philosophisch ausformulierte und entsprechend „abgestützte“ Essays daherkommen. Persönliche Erlebnisse detailgetreu wiederzugeben, ist andrerseits nicht ohne weiteres möglich: Freunde (und sogar Feinde), Lebenspartner, Bekannte und Verwandte, alle privaten Online-Kontakte eingeschlossen, haben ein Recht auf Diskretion. Das Web zur intimen Klagemauer oder gar zur Öffentlichkeits-Waffe zu machen, um eigene negative Gefühle herauszulassen, halte ich für eine große Gemeinheit. Sowas ist dann zwar richtig „spannend“ zu lesen, aber es bedeutet einen kaum zu übertreffenden Vertrauensbruch, sobald konkrete Personen erkennbar werden. Dafür ist nach wie vor das Tagebuch für die häusliche Schublade der richtige Ort – wenn’s denn sein muß.

Ich gehe also einen Mittelweg, der nicht immer leicht ist und der erfordert, daß bestimmte Themen kaum, oder nur sehr allgemein in meinen Texten auftauchen (z.B. konkrete Liebesbeziehungen – oder würdet Ihr es mögen, wenn Eure Freundin oder Ex sich darüber im Web ausbreitet?). Lieber lasse ich das Schreiben ganz, als daß ich Texte schreibe, die verletzen könnten, oder Texte, die ich in der Anstrengung schreiben müßte, nicht zu verletzen. Selbst, wenn ich in diesem Kontext nur positive Dinge sagen würde, wäre auch das ein Verrat an einer privaten Beziehung, ihrem ganz persönlichen Gesprächsraum, und deshalb verletzend.

Resonanz

Zu welchen Themen am meisten Resonanz kommt, werde ich oft gefragt. Das hängt nicht vom Thema ab, sondern davon, wie intensiv ich ein Thema bringe, wie sehr ich mich also selbst darauf einlasse. Je mehr ich bei mir selbst bin, desto eher fühlen sich Andere angesprochen – eine der schönen Paradoxien im Leben!
Manchmal stell‘ ich einen Brief auf die Leserbriefseite, seltener gehe ich zitierend darauf ein. Wenn ich mit Namen zitiere oder eine Mail mit Adresse veröffentliche, geschieht das erst nach Absprache. Zitate ohne Namen verwende ich auch so, sofern nicht aus dem Kontext die Person zu erkennen ist.

Real – oder wie?

Die Rede vom Real Life im Gegensatz zu dem Bereich, der sich über Online-Kommunikation abspielt, hat es lange schon gegeben, als ich ’96 so richtig netzaktiv wurde. Erst nahm ich „RL“ als Modebegriff einer Netzszene wahr, doch bald schon wurde der Begriff Not-wendig. Begriffe bilden sich, wenn man ansonsten mehrere Sätze der Erläuterung bräuchte, um zu beschreiben, was gemeint ist. DASS ‚hier‘ etwas neu und deutlich anders ist als eben im gewohnten „realen Leben“, ist offenkundig und braucht eine Bezeichnung, zumindest eine Abgrenzung bzw. Negativbestimmung. Das Wort vom RL in Abgrenzung zum weniger gern gebrauchten „Virtual Life“ ist nicht glücklich, denn natürlich ist alles, wie immer es statt findet, ganz wirklich, ganz real. Dennoch gibt es deutliche Unterschiede:

Netzkommunikation findet über Text und Bild statt. Diese Form grenzt eine ganze Reihe von Aspekten ganz oder teilweise aus, durch die wir normalerweise Informationen über den Anderen bekommen: Körpersprache, Konstitution, lebendiges Temperament, Mimik, Gestik, Stimme.
Der Vorteil dabei ist, daß die Kommunikation weniger von automatisch einrastenden Schubladen belastet ist (der hat so dichte Augenbrauen und erinnert mich an meinen bösen Onkel…). Mal als Vorteil mal als Nachteil zeigt sich die Tatsache, daß in diese Lücke eigene Projektionen gesetzt werden. Gehirn und Gemüt füllen die Lücken, ganz ohne unser bewußtes Zutun. Das ist einerseits schön, denn wer eine positive Grundeinstellung hat, kommuniziert so freier mit Fremden, neigt dazu, sie alle als symphatische und gutwillige Menschen wahrzunehmen. Logisch, daß die Kehrseite Ent-Täuschung heißt, wenn man erlebt, wie man in die Pfanne gehauen wird – gut selbst an solchen Kommunikations-GAUs ist, daß die zugrunde liegenden Abläufe leichter erkennbar sind als im „realen Leben“. Denn die Distanz zu Texten ist etwas leichter zu gewinnen, als die gelassene Distanz zu einem realen Gegenüber.

In der Kommunikation per Text und Bild zeigt sich also immer nur ein Teil der Person: mal mit Absicht, weil jemand bestimmte Seiten nicht gern zeigt, oft ganz unabsichtlich. Es gibt Seiten an Menschen, die sich nicht in Texte schreiben (lassen). So kann jemand im Text sehr bestimmt, klar, sogar konfrontierend auftreten, trifft man sie oder ihn aber face-to-face, ist die Person erstaunlicherweise eher verschwommen, kaum in der Lage, eigene Positionen zu kommunizieren, geschweige denn, eine Auseinandersetzung zu führen, bei der man die Stimme heben müßte. Oder jemand ist Online ein Mutter-Typ, immer um Harmonie in einer Gruppe bemüht – im RL jedoch zeigt sich eine Resignation in Bezug auf Zwischenmenschliches, die stellenweise in Zynismus umschlägt.

Online erleben wir also immer nur einen Aspekt der Wahrheit – von daher ist die Bezeichnung „virtual Life“ garnicht unpassend. Ja, vielleicht bist du so, wie du dich da zeigst – vielleicht aber auch nicht, bzw. nicht nur!

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